Material zur Veranstaltung der subversiven Kantine zu Frankreich, Quellen: www.weltfestspiele.de/2001/position_herbst2000.html; Wem nützt das Schweigen? - Maurice Papon und das Massaker von Paris 1961, von Françoise Thull und Marianne Arens, 24.12.1999; zeitenblicke.historicum.net/2004/01/renken/index.html; www.weltpolitik.net/Regionen/Europa/Frankreich/Frankreich%20und%20die%20neue%20EU-Nachbarschaftspolitik/Analysen/Editorial.html; Telepolis: Einwanderungs- und Abwehrpolitik, Bernard Schmid 28.10.2005.
Von der Okkupation Algeriens durch Frankreich zur imperialistischen Mittelmeerpolitik
Frankreich/Algerien(krieg):
Kolonialhaltung
Die ersten bekannten EinwohnerInnen des Gebietes, das wir heute Algerien nennen, waren berberische Nomaden, die bis heute eine bedeutende Minderheit der algerischen Bevölkerung darstellen.
Diese Nomaden waren immer wieder Angriffen ausgesetzt, so etwa durch die Phönizier, danach die Römer. Bis heute spürbar ist der kulturelle Einfluss durch die arabischen Invasionen im 8. und 11. Jahrhundert. 1830 wurde Algerien von Frankreich besetzt.
Mehr als 100 Jahre Kolonialismus
Die französischen Besatzer legitimierten anfangs ihre Herrschaft in Nordafrika mit einem „notwendigen Kampf gegen die Piraten im Mittelmeer“, nämlich die algerischen Seefahrer, die den französischen Händlern noch immer Konkurrenz machten, obwohl die algerische Handelsflotte bereits durch fortgesetzte französische Überfälle und Zerstörungen darniederlag.
Sie sprachen von einem „menschenleeren“ Land, das sie der „Zivilisation“ erschließen wollten.
In den ersten Jahren der Eroberung waren es vor allem die Militärs, die das Land erkundeten und das für die Kolonisierung notwendige Wissen über Land und Leute sammelten. Neben ihren militärischen Aufgaben, die in der Unterwerfung der Bevölkerung des Landes und der Absicherung ihrer Herrschaft bestanden, wurden sie schnell auch zu Verwaltern, Richtern, Händlern und Forschern. Sie durchquerten in den ersten drei Jahrzehnten fast nur den Norden Algeriens, verwüsteten ganze Dörfer und Städte, ermordeten, verjagten oder enteigneten die BewohnerInnen, raubten oder töteten die Herden, verbrannten die Felder und plünderten die Habseligkeiten der Menschen. Ein Offizier der Besatzungstruppen fasst in einem Brief die Direktiven eindrucksvoll zusammen: „Sie fragen mich, was wir mit den Frauen machen, die wir festnehmen. Wir behalten einige als Geiseln, die anderen werden ausgetauscht gegen Pferde und der Rest wird versteigert wie die Tiere. Alle Männer bis zum 15. Lebensjahr töten, alle Frauen und Kinder nehmen, sie auf Schiffe laden, sie zu den Inseln Marquises oder anderswohin schicken; mit einem Wort, alles vernichten, was nicht vor unseren Füßen wie die Hunde kriecht.“
Wie auch Jahrhunderte zuvor in der „Neuen Welt“, Amerika, beteiligte sich auch in Nordafrika die Kirche aktiv am Kampf gegen die einheimische Bevölkerung. Die Missionare lieferten der Kolonisierung den religiösen Mantel, nach dem es sich bei dem Krieg gegen die AlgerierInnen um einen Kreuzzug handle, in dem „Frankreich der Soldat“ sei, der „über die Sahara hinweg ganz Afrika dem Evangelium darbieten“ werde, wie es der Erzbischof von Algier, Lavigerie, ausdrückte.
Von Anfang an leisteten die AlgerierInnen Widerstand und fügten der französischen Armee Niederlagen zu.
Erst 1871/72 waren die größten Aufstände gebrochen, doch auch danach kam es immer wieder zu Revolten. Am Ende dieser blutigen Eroberung hatte mehr als ein Viertel der zuvor vier Millionen Menschen zählenden algerischen Bevölkerung durch Krieg, systematische Vernichtung, Epidemien und Hunger ihr Leben verloren.
