Quellen: Internet, Diskussionsveranstaltung vom 24.4.09 mit Willi Hajek in Wien.1
Französisch lernen
Generalstreik und Militanz
Zwei Generalstreiks innerhalb von zwei Monaten in Frankreich. Am 30.1.09 legen Millionen Beschäftigte in Frankreich die Arbeit nieder, sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor (Schulen, Universitäten, Post und Telekom, beim Stromerzeuger EDF, bei Renault und Peugeot). Der Protest richtet sich gegen das Konjunkturpaket von Präsident Sarkozy, das im wesentlichen aus staatlichen Hilfen für die Banken besteht.
Am 20.3.09 der nächste Generalstreik, begleitet von Demonstrationen an über 200 Orten. Gefordert wird u.a. ein Mindestlohn von 1.600 Euro sowie die Rücknahme der geplanten Vernichtung von zehntausenden Arbeitsplätzen im Bildungssektor. An der zentralen Kundgebung in Paris beteiligen sich mit 350.000 noch mehr Menschen als im Jänner.
Neben diesen Massenmobilisierungen kommt es verstärkt zu Aktionen auf betrieblicher Ebene. Bekannt geworden sind auch hierzulande die Festsetzungen von Managern: Am 12.3. halten ArbeiterInnen der Sony-Fabrik in Pontonx-sur-l‘Adour in der Nähe von Bordeaux den Frankreich-Manager des Konzerns über Nacht in der Fabrik gefangen, sie verlangen höhere Abfertigungen, wenn der Betrieb, wie vorgesehen, geschlossen wird. Die Werkszufahrt wird mit Baumstämmen verbarrikadiert.
Am 25.3. wird der Frankreich-Boss von 3M in „Geiselhaft“ genommen. Er war ins Werk Pithiviers gekommen, um den Stellenabbau von 100 der 235 MitarbeiterInnen zu verkünden. Die Belegschaft war bereits davor in den Streik getreten, ebenfalls u.a. mit der Forderung nach höheren Abfertigungen.
Am 31.3. wird der reichste Mann Frankreichs, Francois-Henri Pinault, von 50 wütenden Angestellten für eine Stunde in einem Taxi sitzend eingekesselt und das Fahrzeug an der Abfahrt gehindert, bis die Polizei eintrifft. Am gleichen Tag besetzen dutzende ArbeiterInnen die Büros der Werksleitung von Caterpillar Grenoble. Vier der fünf anwesenden Manager werden am Verlassen des Werks gehindert, erst als Caterpillar Verhandlungen über einen Sozialplan für 700 von Kündigung bedrohte KollegInnen akzeptiert, dürfen sie am nächsten Tag raus.
Manager von Continental werden mit Eiern beworfen, Büros eines Werks in Lothringen von ArbeiterInnen gestürmt und zerstört. Was heißt also „französisch lernen“?
Willi Hajek weist auf mehrere Punkte hin: Oberflächlich betrachtet gehen die Leute rascher auf die Straße, und ihre Aktionen sind oft militanter als gewerkschaftliche Aktionen in Österreich oder Deutschland. Dahinter steckt aber viel mehr, erzählt er:
Avantgarde
Für mich hat, wenn wir von „französisch lernen“ reden, das Thema mit zwei Sachen zu tun: dass es 1995 einen sehr großen Streik gab, der von den Eisenbahnern ausging. Von den großen Zeitungen wurde er beschrieben als der erste große Massenstreik gegen den Neoliberalismus. Weil der Kern war die Ablehnung der Rentenreform, also dass die Leute länger einzahlen und länger arbeiten sollten.
Das Besondere an diesem Streik war, dass die Eisenbahner die Avantgarde waren, ein Bereich, der mit seiner Kraft – weil er das gesellschaftliche Leben lahmlegen kann – vorangegangen ist. Die Parole war: „Das wollen wir für alle!“, dass man nämlich mit 37 Beitragsjahren und 50, 55 Lebensjahren in Pension gehen kann. Das wurde von vielen aufgegriffen.
