AK Krise, verwendetes Material: siehe Fußnoten
I. Krise:
Korrektiv kapitalistischer Verwertung
Wieso verläuft kapitalistische Wirtschaft im immer gleichen Rhythmus von Konjunktur und Krise? Karl Marx behauptet, dass es sich bei diesem Ablauf um eine Gesetzmäßigkeit handelt, und keineswegs um „Fehler“ einzelner Politiker oder Kapitalisten. Der kommunistische Ökonom Eugen Varga1erklärte 1938 die Mechanismen, die zu den zyklischen Krisen führen. Wir fassen sie hier zusammen.
Kapitalistische Krisen sind immer Ausdruck eines Missverhältnisses von Angebot und Nachfrage. Auf der einen Seite gibt es eine Unmenge an Gütern, die als Waren auf den Markt gelangen. Ihnen steht eine zu geringe Menge an verfügbarem Geld der potentiellen KonsumentInnen gegenüber. Wie kommt es zu diesem Missverhältnis?
Der Preis der Ware
Nach bürgerlichen Ökonomen setzt sich der Preis für eine Ware zusammen aus
* dem Preis der Rohstoffe, die in diese Ware eingeflossen sind
* dem Verschleiß der Maschinen, mit denen die Ware produziert wurde
* dem Lohn der beteiligten ArbeiterInnen und
* dem Profit des Kapitalisten, der die Ware produzieren ließ.
Der für die Rohstoffe bezahlte Preis stellt das Einkommen anderer Personen (nämlich derjenigen, die die Rohstoffe gefördert bzw. produziert haben) dar. Der bezahlte Lohn bildet die Kaufkraftder ArbeiterInnen/Angestellten. Der Profit ist das Einkommen der Kapitalisten. Und der Verschleiß der Maschinen bedeutet, dass ein Teil der Maschinen in die neue Ware eingegangen und daher ebenfalls auf den Preis der Ware anzurechnen ist.
Dadurch, dass sowohl die Rohstoffe als auch die Anlagen und Maschinen wiederum unter gleichen Bedingungen, nämlich Lohnarbeit, geschaffen wurden, fallen diese Posten bei der Betrachtung der geschaffenen Kaufkraft weg – sie werden dort betrachtet, wo sie geschaffen wurden, denn dort zerfallen sie wiederum in Lohn und Profit.
Bürgerliche Ökonomen argumentieren weiter: Wird nun eine Ware produziert, so wird damit gleichzeitig die Kaufkraft (d.h. das Einkommen) produziert, die erforderlich ist, um diese Ware zu kaufen. Umgelegt auf die gesamte Gesellschaft (vorausgesetzt, dass die Gesellschaft lediglich aus Arbeitenden und Kapitalisten besteht) muss die Kaufkraft dem Preis aller in einer Produktionsperiode (sagen wir in einem Jahr) erzeugten Waren entsprechen. Damit sei nachgewiesen, dass eine allgemeine Überproduktion, nämlich ein Mehr an Waren steht einem Weniger an Kaufkraft gegenüber, gar nicht vorkommen kann.
Findet eine Ware trotzdem keineN KäuferIn, so müssen die Ursachen dafür anderswo zu suchen sein, z.B. darin, dass von einigen Waren zuviel, von anderen aber zu wenig produziert wurde, oder in der Spekulation, oder sonstwo. Würde also die kapitalistische Produktion geplant vonstatten gehen, so gäbe es überhaupt keine Krisen mehr.
Soweit die bürgerliche Betrachtungsweise kapitalistischer Krisen. Sie wird von der Wirklichkeit Lügen gestraft. Seit der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts beobachten Ökonomen einen stetigen Wechsel von Konjunktur und Krise, der meist in sieben- bis zehnjährigen Abständen verläuft. Deshalb sprechen wir von „zyklischen Krisen“ und nach obiger Auffassung müssten wir unterstellen, dass die Kapitalisten regelmäßig innerhalb weniger Jahre Fehler begehen: Entweder lassen sie Waren am Markt vorbei produzieren, auf denen sie dann mangels Nachfrage sitzen bleiben, oder sie verzichten gleich auf die Produktion und wenden sich dem Spiel (Spekulation) zu. Glücklicherweise erkennen sie aber  zwar spät, doch regelmäßig  ihre Fehler, korrigieren sie, und schon funktioniert die Wirtschaft wieder.