Rund 100 Jahre lang war Algerien ein „an Frankreich angeschlossenes Departement“. Frankreich verweigerte den AlgerierInnen die vollen Staatsbürgerrechte, insbesondere das Wahlrecht und den Zugang zu gehobenen Ämtern des öffentlichen Dienstes sowie zum Offizierskorps der französischen Armee. Einige Elemente des islamischen Familien- und Erbrechts blieben aufrecht und wurden benutzt, um den Rechtsstatus der AlgerierInnen als französische Untertanen, nicht aber als StaatsbürgerInnen, zu zementieren.
In dem siebenjährigen Unabhängigkeitskrieg (1954-62) gegen Frankreich verloren mehr als 250.000 AlgerierInnen und rund 10.000 französische Soldaten ihr Leben. Die Städte waren zerstört und mehr als zwei Millionen Menschen waren aus ihrer Heimat vertrieben worden.
Mit der Niederlage der französischen Besatzer und der Unabhängigkeit Algeriens 1962 verließ die große Mehrheit der französischen Techniker, Fachleute und anderer Experten das Land. Die algerische Regierung der Nationalen Befreiungsfront (FLN) unter Ben Bella war gezwungen, die Wirtschaft des Landes neu aufzubauen: Ein Jahr nach der Unabhängigkeit wurden die von den geflohenen französischen Siedlern zurückgelassenen Ländereien nationalisiert und von Arbeiterkomitees bewirtschaftet. Obwohl Algerien sich niemals den sozialistischen Staaten anschloß, trugen Wirtschaft und Gesellschaftsordnung gewisse sozialistische Züge. Die antiimperialistische Rolle, die Algerien über Jahrzehnte spielte, blieb dem kapitalistischen Lager ein Dorn im Auge.
Maurice Papon
ist eine Figur, die die Kontinuität der Kolonialhaltung Frankreichs gegenüber Algerien und dem Apparat in Frankreich anschaulich illustriert.
Im April 1998 wurde der 88jährige Maurice Papon von einem französischen Gericht zu einer 10jährigen Gefängnisstrafe verurteilt, weil er zur Zeit des Vichy-Regimes in seiner Funktion als Polizeipräfekt der Gironde die Deportation von 1.690 JüdInnen organisiert hatte. Papon, der bis 1981 hohe politische Ämter bis hin zum Finanzminister bekleidete, hat auch im Nachkriegs-Frankreich ähnliche Verbrechen begangen.
1929 schloss er sich der Studentenorganisation der Radikalsozialisten, einer bürgerlichen Partei, an. Während der 30er Jahre bekleidete Papon Ämter unter verschiedenen Regierungen, darunter auch der Volksfront, um schließlich in den Dienst des Vichy-Regimes zu treten.
Im Juni 1944 verschafft er sich rechtzeitig ein Alibi als „Widerstandskämpfer“, indem er der Résistance einige Informationen zukommen lässt.
1956 wird er unter dem sozialistischen Ministerpräsidenten Guy Mollet mit dem Posten des Polizeipräfekten von Constantine in Algerien betraut. Zwei Jahre später ernennt ihn der radikalsozialistische Innenminister Bourgès-Maunoury zum Polizeipräfekten von Paris.
In Constantine sind schlimmste Folterpraktiken bei Verhören an der Tagesordnung. Bis 1957 werden Tausende Algerier getötet, 114.000 Personen werden in Lager gesteckt, in denen täglich zwischen fünfzig und sechzig Menschen sterben. Es gibt verbotene Zonen, in denen die Einheimischen Freiwild sind.
Am 5. Oktober 1958 verbietet Papon den Algeriern in Paris per Dekret, sich zwischen 20.30 Uhr und 5.30 Uhr im Freien zu zeigen - eine verfassungswidrige Ausgangssperre, da sie einen Teil der Bevölkerung aufgrund ihrer Hautfarbe diskriminiert. Es beginnt eine Zeit regelrechter Hetzjagden auf dunkelhäutige Menschen in den Straßen von Paris. Im Stadtwald Bois de Vincennes wird ein Internierungslager eingerichtet, das stark an das berüchtigte Lager von Mérignac aus der Vichy-Zeit erinnert. Häufig gibt es Razzien. Algerische Arbeiter klagen über brutale Behandlung durch die französische Polizei, die sie Spießruten laufen lässt.