Das ist für mich ein Traum: Wenn einmal die Opel-Kollegen rausgehen und und auf ihren Transparenten nicht nur haben „wir verteidigen unsere Arbeitsplätze“, sondern auch „Abschaffung von Hartz IV“. Eine Vorstellung, die darüber hinausgeht, nur den eigenen Arbeitsplatz zu verteidigen. Das war das eine.
Und das Zweite war: 1996 gab es eine starke Bewegung der „sans papier“, also der Menschen ohne Papiere, Ausweise. Und die streikenden Eisenbahner haben den sans papier ihre Räume zur Verfügung gestellt. Die konnten dort übernachten und wurden vor der Polizei geschützt. Und konnten so ihre Mobilisierung machen.
Die beiden Punkte verbinde ich mit „französisch lernen“: Nicht nur Massenbewegung, sondern eine Streikbewegung, die sehr stark versucht, gesellschaftliche Ziele zu formulieren. Und gleichzeitig Gruppen zusammenbringt, die die schutzlosesten, rechtlosesten sind. Die Papierlosen werden auch heute in Frankreich sehr stark von den Gewerkschaften unterstützt.
In Frankreich haben sich Lehrer geweigert, dass die Polizei migrantische Kinder aus der Schule abholt. Das Netzwerk heißt „Netzwerk ohne Grenzen“. Da sind Grundschuldirektoren deswegen verhaftet worden. Aber da ist eine breite Solidarisierungsbewegung daran entstanden. Die Regierung hat mit Gesetzen reagiert, dass man Papierlose nicht daheim aufnehmen darf, sich damit strafbar macht. Aber das hat die Solidarisierung im kritischen Teil der Bevölkerung erhöht.
Seit 10 Monaten führen papierlose ArbeiterInnen einen Kampf am Arbeitsplatz, das ist bei uns fast undenkbar. Illegale ArbeiterInnen, auf Baustellen, in Hotels, in der Gastronomie fordern Papiere, und sie werden von der Hälfte der Gewerkschaft unterstützt, mit allen Mitteln. So etwas können wir von Frankreich lernen: Das Zusammengehen verschiedener sozialer Gruppen, aber nicht aus einem moralischen Anspruch. Sondern dass ein Teil der Gesellschaft von den privilegierten Teilen geschützt werden muss, wie eben die Eisenbahner die sans papier unterstützen. Deshalb sind sie populär, weil sie versuchen, ihre soziale Gegenkraft für die Schwächsten einzusetzen. Das macht Avantgarde aus.
Avantgarden wird es in sozialen Prozessen immer geben. Das sind soziale Gruppen. Die haben eine bestimmte Rolle, wenn sie sich für die Gesellschaft engagieren, und nicht nur für die eigenen Interessen.
Gebrauchswerte produzieren
„Soziale Phantasie und Bewegung“: Wir haben immer bestimmte Vorstellungen von Bewegung. Da hat mensch immer Bilder im Kopf. Wir als ein bestimmer Teil der von 1968 kommenden Bewegung haben da sehr stark Lucas Aerospace in Großbritannien im Kopf. Das war eine Bewegung, in der die ArbeiterInnen angefangen haben zu sagen „nee, wir wollen etwas anderes produzieren als Rüstung“. Die haben in ihrem Kampf angefangen zu überlegen, gesellschaftlich nützliche Dinge herzustellen. Das war für uns ein ganz zentraler, symbolischer Kampf, der die Phantasie der Leute ungeheuer angeregt hat.