Wie begreifen nun historische MaterialistInnen das Phänomen der kapitalistischen Krisen?
Der Inhalt der Ware
Der Blick (der bürgerlichen Ökonomen) auf den Preisder Ware verstellt die Sicht auf den Inhaltder Ware. Denn es ist nicht egal, ob eine Ware eine Maschine ist, die dazu dient, Konsumgüter zu produzieren, oder ob sie das Konsumgut selbst ist. Deshalb teilt Karl Marx die Produktion in zwei unterschiedliche Abteilung ein:
In Abteilung I werden die Maschinen produziert, deren Zweck in der Produktion von Konsumgütern besteht.2
In Abteilung II werden dann die Konsumgüter selbst produziert.
Ob eine Ware nun Produktionsmittel oder Konsumgut ist, liegt an der Verwendung derselben. Ein Computer kann sowohl in der Produktion eingesetzt werden (etwa zur Steuerung von CNC-Maschinen), er kann aber auch konsumiert werden (z.B. indem daheim damit gespielt wird). Ebenso kann ein Auto unter der Woche als Produktionsmittel dienen, während es  mit Zustimmung der Firma  am Wochenende für private Zwecke genutzt wird. Ein früheres Beispiel von Eugen Varga: Ein Ochse ist Produktionsmittel, solange er vor den Pflug gespannt wird. Wird er geschlachtet und das Fleisch verkauft, so verwandelt er sich in ein Konsumgut.
Der Zweck menschlicher Güterproduktion ist letztlich die Befriedigung bestimmter Bedürfnisse. Und um diese Produktion effizient zu gestalten – oder überhaupt erst zu ermöglichen – schaffen die Menschen sich die Werkzeuge, die sie benötigen, um die Dinge herzustellen, die sie konsumieren möchten.3
Die Produktion von Produktionsmitteln dient also lediglich dazu, Konsumgüter produzieren zu können. Kapitalisten kaufen Maschinen nur, wenn sie erwarten, dass sie die damit produzierten Konsumgüter auch verkaufen werden können. Somit ist der Absatz von Produktionsmitteln durch den Absatz von Konsumgütern beschränkt.Kein Kapitalist wird einen Hochofen errichten, um sich an dem Anblick des daraus fließenden Roheisens zu ergötzen, so wie er sich Brillanten kauft, um sich an deren Glanz zu erfreuen.
Kaufkraft und Konsumtionskraft
Die Kaufkraft einer Gesellschaft entspricht den Preisen der von ihr geschaffenen Güter.Aber diese Güter teilen sich in Produktionsmittel und Konsumgüter. Die Konsumtionskraft ist jener Teil der Kaufkraft, den ArbeiterInnen und Kapitalisten für den Kauf von Konsumgüternaufwenden können. Heute wird die Konsumtionskraft gemeinhin „Massenkaufkraft“ genannt, wir werden hier aber weiter den von Marx gebrauchten Begriff „Konsumtionskraft“ verwenden.
Wie groß ist nun die gesellschaftliche Konsumtionskraft, wenn wir die oben genannten Teile, aus denen sich der Warenpreis zusammensetzt, betrachten? Die Lohnsumme, also die Summe aller ausbezahlten Arbeitslöhne, geht zur Gänze in die Konsumtion ein, denn ArbeiterInnen kaufen keine Produktionsmittel. Der Profit, das Einkommen der Kapitalisten, kann aber nur zu einem Teil für deren Konsum ausgegeben werden.
Denn einen Teil des Profits müssen die Unternehmer wieder investieren: Sie müssen ihre Anlagen erneuern und neue Maschinen anschaffen. Sie unterliegen dem ständigen Zwang, die Produktion so effizient (kostengünstig) wie möglich zu gestalten, weil sie sonst gegenüber der Konkurrenzzu teuer produzieren, daher weniger Profit machen und schlussendlich unterliegen, also bankrott gehen.