Das Massaker vom 17. Oktober 1961
Im Januar 1961 wird ein Referendum über die Selbstbestimmung Algeriens in Frankreich mit 75,2% angenommen. Im Februar wird die OAS (Organisation de l‘Armée secrète) gegründet - eine Geheimorganisation, die mit terroristischen Methoden für ein französisches Algerien kämpft. Sie besteht aus „Pieds noirs“ (französischen Kolonisten in Algerien) und Armeeangehörigen und verübt bis Ende 1962 Attentate.
Im Oktober 1961 spitzt sich die Situation zu: Unter den Polizisten wird das Klima angeheizt.
Aus Protest gegen die ständige Ausgangsperre fordert die FLN ihre Anhänger auf, nachts friedlich und massenhaft in den Straßen von Paris zu demonstrieren. Sie ruft für den 17. Oktober zu einer Protestkundgebung ab halb neun Uhr abends auf, zu der die Algerier mit ihren Familien auf die bekanntesten Plätze von Paris strömen sollen.
An dieser Demonstration nehmen etwa 30.000 AlgerierInnen teil, darunter viele Frauen und Kinder. Sie haben die strikte Order von der FLN, sich an diesem Tag „nicht einmal mit einer Stecknadel“ zu bewaffnen, sondern die Sympathie der Pariser Bevölkerung für ihre Demonstration für Frieden und Unabhängigkeit zu gewinnen.
Sie laufen in eine kaltblütig gestellte Falle. Schon am Nachmittag des 17. Oktober zieht Papon bestens ausgerüstete Polizeikräfte zusammen, die systematisch mit ihren Razzien beginnen, sobald die Leute in der Innenstadt eintreffen. Gegen Abend wird das Gerücht unter den Polizisten in Umlauf gesetzt, Algerier hätten auf Polizisten geschossen - eine blanke Lüge. Darauf kommt es zu außerordentlich blutigen Massakern. Gruppen von AlgerierInnen werden zwischen der Opéra und der Place de la République hin- und hergetrieben. Am Pont de Neuilly, einer Seinebrücke, wird scharf geschossen, und Augenzeugen beobachten, wie Polizisten Verletzte in die Seine werfen - obwohl einige von ihnen verzweifelt rufen, dass sie nicht schwimmen können.
An den Métro-Stationen werden die Leute von Polizisten aufgegriffen, in die bereitstehenden Polizeiwagen und Busse der Städtischen Verkehrsbetriebe verfrachtet und unter anderem ins berüchtigte Vélodrome d‘Hiver transportiert. Dort waren 1942 Tausende Juden vor ihrem Abtransport zusammengetrieben worden. Die Ankommenden werden von „Empfangskomitees“ der Polizei erwartet, die mit mörderischer Brutalität auf sie einschlagen.
Auch im Hof der Polizeipräfektur auf der Ile de la Cité werden immer mehr AlgerierInnen zusammengetrieben und praktisch unter den Augen von Papon zusammengeschlagen, manche werden erwürgt. Ein paar Polizisten berichten, dass fünfzig AlgerierInnen im Innenhof der Polizeipräfektur ermordet und anschließend in die Seine geworfen worden seien.
In dieser Nacht werden nach heutigen Erkenntnissen 11.730 Algerier verhaftet und zu den verschiedenen Plätzen, auch in das Internierungslager Vincennes abtransportiert. Noch Wochen später wird man immer wieder Leichen aus der Seine fischen.
Die offizielle Bilanz spricht von drei Toten bei einer Abrechnung unter rivalisierenden Algeriern.
De Gaulle stellt sich vor Papon und bringt all jene zum Schweigen, die den Kopf des Polizeipräfekten fordern: „Die Demonstration war verboten. Die Polizeipräfektur hatte den Auftrag und die Pflicht, sich ihr entgegenzustellen. Sie hat getan, was sie tun musste.“ Darauf kommt es nur wenige Zeit später zu einem weiteren Akt staatlicher Gewalt.