Der zweite Kampf in der Vergangenheit, der uns angeregt hat, wurde in Frankreich von Frauen geführt, in der Uhrenfabrik Lip. Das war unglaublich prägend, die Streikenden – der Betrieb sollte geschlossen werden – haben den Betrieb übernommen, haben versucht, neue Formen zu organisieren und haben neu angefangen zu produzieren und die Uhren, die sie gemacht haben, auch verkauft. Die Frauen – und auch die Männer – haben die ganze Arbeitsorganisation umgestellt. Sie haben den Takt selbst bestimmt, haben neue Tätigkeiten gemacht. Es gibt da jetzt einen neuen Film dazu von einem, der in den 70er Jahren mitgemacht hat, „Lip an die Macht“, den kann ich sehr empfehlen.
Der Film ist letztes Jahr in Frankreich in 250 Kinos gelaufen, immer mit damals Aktiven dabei, und ist heute von einer unglaublichen Aktualität. Er zeigt u.a. auch, wie eine gewerkschaftliche Arbeit aussehen kann, die die Initiative von Streikenden nicht blockiert, sondern hilft, dass die sich entfalten kann. Lip war eine ungeheure Phantasieproduktion, in dem, was die Leute gemacht haben, und eine andere Vorstellung von Gewerkschaften.
Repräsentanz
Ich glaube, wenn man eine Vorstellung von Veränderung hat, die von der Masse der Bevölkerung getragen wird, dann ist Selbstermächtigung eine zentrale Sache. Da kann man sich aus Argentinien oder Venezuela viele Beispiele und Anregungen holen. Es wird immer Vertretung geben, wie Gewerkschaften. Aber entscheidend ist: Was hat die für eine Rolle? Repräsentanz zu sein? Oder einen Beitrag zu leisten, den Leuten Rückhalt zu geben?
Gewerkschaften sind immer dann populär, wenn sie Leuten Rückhalt geben. Wie bei den sans papiers. Die Gewerkschaften geben Rückhalt, die sans papiers organisieren sich selbst. Lip beschreibt das sehr gut, wie Gewerkschafter anders sein können. Aber repräsentative Gewerkschaften geben keinen Rückhalt. Da ist keine Förderung von Selbstständigkeit. Deshalb haben sie auch kein Interesse daran, solche Erfahrungen aufzugreifen.
Der Bürokrat ist ja ein ganz bestimmter Menschentyp. Diese Organisationen sind über Jahrzehnte, Jahrhunderte gewachsen in einer Form, dass sie Repräsentanzen sind. Entweder du steigst selbst auf, wirst für andere Repräsentant. Oder du ordnest dich deren Hierarchien unter, sonst bist du draußen. Das ist das Entmündigende an dem Ganzen. In unseren Vorstandsbildungsetagen gibt es ein Bild: „Heute muss man aufpassen, wenn man die Affen auf die Bäume lockt – dann wollen die am Ende nicht mehr runter.“ Mit Affen meinen sie die, die sie mobilisieren.
Um die Affen auf den Baum zu locken, musst du auch Hoffnungen schüren. Die Leute nehmen ja die Hoffnungen immer ernst. Das ist so ein Prinzip von Menschenmotivierung, aber nicht, damit die ihre Interessen durchsetzen. Sondern es geht um deine Verhandlungsmacht. Du holst sie raus, zwecks Verhandlungsmacht, damit du sagen kannst: „Da draußen stehen sie.“
Selbstermächtigung
Die Fortsetzung von dem, was da 1995 in Frankreich entstanden ist, sind solche Gewerkschaften wie die Sud-Gewerkschaften. Die haben ihren Ursprung in der großen Streikbewegung von 1995, sie haben sich aus einer anderen Gewerkschaft rausgelöst und haben im Kern zwei Besonderheiten. Zum einen werden Entscheidungen nicht getroffen, wenn sie nicht in den Versammlungen in den Betrieben, Abteilungen mitgetragen werden, diskutiert werden. Zum anderen ist es die Frage der gesellschaftlichen Nützlichkeit: „Was machen wir da eigentlich?“ Sie sind im Gesundheitsbereich sehr stark, und bei den Eisenbahnern sind sie die zweitstärkte Gewerkschaft. Die sehr stark die Frage des Verkehrssystems diskutiert: Wie kann ein Verkehrssystem heute aussehen? Welche Bahn wollen wir? Welche Projekte fördern wir innerhalb der Bahn?