Die gesellschaftliche Konsumtionskraft ergibt sich daher aus der Lohnsumme plusdem Profit minusden Investitionen. Und damit entspricht sie nicht dem Wert der produzierten Waren, sondern liegt immer darunter.
Dieses Missverhältnis verschiebt sich zuungunsten der Konsumtionskraft. Weil die Unternehmer gezwungen sind, ihre Maschinerie zu verbessern (d.h. mit weniger Arbeitskraft mehr produzieren zu können), wird der Lohnanteil an den Produktionskosten immer niedriger. Und damit sinkt im Verhältnis zu den produzierten Waren der Teil der Konsumtionskraft, den die Lohnsumme ausmacht. Gleichzeitig werden die Investitionskosten, also der Anteil, der vom anderen Teil der Konsumtionskraft, dem Profit, abgezogen wird, immer höher, und so sinkt auch dieser Teil der Konsumtionskraft.5
Marx merkt an, dass die „beständigen Revolutionen in den Produktionsmethoden selbst“ dafür sorgen, dass das Kapital ständig entwertet wird, und „damit weitere Rationalisierungen erzwingen“. Zusätzlich muss der Markt ständig ausgedehnt werden (um Waren absetzen zu können), und damit wird er ständig unkontrollierbarer.6
Der Kapitalismus schafft damit auf der einen Seite immer effizientere Methoden der Güterproduktion, während er auf der anderen Seite dafür sorgt, dass die Konsumtionskraft immer weniger ausreicht, um die produzierten Waren zu kaufen. Gegen diese Tendenz hilft auch keine „geplante Marktwirtschaft“, und somit ist das oben genannte Argument bürgerlicher Ökonomen, dass nämlich eine geplante kapitalistische Wirtschaft Krisen verhindern würde, hinfällig.7
Krisenzyklen
Mitten in der scheinbar besten Konjunktur taucht plötzlich die Krise auf. Waren werden unverkäuflich, Firmen entlassen ihre Belegschaft, Unternehmen gehen in Konkurs – die Konsumtionskraft der Gesellschaft sinkt abrupt. Aus der obigen Beschreibung ist noch nicht ersichtlich, wieso der Kapitalismus nicht ständig in der Krise ist, wenn er doch ständig zu wenig Konsumtionskraft im Verhältnis zu den Warenbergen schafft.
Aber die ganze Erfahrung mit der kapitalistischen Produktionsweise zeigt uns, dass tatsächlich ein ständiger Wechsel zwischen Krise und Konjunktur stattfindet:
Krise
Die Krise ist eine Überproduktionskrise, weil mehr Waren am Markt sind, als gekauft werden können. Deshalb fallen aufgrund der mangelnden Nachfrage die Preise, und für gleiches Geld kann mensch sich eine größere Warenmenge kaufen, wodurch erstmal mehr Waren vom Markt verschwinden. Hilft das nicht, so wird ein Teil der Waren vernichtet, oder er verdirbt wegen überlanger Lagerung.
Weil die Unternehmer nicht mehr damit rechnen können, alle ihre Waren verkaufen zu können, fahren sie die Produktion herunter, so weit, bis die Preissumme der hergestellten Waren niedriger ist als die ebenfalls gesunkene Konsumtionskraft der Gesellschaft. Anders ausgedrückt: Angebot und Nachfrage befinden sich wieder in einem „gesunden“ Verhältnis – bloß auf niedrigerem Niveau als zuvor. Nun sind die Waren wieder verkäuflich, aber die Summe der produzierten Konsumgüter ist gesunken, die Gesellschaft befindet sich in der Depression, einem (laut Marx) „Zustand der Abspannung nach überstandener Krise“.