Der Informationsminister Alain Peyrefitte, ein überzeugter Gaullist, kontrolliert sämtliche Nachrichtenbulletins und betreibt persönlich die Entlassung aller Journalisten, die nicht schweigen.
Schließlich bringt eine Aktion der Pariser Polizei im Oktober 1965 das Fass zum Überlaufen: die Entführung des marokkanischen Oppositionsführers Mehdi Ben Barka. Er wird mitten in Paris am helllichten Tag in ein Auto gezerrt und nach einiger Zeit ermordet aufgefunden. Als durchsickert, dass hohe Polizeibeamte in diesen Mord verwickelt sind, beschließt de Gaulle endlich, sich von seinem loyalen Mitarbeiter zu trennen.
Papon hat von 1958 bis 1967 als Polizeipräfekt gearbeitet. Aber seine Karriere ist noch lange nicht zu Ende.
Nach einem kurzen Zwischenspiel in der Wirtschaft als Direktor von Sud-Aviation (heute Aérospatiale), wo er Listen über Gewerkschaftsmitglieder einführt, wird er 1968 nationaler Schatzmeister der gaullistischen UDF, 1978 Finanzminister.
Niederlage 1962
Eine interessante Übersicht über die Entwicklung des Umgangs mit dem Algerienkrieg bieten die Auseinandersetzungen um den 19. März, den die ‚Fédération Nationale des Anciens Combattants en Algérie, Maroc, Tunisie‘ (FNACA) als führender Verband der französischen Algerienkriegsveteranen zum Totengedenktag für ihre zwischen 1954 und 1962 gefallenen Kameraden erklärt hat.
Die verschiedenen Regierungen der Fünften Republik weigerten sich beharrlich, den 19. März, den Tag des Waffenstillstandes zwischen der französischen Kolonialarmee und der algerischen Nationalen Befreiungsbewegung FLN, als Feiertag anzuerkennen.
Jahrzehntelang galt der Algerienkrieg als offiziell nicht existent. Erst nach einem einstimmigen Votum in der Nationalversammlung im Juni 1999 wurden Begriffe wie ‚Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Ordnung‘ durch den Begriff ‚Algerienkrieg‘ ersetzt. Während des Krieges diente die amtliche Sprachregelung der Beschönigung des Krieges. Nach der algerischen Unabhängigkeit war sie auf die Vorbeugung finanzieller Forderungen gerichtet, die von den rund zwei Millionen ehemaligen Soldaten zu erwarten waren.
Am 1. November 1954 nahm die neu gegründete FLN in Algerien den bewaffneten Kampf gegen die französische Kolonialmacht auf.
1955 wurde der Ausnahmezustand über das Land verhängt, die zivile Justiz durch Militärtribunale ersetzt und die ersten Reservisten eingezogen.
1956 wurden schließlich praktisch alle wehrpflichtigen Soldaten, insgesamt über zwei Millionen französischer Soldaten, zur „Unterstützung polizeilicher Maßnahmen“ nach Algerien mobilisiert.
Der französische Staat wollte den Krieg nicht anerkennen, weil er den kolonialen Status Algeriens nicht anerkennen wollte. Eine Kolonie wie Indochina konnte man in einem Unabhängigkeitskrieg verlieren. Im Falle Algeriens handelte es sich hingegen um die bloße Verlängerung des französischen Staatsgebietes auf der anderen Seite des Mittelmeeres. Staatsrechtlich war das Gebiet der Metropole gleichgestellt. Die nationale Unterdrückung der Bevölkerung wurde geleugnet. Der zuständige Innenminister François Mitterrand erklärte auf einer Reise durch die Aufstandsgebiete am 1. Dezember 1954: „Es scheint ganz so, dass man in ganz Algerien […] das Volk hat aufstacheln wollen gegen den, den man als Fremden, als Besatzer, als Franzosen bezeichnet. Die Bevölkerung hat diese Sprache nicht verstanden, weil sie französisch ist. Ohne die Mitwirkung der Bevölkerung ist gar nichts möglich, ohne jeden Zweifel… Wir versetzen darum keine Schläge in kollektiver Weise. Wir vermeiden alles, was als eine Art Kriegszustand erscheinen könnte.“
Während der Terminus ‚Algerienkrieg‘ frühzeitig Eingang in die Umgangssprache fand, sprach die Presse von den ‚Ereignissen‘. Die Armee führte keinen ‚Krieg‘. Algerien wurde lediglich ‚befriedet‘. Die praktischen Erfahrungen, die die Soldaten im Kampf gegen die FLN machten, widersprachen den offiziellen Beschönigungen. Wenn es einen Toten gab – auf der einen oder anderen Seite – wurde ein Unfallprotokoll erstellt.