In den letzten Monaten gab es da sehr viele Auseinandersetzungen, und Sarkozy sagte auch im Fernsehen, für ihn sind solche Gewerkschaften, die die Repräsentanz nach unten verlagern, in die Bereiche, wo die Leute selbst entscheiden, das sind für ihn unverantwortliche Gewerkschaften – weil die Entscheidungen unkontrollierbar sind. Es gibt z.B. in Frankreich einen Begriff, der bei uns gar nicht existiert. Das ist der Streik, der ständig neu beschlossen wird. Die Streiks werden von den Versammlungen selbst beschlossen. Und so eine Bewegung ist von Anfang an nicht kontrollierbar.
Gerade im öffentlichen Bereich ist das heute Alltag. Um Weihnachten gab es einen Streik an einem der großen Pariser Bahnhöfe, der täglich von 500.000 Menschen frequentiert wird. Ausgegangen ist er von den Lokführern, wegen längerer Fahrzeiten. Und der hat vier Wochen gedauert. Die haben täglich 59 Minuten gestreikt – das hat mit der französischen Gesetzgebung zu tun – und gleichzeitig haben sie sehr viel Informationen an die BenutzerInnen verteilt. Die Regierung hat dagegen gehetzt, es gab Überfälle auf Lokführer – und dann wurde der Bahnhof für zwei Tage geschlossen. Danach wurden die Forderungen erfüllt. Und Sarkozy hat dann solche Gewerkschaften als „Staatsfeinde“ bezeichnet.
Was das zeigt, ist, dass gerade in der heutigen Krise soziale Organisationen, eben auch Gewerkschaften, eine ungeheure Gefahr für die Regimes bedeuten, wenn sie sich nicht als Mäßigungs- oder Kontrollinstanz betätigen, sondern ihren Einfluss in der Produktion dazu verwenden, den Leuten Raum zu geben. Wo sich ein Selbstermächtigungsprozeß entwickelt, wo die Leute die Erfahrung machen: „Wir haben was zu sagen.“ Wo sie die Angst verlieren, auf’s Podium zu gehen, wie das bei großen Betriebsversammlungen so läuft.
Die Versammlungen in Frankreich laufen auch so ab wie hier, dass man in einer großen Runde sitzt, ohne Podium. Was jetzt abläuft, dass sich die etwa die Bosse schnappen und sagen „ihr bleibt jetzt erstmal hier“, das hat ja einen Vorlauf. Diese individuelle und kollektive Selbstermächtigung wird nicht nur erzeugt durch Streiks. In der französischen Bewegung spielt es auch eine große Rolle, wie einzelne sich verhalten.
Verweigerung
Seit einem halben Jahr gibt es in Frankreich eine Schulreform. Die Lehrer dürfen einen bestimmten Förderunterricht nicht mehr geben, weil es kein Geld dafür gibt. Die erste Reaktion war, dass ein Lehrer einen Brief geschrieben hat an die Unterrichtsbehörde: Er macht so weiter wie bisher mit dem Förderunterricht. Daraus hat sich eine Welle entwickelt zur Unterstützung, die nennen sich „2.000 Ungehorsame“. Das hat in der Gesellschaft eine ungeheure Bedeutung. Bei uns heißt es immer „wenn alle laufen, dann laufen wir auch“, und da steht einer auf und verweigert sich. Gut, dem wurde erstmal der Lohn gekürzt. Aber inzwischen versucht die Regierung zu verhandeln, weil auch andere, auch Gewerkschaften das aufgegriffen haben.