Depression
Während der Krise verzichten die Kapitalisten darauf, den Profit zu investieren, denn in dieser Phase könnten sie ein Mehr an produzierten Waren nicht absetzen und somit keinen weiteren Profit erzielen. In der Phase der Depression hingegen bietet sich die Chance, durch Rationalisierungen, also Investitionen in bessere Maschinen, billiger zu produzieren. Und nachdem die Konsumtionskraft ausreicht, um Waren zu kaufen, können sie die Konkurrenz ausstechen, indem sie ihre Produkte billiger verkaufen.8
Es setzt eine Erneuerung und Erweiterung der Anlagen und Maschinerie ein, neue Betriebe werden gebaut, alte Maschinen durch neue, produktivere ersetzt. Die Produktion in der Abteilung I (der Produktionsmittelindustrie) wird ausgedehnt, selbst wenn der Absatz von Konsumgütern noch stagniert. Die Lohnsumme der in Abteilung I Beschäftigten steigt, und damit steigt auch die Konsumtionskraft der Gesellschaft wieder. Mit der Beschäftigung von mehr Menschen steigt auch der Profit der Kapitalisten wieder, und auch ihre Konsumnachfrage erhöht sich.9
Prosperität
Und damit kommt auch die Produktion von Konsumgütern (in der Abteilung II) wieder in Schwung, wodurch auch hier mehr ArbeiterInnen benötigt werden, die wiederum konsumieren möchten. Die Phase der Depression wird von der Phase des Wirtschaftsaufschwungs, der Prosperität, abgelöst. Und die Kapitalisten begreifen nicht, dass sie die nächste Krise vorbereiten.
Sobald sich die neuen Standards der Produktivität durchgesetzt haben, d.h. diejenigen Betriebe, die die Krise überlebt haben, ihre Maschinerie auf den neuesten Stand gebracht haben, nimmt die Nachfrage nach Produktionsmitteln wieder ab – dieser Markt ist gesättigt. Wiederum werden Beschäftigte in der Abteilung I entlassen, die Konsumtionskraft der Gesellschaft beginnt zu sinken. Trotzdem werden immer mehr Konsumgüter produziert, es wurden ja die dafür nötigen Maschinen gekauft, die noch dazu rationeller arbeiten als die alten.
Tatsächlich besteht bereits Überproduktion, trotzdem wird noch eine Weile weiter produziert, die Maschinen müssen sich ja „rechnen“. Waren werden auf Lager gehalten, und die Kapitalisten hoffen auf eine bessere Konjunktur. Schlussendlich erweist sich die Hoffnung als falsch, denn die Produktion übersteigt weiterhin die Konsumtionskraft der Gesellschaft, und die nächste Krise bricht offen aus.
Dynamik
Scheinbar verläuft die kapitalistische Produktion in einem ständigen Rhythmus von Krise, Depression, Prosperität und wiederkehrender Krise, in einem Kreislauf. Aber jede Krise zwingt die Kapitalisten zu effizienterer Produktion, und damit schafft jede Krise die Voraussetzungen dafür, dass die nächste Krise noch tiefer wird als die vorangegangen. Das passende Bild für diese Entwicklung ist also kein kreisförmiger Verlauf, sondern vielmehr eine Spirale, die immer enger wird.10
Neue Märkte
Die Gesellschaft besteht nicht bloß aus (Lohn-)Arbeitenden und Kapitalisten, eine solche Gesellschaft hat es nie gegeben. Denn neben diesen beiden Klassen gibt es unabhängige ProduzentInnen, BäuerInnen, HandwerkerInnen, Menschen, die vorwiegend für ihre Subsistenz arbeiten, d.h. sich selbst versorgen und kaum Waren kaufen.