30.000 französische Soldaten sind zwischen 1952 und 1962 im Algerienkrieg oder bei den Kämpfen in Marokko und Tunesien gefallen.
Für die politische Rechte war das in Evian beschlossene Ende der Kampfhandlungen und die Einleitung einer Volksabstimmung über die algerische Unabhängigkeit gleichbedeutend mit der ‚Preisgabe‘ des französischen Algerien. Der Waffenstillstand fachte insofern neue Fronten des Krieges an, dessen Achsen sich von diesem Moment allerdings zunehmend in die großen Städte verschoben. Neben dem Konflikt zwischen Frankreich und der FLN eskalierte der innerfranzösische Konflikt zwischen OAS und der Staatsgewalt, zwischen OAS und den Wehrpflichtigen der Armee, dem ‚contingent‘. Die Vereinbarungen von Evian und der Waffenstillstand des 19. März bedeuteten Frieden mit der FLN – und zugleich Bürgerkrieg mit den Vertretern des ‚französischen Algerien‘, des ‚Algérie française‘. Letztere wurden angeführt durch Offiziere der regulären Kolonialarmee. Die von der OAS, der 1961 entstandenen faschistischen ‚Geheimen Armeeorganisation‘ (‚Organisation de l‘Armée secrète‘), nach dem 19. März 1962 angeheizte Eskalation des Krieges führte schließlich dazu, dass die große Mehrheit der knapp eine Million zählenden Algerienfranzosen aus Angst vor Vergeltung das Land fluchtartig verließ.
Der 19. März erzeugte eine Anziehungskraft auch auf Kräfte, die sich selbst noch aggressiver als die FN präsentierten und die sich auf diesem Feld als die Speerspitze der Erben des ‚Algérie française‘ zu profilieren suchten, wie z.B. die offen nazistische Splittergruppe GUD neben den JPN.
Nach einer IFOP-Umfrage, die die FNACA 1991 in Auftrag gab, haben 77% der Franzosen einer Offizialisierung des Gedenkens an die Opfer Nordafrikas zugestimmt.
Auch die Entwicklung bei den Straßenumbenennungen war beachtlich. 1980 lag die Zahl der Gemeinden und Städte, die mindestens eine Straße oder einen Platz auf den Namen ‚19 mars 1962, fin de la guerre en Algérie‘ getauft hatten, bei 924. Bis zum Sommer 1983 stieg die Zahl auf rund 1.300. Unter dem Druck der geschichtspolitischen Polarisierung und dem Rechtstrend der 1980er Jahre fanden zwar einige Rückbenennungen statt, doch letztendlich war die Tendenz ungebrochen. Ende 1994 lag die Zahl bei insgesamt 2.250 Straßen und Plätzen in 1.600 Kommunen, am 1. September 2002 schließlich bei insgesamt 3.360. Heute existiert in mehr als einem von zehn Orten eine entsprechende Straßenbezeichnung zum 19. März.
Auffällig ist dabei das erhebliche regionale Gefälle. Ganze Departements wiesen noch im Jahr 2002 nicht eine einzige Straße des 19. März auf, so jene in Korsika oder Alpes-Maritimes, viele andere verfügten hingegen über 100. An der Spitze liegt das Departement Isère mit 152. Im Jahr 2000 existierte in 38 Departementhauptstädten mindestens eine Straße des 19. März. Es fehlten jedoch Bordeaux, Marseille und Lyon und Grenoble. Und schließlich fehlt Paris, bis heute. Lediglich die Städte des roten Gürtels um Paris sind vertreten, wie Bobigny, Nanterre oder Evry. Eine linke Ratsmehrheit erleichterte der FNACA die Durchsetzung ihrer Anliegen, ein hoher Anteil an ehemaligen Algerienfranzosen in der Bevölkerung erschwerte sie. Ein sozialistischer Bürgermeister zeigt sich umgänglicher als ein sozialistischer Präsident.