Eine Arbeitsvermittlerin (vom Arbeitsamt) hat vor zwei Jahren öffentlich erklärt, dass sie nicht mehr bereit ist, dabei mitzumachen, Arbeitslose zu schikanieren, Bezüge zu streichen. Das ist in die Zeitungen gekommen, und daraus hat sich ein Generalstreik der ArbeitsvermittlerInnen entwickelt mit der Diskussion: „Was ist eigentlich unsere Aufgabe, unsere Arbeit? Verlängerter Arm der Behörde zu sein? Oder an der Seite der Arbeitslosen dafür zu kämpfen, dass anständige Bedingungen entstehen?
Und jetzt gibt es einen Aufruf von einer der Sud-Gewerkschaften zum Ungehorsam, nicht mehr mitzumachen in den Behörden. Gerade jetzt, mit dem Druck auf die Arbeitslosen, dass Geld gestrichen wird, sie in Zwangsmechanismen reingezwungen werden.
Vor kurzem gab es einen Bericht über Streik-aktionen bei den Stromversorgern. Eine zentrale Kampfform ist dort, dass während der Streikaktionen viele ärmere Stadtteile den Strom billliger bekommen. Und dass verweigert wird, irgend jemand den Strom zu kappen, weil er die Rechnung nicht bezahlen kann. Solche Sachen können die soziale Phantasie ungemein anregen.
Bei uns gibt es rasch die Reaktion: „Bei uns ist das unmöglich.“ Aber bei uns ist das genauso möglich. Berlin, in einem Krankenhaus mit 10.000 Beschäftigten, ein Riesen-Kombinat. Da hat eine Altenpflegerin öffentlich erklärt, sie macht diese Neuerungen nicht mit. Weil die Alten müssten sonst zwei Stunden länger in ihren Windeln liegen. Sie wurde sofort gekündigt. Wegen Rufschädigung. Daraus hat sich eine Solidaritätsbewegung entwickelt. Bloss, die Gewerkschaftsbürokratie macht da nicht mit: „Das ist eine Einzelaktion. Die hätte vorher zu uns kommen sollen. Dann wären wir als Betriebsrat hingegangen und hätten darüber verhandelt.“
Von ehemaligen Kolonien lernen
Rekolonialisierte Eisenbahnen in Mali
In meinem Kreis beschäftigen wir uns viel mit Privatisierung. Und da sind wir in Afrika auf eine Bahn gestoßen, die die Kolonialisten gebaut haben, die führt vom Senegal bis Mali. Die Bahn spielt da eine ganz zentrale Rolle für die Bevölkerung, die Frauen. Ganze Dorfbevölkerungen leben von dieser Bahn. Die wurde privatisiert, und die europäischen Eigentümer haben die Bahnhöfe geschlossen, halten die Bahn nur noch für den Güterverkehr aufrecht. Wie in der Kolonialzeit.
Die Güter gehen rein und raus, und von 36 Bahnhöfen an der Strecke in Mali haben die 26 geschlossen. In Mali ist die Bahn praktisch das einzige Verbindungsmittel, es gibt kaum Autos. Und so haben die malischen EisenbahnerInnen eine Kampagne beschlossen: Sie machen eine Tour und sehen nach, wie es der Bevölkerung damit geht. Und haben innerhalb von 23 Tagen im November 15 Bahnhöfe in diesen Dörfern abgeklappert und Dorfversammlungen gemacht. Wir waren zu fünft auch dabei, deutsche und französische GewerkschafterInnen.
Die Erfahrung war, dass selbst die Eisenbahner aus Mali sagten, es war unglaublich, was die Leute vorbrachten gegen die Privatisierung. Was das bedeutet. Und seither – das gesteht selbst die Regierung zu – gibt es in Mali eine starke Bewegung von diesen Bevölkerungsteilen. Die Privatisierung haben sie nicht verhindern können, aber es ist gelungen, die Vereinzelung der Leute zu durchbrechen. Die konnten ja nicht mal mehr in ein Krankenhaus.