Diese Menschen werden immer mehr in die kapitalistische Produktion hineingezogen. Lenin hat für Russland in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts festgestellt, dass die armen BäuerInnen immer mehr zu ArbeiterInnen, die reichen zu Kapitalisten werden, und hinzugefügt, dass „die Verwandlung der Bauernschaft in Landproletariat in der Hauptsache einen Markt für Konsumtionsmittel, die Verwandlung der Bauernschaft in Dorfbourgeoisie in der Hauptsache einen Markt für Produktionsmittel“ schafft.11
Diese Entwicklung schafft erstmal eine Erweiterung der Absatzmöglichkeiten von Waren für die Kapitalisten, einen neuen Markt. Damit wird das Problem der Überproduktion vorerst entschärft, und ähnlich verhielt es sich mit der Eroberung und Ausbeutung der Kolonien. Ist aber der Prozess der Umwandlung von für sich selbst produzierenden BäuerInnen in kapitalistische WarenproduzentInnen abgeschlossen, so entfällt diese Möglichkeit der Ausdehnung des Marktes, und damit der Minderung von Krisen. Neue Märkte müssen erschlossen werden, die wiederum nur eine zeitweilige Entspannung der Situation bieten.12
Monopolisierung
In jeder Krise macht eine Anzahl von Betrieben bankrott, es bleiben immer weniger Unternehmen, die in einer Branche produzieren, bis schließlich Monopole entstehen: einige wenige, riesige Unternehmen teilen sich einen Markt. Solche Monopole geben dem Kapital die Möglichkeit, Löhne zu drücken, weil die ArbeiterInnen nicht die Möglichkeit haben, zur Konkurrenz zu wechseln. Sinkende Löhne bedeuten aber ein Absinken der gesellschaftlichen Konsumtionskraft und tragen somit zur Krisenhaftigkeit bei.13
Monopole können darüber hinaus die Preise für ihre Waren künstlich hochhalten, etwa durch Kartellabsprachen. Damit verhindern sie in Krisenzeiten den Abbau der überschüssigen Warenvorräte und die Überwindung der Krise. In der Phase der Depression behindern sie die Erneuerung und Erweiterung der Maschinerie und damit den Übergang von der Depression zur Prosperität. Und so tragen sie dazu bei, die Krise zu verlängern und zu vertiefen.
Schließlich sind die Kapitalisten nicht mehr in der Lage, ihre Produktivkräfte auszunutzen. Auch in Phasen der Prosperität werden die Maschinen nicht mehr voll ausgelastet, und ein von Zyklus zu Zyklus größer werdender Teil der ArbeiterInnen bleibt arbeitslos. Die „Sockelarbeitslosigkeit“ senkt wiederum die Konsumtionskraft der Gesellschaft weiter und beschleunigt die Herausbildung der Krise.14
II. Historische Krisen
Gemeinsam ist allen diesen Krisen, dass in Phasen der Prosperität hemmungslos produziert wird. Obwohl allen Beteiligten klar sein müsste, dass die Märkte irgendwann gesättigt sein werden, möchte jeder einzelne so viel Profit wie nur möglich einstreifen. Deshalb wird erst die Krise die Ernüchterung bringen – für kurze Zeit, denn sobald die industriellen Überkapazitäten und Warenberge abgebaut sind, beginnt das Spiel auf’s Neue. Wie trägt nun die äußere Ausdehnung der Märkte zur Prosperität bei, und wie verwandelt sich dieser temporäre Vorzug in die Voraussetzung für die nächste Krise?
Ausdehnung der äußeren Märkte – die britisch-südamerikanische Krise 1825/26
Prosperität
In den Jahren 1816/17 herrschte in Großbritannien eine Wirtschaftskrise. Aus dieser Krise befreite sich das britische Kapital, indem es die Märkte ausdehnte. Seit 1816 hatten sich mehrere südamerikanische Staaten für unabhängig erklärt (1816 Argentinien, 1821 Peru und Mexiko, 1822 Brasilien). Die britische Regierung erkannte sehr rasch die Bedeutung dieser Länder als neue Absatzmärkte. Sie anerkannte als eine der ersten deren Unabhängigkeit und veranlasste den Bau von Häfen in diesen Ländern. So schuf sie dem britischen Kapital die Möglichkeit, neue Handelsbeziehungen aufzubauen.