Der 19. März impliziert als Datum keine andere Botschaft als die des Friedens um jeden Preis, eben auch um jenen der Aufgabe des französischen Algeriens. Ihn zu feiern heißt, dem vorhergehenden Krieg jeden Sinn abzusprechen. Denn ein Krieg, dessen einziger Sinn in seiner Beendung liegt, ist ein Krieg ohne Sinn. Soldaten, die in einem Krieg „für Frankreich“ und zugleich „sinnlos“ gefallen sind, sprechen der Nation selbst den Sinn ab.
Heutige Interessen Frankreichs
Selbst wenn eine Erweiterung der EU um die Maghrebstaaten nicht auf der Tagesordnung steht, wirft die EU-Osterweiterung die Frage nach den Beziehungen der EU zu ihren neuen Nachbarn im Osten und im Süden auf. Im März 2003 legte die Europäische Kommission die Mitteilung „Wider Europe – Neighbourhood: A new Framework for relations with our Eastern and Southern Neighbours“ vor. Darin skizziert sie die Grundlinien einer neuen EU-Nachbarschaftspolitik und stellt damit einen neuen Aspekt der bereits im Jahr 1995 durch die Unterzeichnung des Barcelona-Abkommens entstandenen europäischen Mittelmeerpolitik (EMP) dar.
Die europäische Mittelmeerpolitik ist nach dem Vorbild der Schlussakte von Helsinki von 1975, auf einem Drei-Körbe-Modell aufgebaut:
* die politische und sicherheitspolitische Zusammenarbeit,
* die wirtschaftliche und finanzielle Partnerschaft, die vor allem die Errichtung einer Euro-Mediterranen Freihandelszone durch bilaterale Assoziations- und Kooperationsabkommen bis zum Jahr 2010 anstrebt
* und die kulturelle und gesellschaftliche Partnerschaft.
Bereits vor dem 11. September 2001 wurde die „Mittelmeerbedrohung“ von Frankreich, Italien und Spanien thematisiert: Politische Instabilität, wachsender Einfluss des Islamismus, unkontrollierte demographische Entwicklung sowie die Risiken im Zusammenhang mit illegaler Einwanderung.
Die EMP behandelt den Mittelmeerraum als Ganzes und verwendet dabei ein breit angelegtes Sicherheitskonzept, das sowohl politische, als auch wirtschaftliche und kulturelle Aspekte einschließt.
Die euro-mediterrane Partnerschaft bezieht sich heute auf 11 Länder: Ägypten, Algerien, Israel, Jordanien, den Libanon, Malta, Marokko, Syrien, Tunesien, die Türkei, Zypern – und die Palästinensische Autonomiebehörde. Seit 1999 verfügt Libyen über einen Beobachterstatus. Libyen soll, unter der Bedingung der Öffnung der Wirtschaft und der politischen Normalisierung des Landes, die Vollmitgliedschaft im Barcelona-Prozess erhalten.
Neben dem Barcelona-Prozess haben sich zwei informelle Gesprächsrunden entwickelt: der so genannte „5+5 Dialog“, der regelmäßige informelle Treffen zwischen europäischen (Frankreich, Griechenland, Italien, Portugal, Spanien) und nordafrikanischen (Algerien, Libyen, Marokko, Mauretanien, Tunesien) Mittelmeerstaaten vorsieht, und das Mediterrane Forum, dessen elf Mitglieder (Ägypten, Algerien, Frankreich, Griechenland, Italien, Malta, Marokko, Portugal, Spanien, Tunesien, die Türkei) regelmäßig auf Regierungsebene zusammen treffen, und das als Versuchslabor für den Barcelona-Prozess gilt.
Frankreich bleibt einer der wichtigsten politischen und wirtschaftlichen Partner der Maghreb-Staaten. Jacques Chirac versucht seit 2002, Frankreich verstärkt als privilegierter Partner des Maghrebraums zu profilieren:
Die Exporte Frankreichs nach Algerien betrugen 2004 4,23 Mrd. (gegenüber 3,7 Mrd. 2003).