Diese Kampagne hat die Leute mobilisiert. Da hat sich – auch für die Aktiven, die in der Stadt wohnen – alles verändert. Inzwischen haben sie 10 Bahnhöfe wieder geöffnet. Das ist ein gutes Beispiel für die Rolle von direkter Intervention in diesem Prozeß von Privatisierung und Vereinzelung. Und das Aufbrechen der Isolation. Inzwischen haben sie mehrere Radios aufgebaut in diesen jeweiligen Orten. Da sind die französischen Eisenbahngewerkschafter stark involviert.
Generalstreik in Guadeloupe
Guadeloupe, von den Einheimischen auch Gwada genannt, ist ein Überseedépartement und eine Region Frankreichs, bestehend aus einer Gruppe von neun Inseln der kleinen Antillen in der Karibik. Vierundvierzig Tage Generalstreik auf einer Insel, die von einer herrschenden Schicht von früheren Sklavenhaltern geprägt ist, also Weißen. Die alle zentralen ökonomischen Bereiche kontrolliert.
Man muss sich vorstellen, 44 Tage Generalstreik, alle Supermärkte, alles lag brach. Und ein Programm von einem Komitee, das sich gebildet hat aus verschiedensten Organisationen, Gewerkschaften, Vereinen, politischen Vereinen. Ein Programm in 10 Kategorien, mit 142 Forderungen, mit einer gesamten Vorstellung davon, wie eine Gesellschaft anders funktionieren kann. Bis zu Forderungen nach eigener Landwirtschaft an Stelle von Lebensmittelimporten, einem Schulwesen, in dem die einheimischen Sprachen berücksichtigt werden. Das hat eine solche Kraft entwickelt, dass alle Streikversammlungen, in denen dieses Komitee mit den Abgesandten der französischen Regierung verhandelt hat, im Fernsehen übertragen worden sind.
Die gesamte Inselgruppe hat 450.000 EinwohnerInnen, und 100.000, 150.000 Leute haben an den Demonstrationen teilgenommen. Haben die Verhandlungen über Tage verfolgt, in öffentlichen Übertragungen. Da hat sich etwas entwickelt, wo diese Gesellschaft plötzlich eine Würde bekommen hat. Das spielt in Frankreich eine sehr große Rolle, Guadeloupe, das wird in Demonstrationen aufgegriffen.
Da geht es nicht nur um die Forderungen. So eine Bewegung, wenn sie länger andauert, verändert ja auch die Beziehungen zwischen den Menschen ganz stark. Es gibt ein Manifest von guadeloupischen Intellektuellen, das sagt, in diesen 44 Tagen hat sich in dieser Gesellschaft mehr entwickelt als in den letzten 3 Jahrhunderten. Bei uns wird nur wahrgenommen: „Die haben gestreikt für einen Euro mehr.“ Ich denke, in dieser Krisensituation heute haben die Regierungen unglaublich Sorge, dass sich solche Bewegungen organisieren.
Bei uns in Deutschland fordern die Leute Versammlungen. In ganz großen Betrieben machen die Betriebsräte, die Gewerkschaften inzwischen sogenannte Infoversammlungen. Am Computer. Die haben ja in den Betriebshallen Computer. Da können sich dann die ArbeiterInnen an ihrem Arbeitsplatz um den PC stellen, und werden praktisch vernetzt informiert. Weil die Repräsentanten Angst haben vor offener Aussprache. Da ist zu viel Unberechenbarkeit drin, und die Angst vor Kollektivierung.
Das ist in Frankreich anders, da machen sie Versammlungen. Auf Youtube kann man das verfolgen. Da erfahren sie von einem Gerichtsurteil, und dann sagt einer: „So, jetzt ist Schluss!“ Und dann gehen sie da rein in diese Behörde, und hauen alles kurz und klein.
Anmerkung
1 Willi Hajek war Opel-Arbeiter in Buchum und ist jetzt aktiv in der Vernetzung von deutschen und französischen Eisenbahn-Basisgewerkschaften; die Veranstaltung organisierte LabourNet-Austria (labournetaustria.at).