Großbritannien hatte einen Vorsprung in der Industrialisierung gegenüber dem restlichen Europa, und konnte dank günstigerer Preise und besserer Qualität seiner Waren seine Warenexporte stark steigern. Zwischen 1821 und 1825 schnellten die Exporte nach Lateinamerika von 2,9 Millionen Pfund Sterling auf 6,4 Millionen. Hauptexportartikel waren Baumwollprodukte (die Rohbaumwolle wurde aus den Kolonien importiert), und dank der neuen Märkte wurden in Großbritannien unzählige neue Fabriken gegründet, die wiederum weitere Investitionen wie den Bau von Verbindungskanälen, Gasbeleuchtung etc. nach sich zogen. Diese Aufbruchstimmung führte zu einem Börsenaufschwung, der immer mehr Investoren und Anleger anlockte.
Woher hatten die südamerikanischen Länder die Mittel, ihre Importe aus Großbritannien innerhalb weniger Jahre auf mehr als das Doppelte zu steigern? Zunächst hatten einige reiche britische Kaufleute in diese Länder investiert. Die ersten finanziellen Mittel wurden wiederum von den lateinamerikanischen Ländern für den Kauf britischer Produkte ausgegeben. Dieser Geldstrom beschleunigte sich zusehends: Die neuen Staaten nahmen Staatsanleihen in London auf, das aus Großbritannien abfließende Geld erhöhte wiederum die Importe in Lateinamerika.
Ab Mitte 1824 überschwemmten südamerikanische Wertpapiere die Londoner Börse: Aktien von Gold- und Silberminen und Staatsanleihen südamerikanischer Länder fanden reißenden Absatz, und bald fragte niemand mehr nach, ob eine Mine real existierte oder lediglich eine Fiktion darstellte. Innerhalb weniger Monate stiegen die an der Londoner Börse gehandelten Werte um über 200%. Zu Jahresbeginn 1925 warnten Regierungsmitglieder vor übertriebenen Spekulationen, die Aktienmärkte wurden nervös. Im April 1925 kollabierte der Aktienmarkt.
Künstliche Aufrechterhaltung der Prosperität – Verzögerung des Krisenausbruchs
Für den Ankauf von Wertpapieren musste lediglich eine Anzahlung geleistet werden, der Rest war in Raten zu begleichen. Die Spekulation, die viele damit verbanden, bestand darin, das Wertpapier kurz vor Fälligkeit des Kredits mit Gewinn zu verkaufen. So konnte mit geringem Einsatz ein großer Gewinn erzielt werden. Diese Form der Spekulation erreichte ungekannte Höhen, von den projektierten 372 Millionen Pfund Sterling wurden in Wirklichkeit nur 17,6 Millionen einbezahlt. Nachdem die Aktienkurse gefallen waren, konnten viele Anleger und Kreditkäufer die fälligen Zahlungen nicht mehr begleichen, ihre Aktien waren unverkäuflich geworden. Kleinere Banken, die ihre Kredite ohne jede Überprüfung der Zahlungsfähigkeit der Kreditnehmer vergeben hatten, gingen dabei bankrott.
Krise
In Südamerika brach die Nachfrage, nachdem die lateinamerikanischen Anleihen in London nicht mehr gekauft wurden, zusammen. Viele Unternehmen standen vor dem Aus. Und so wurden immer mehr Banken und Unternehmen in die Krise hineingezogen. Die Regierung verweigerte mit dem Hinweis darauf, vor der Spekulation gewarnt zu haben, jegliche Unterstützung der gefährdeten Unternehmen und Banken und schürte damit noch mehr die Unsicherheit in der Bevölkerung.
Im Dezember 1825 schließlich erreichte die Panik ihren Höhepunkt. Die Krise hatte einige bedeutende Londoner Banken erfasst, die nun in Bankrott gingen, und Bargeld wurde knapp. 73 Banken waren zusammengebrochen, und Großbritannien stand – nach Aussage eines Historikers – knapp vor dem Tauschhandel, die Bank of England hatte so gut wie keine Bargeldreserven mehr. Im weiteren Verlauf der Krise brachen noch mehr Banken zusammen, insgesamt 145, der Edelmetallvorrat der Bank of England sank dramatisch, und nach Großbritannien und Südamerika breitete sich die Krise auf ganz Europa aus. Banken in Paris, Lyon, Leipzig und Wien waren betroffen, Italien und andere Märkte, die auf diese Finanzzentren angewiesen waren, mussten daraufhin ebenfalls ihre Handelskäufe reduzieren. Auch in Paris waren die Folgen zu spüren und verursachten letztlich die Panik im Jahr 1828.