Die Importe aus Algerien beliefen sich auf 2,87 Mrd. (gegenüber 3 Mrd. 2003).
Frankreich ist mit einem Marktanteil von 22,7% der größte Lieferant Algeriens.
Die Bestände an ausländischen Direktinvestitionen aus Frankreich werden Ende 2004 auf 200 Mio. geschätzt. Große französische Unternehmensgruppen des Nahrungsmittelsektors (Castel, Danone, Bel), des Transportsektors (Michelin) oder Waschmittelsektors (Henkel France in Partnerschaft mit dem staatlichen Unternehmen ENAD) siedeln sich wieder in Algerien an. Heute sind ca. hundert französische Unternehmen in Algerien tätig und beschäftigen ca. 6000 Personen. Algerien kann alle Instrumente der französischen öffentlichen Entwicklungshilfe (AFD) in Anspruch nehmen: Algerien profitiert sowohl von den Interventionen der AFD als auch von der Reserve für Schwellenländer (RPE).
Der französische Staatsminister für Wirtschaft, Finanzen und Industrie und sein algerischer Amtskollege unterzeichneten am 27. Juli 2004 einen Komplex von unterstützenden Maßnahmen für die wirtschaftliche Präsenz Frankreichs in Algerien:
Mehr Investitionen: Die ersten Gespräche betrafen eine weitere Tranche bei der Schuldumwandlung in Investitionen, die 61 Mio. erreichen könnte (+ der bereits im November 2005 aufgebrauchten 61 Mio. aus 2004);
Verstärkung der bilateralen Zusammenarbeit in mehreren strategischen Sektoren für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung Algeriens: Transportwesen, Wasserversorgung, Wohnungs- und Städtebau;
Umsetzung von Instrumenten für die technische Zusammenarbeit: der Besuch des französischen Ministers für Wirtschaft, Finanzen und Industrie in Algier ermöglichte die Einsetzung eines „Strategischen Ausschusses“, dessen Hauptaufgabe darin besteht, unsere gesamte wirtschaftliche und finanzielle Zusammenarbeit zu beleben und die institutionelle Partnerschaft zwischen den Strukturen der beiden Ministerien auszubauen.
Französische Perspektiven: die Wiederbelebung bilateraler Beziehungen
Aus mehreren Gründen ist Frankreich in einer Sonderrolle in der Maghreb-Region. Frankreich ist heute der größte Handelspartner Algeriens, Marokkos und Tunesiens. Dies erklärt sich unter anderem durch die Suche nach günstigen Absatzmärkten sowie durch das Interesse an den Energieressourcen Algeriens.
Eine drei Millionen Menschen starke nordafrikanische Gemeinschaft in Frankreich - und noch mehr potenzielle Einwanderer – sind weitere Gründe für enge politische Beziehungen. Das Aufrechterhalten der französischen Sprache in der Region durch ihre Einbindung in die so genannte „Frankophonie“ gehört darüber hinaus zu den wichtigsten Zielen der französischen auswärtigen Kulturpolitik. Der Einflussraum Frankreichs in der Zone beschränkt sich allerdings auf die ehemaligen Kolonien und Protektorate Algerien, Marokko und Tunesien.
Durch drei Staatsbesuche in Algerien - der erste eines französischen Staatschefs seit der Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1962 -, Marokko und Tunesien hat Jacques Chirac im Jahr 2003 eine klare außenpolitische Offensive im Maghrebraum geführt. Im Kontext der Irakkrise und der französisch-amerikanischen Spannungen konnte Frankreich seinen Einfluss in der Region durch eine Intensivierung seiner bilateralen Beziehungen zu den Maghreb-Staaten verstärken. Darüber hinaus geht es Paris darum, die „Osteuropäisierung“ der EU durch ein engagierteres Auftreten im Mittelmeerraum zu relativieren. Während der Staatschef die lang erwartete Versöhnung zwischen den beiden Ländern zelebrierte und die wachsenden Investitionen französischer Unternehmen in Algerien hervorhob, forderten algerische Demonstranten eine flexiblere Visapolitik für die Einreise nach Frankreich.
Die französische Maghrebpolitik definiert sich jedoch nicht als europäisch. Vielmehr scheint der Barcelona-Prozess ein Mittel für Frankreich zu sein, seine politische und wirtschaftliche Führungsposition in der Region gegenüber seinen europäischen Konkurrenten Italien und Spanien zu bestätigen. Der Staatsbesuch Chiracs in Tunesien, der zeitgleich mit dem 5+5 Gipfel Anfang Dezember 2003 stattfand, war ein deutlicher Ausdruck der französischen Machtposition innerhalb der europäischen Mittelmeerpolitik.
Frankreich steht noch vor der Herausforderung, seine eigene Maghrebpolitik mit der EMP in Einklang zu bringen und sich als Triebkraft des Barcelona-Prozesses zu erweisen. Während die neue EU-Nachbarschaftspolitik ursprünglich nur für die östlichen Nachbarn Weißrussland und Ukraine vorgesehen war, hat Frankreich ihre Erweiterung auf den Mittelmeerraum durchgesetzt.
Die EU-Kommission versucht daher, eine Alternative zum bis dato erfolgreichsten Instrument der EU-Außenpolitik – der Beitrittsperspektive - zu bieten. Neben der Errichtung eines gemeinsamen Handlungsrahmens sollen so genannte „Aktionspläne“ von der EU und ihren Nachbarn bilateral erarbeitet werden. Während zumindest in der Durchführung bisheriger Assoziierungs- und Kooperationsabkommen eine Dominanz der EU herrschte, sollen diese Aktionspläne von beiden Partnern auf Augenhöhe ausgehandelt werden. Diese Differenzierung nach nationalen Besonderheiten stellt aber die Gesamtkohärenz der Nachbarschaftspolitik in Frage.
Eine Mauer für die internationale Arbeitsteilung
Die EU möchte ihr Anliegen, die überwiegend immaterielle „große Mauer“ besser bewacht zu sehen, nicht durch die Rivalität zwischen den beiden nordafrikanischen Regionalmächten gefährdet sehen. Deshalb plante sie, bis Ende 2005 einen gemeinsamen Gipfel der Union mit Marokko und Algerien über die „Kontrolle der Migrationsströme“ abzuhalten. Dessen Beschlüsse sollen einen repressiven Aspekt – eine verstärkte Absicherung der eigenen Grenzen durch die nordafrikanischen Staaten – und einen „Marshallplan für Afrika“ miteinander verbinden.
Offiziell hat man nun auch bei der EU erkannt, dass die Elenden eines Kontinents auf Dauer nicht allein durch Mauern, und auch nicht durch Schüsse, von der Suche nach einem besseren Leben abzuhalten sein werden – dort, wo der Mehrwert angehäuft wird, der auf den Reichtümern ihrer Länder basiert. Konkret ist aber bisher allein die Rede von einer Verdoppelung des Entwicklungshilfebudgets. Almosen statt der erforderlichen radikalen Änderung der „internationalen Arbeitsteilung“: Auch dies wird allenfalls für kosmetische Abhilfe sorgen, aber keines der drängenden Probleme lösen, aufgrund derer Millionen das Elend ihrer Herkunftsländer verlassen möchten.
Die deutsche Politik hat es im schlechtesten Sinne vorgemacht, wie eine repressive „Lösung“ aussieht: Als die Bundesrepublik im Mai 1993 das Asylrecht im Grundgesetz weitgehend demontierte, schloss sie mit sämtlichen Nachbarländern in ihrem Osten „Rücknahmeabkommen“ für unerwünschte Einwanderer und Flüchtlinge. Polen, Tschechien und Ungarn wiederum taten desgleichen mit Rumänien und der Ukraine, wo sich daraufhin faktische Auffangbecken bildeten, in denen Hunderttausende Flüchtlinge festsaßen. Ähnliches plant die EU jetzt an ihrer Südflanke. „Wir wollen nicht der Mülleimer Europas werden.“ Diese Erklärung der Präfektur im ostmarokkanischen Oujda zur Rechtfertigung der Deportation afrikanischer Flüchtlinge in die Wüste, die durch die französische Libération aufgeschnappt wurde, drückt die Gesamtphilosophie dieses Projekts ebenso rücksichtslos wie treffend aus. Die Verdammten dieser Erde sind Abfall, den man loswerden will.