Der Krise folgte wiederum eine Phase von Prosperität, die in der Krise von 1837 mündete. Und diese Krise eröffnete den nächsten Zyklus mit dem Boom zu Beginn der 1840er Jahre, der im Krach 1846/48 endete.
Ausdehnung der äußeren Märkte – britische Eisenbahnkrise 184716
„Alles, was das Geschäft erleichtert, erleichtert auch die Spekulation, beide sind in vielen Fällen so eng verknüpft, dass es schwer ist zu Sagen, wo das Geschäft aufhört und wo die Spekulation anfängt.“(Gilbart, 1834, zitiert nach Marx)
Die 1837 einsetzende Krise begann sich Ende 1842 wieder in eine beginnende Konjunktur zu wandeln, die Auslandsnachfrage nach britischen Waren stieg. 1843 wurde China als neuer Markt geöffnet – durch die von Großbritannien und seinen Alliierten geführten Opiumkriege. Damit schuf sich England neuerlich einen neuen Markt. Marx: „‚Wie können wir je zuviel produzieren? Wir haben 300 Millionen Menschen zu kleiden’ – sagte dem Schreiber dieses damals ein Fabrikant in Manchester.“ Der einströmende Profit wurde sofort wieder investiert, diesmal in den Bau von Eisenbahnlinien. Dabei wurden Aktien auf Kredit gekauft, denn die Bankzinsen waren äußerst niedrig (in den Jahren 1844 bis 1846 lagen sie in England zwischen knapp 2% und 5%). Diese Nachfrage trieb die Börsenkurse in die Höhe und lockte weitere Spekulanten an.
Und um die produzierten Waren absetzen zu können, entstand ein System von Warenlieferungen nach Indien und China wiederum auf Kredit – bis schließlich die Märkte übersättigt waren und es zum Krach kam. Ausgelöst wurde er durch Missernten in den Jahren 1846 in 1847 in Europa. Nun mussten Getreide und Kartoffeln importiert werden, die sofort zu bezahlen waren. Allein die Bank of England musste einen großen Teil ihrer Goldreserven aufgeben, um die Importe finanzieren zu können.
Nun stiegen die Kreditzinsen von 3% im Jahr 1847 auf 10% im November desselben Jahres, die zuvor aufgenommenen Kredite wurden uneinbringlich, Banken meldeten Konkurs an. Daraufhin beschloss die Regierung eine Änderung des Bankengesetzes, um der Bank of England zu ermöglichen, ihre Bargeldreserven auf den Markt zu werfen. Marx: „Da der Kredit dieser Banknoten tatsächlich durch den Kredit der Nation garantiert, also unerschüttert war, trat damit sofort die entscheidende Erleichterung der Geldklemme ein.“ Im Dezember fiel der Zinssatz wieder auf 5%, und „schon im Laufe von 1848 bereitete sich jene erneuerte Geschäftstätigkeit vor, die den revolutionären Bewegungen des Kontinents im Jahre 1849 die Spitze abbrach, und die in den fünfziger Jahren zuerst eine bis dahin unerhörte industrielle Prosperität herbeiführte, dann aber auch – den Krach von 1857.“
Äußere Märkte – Prosperität und Krise
Die Prosperität der Phasen vor den Krisen von 1825/26 als auch von 1846/48 wurden maßgeblich durch eine Ausdehnung der äußeren Märkte bewerkstelligt. Im ersten Fall wurde diese Ausdehnung vor allem dadurch bewirkt, dass die ehemaligen spanischen Kolonien ihre Unabhängigkeit durchsetzten. Damit wurde auch das kapitalistische Modell durchgesetzt, denn die spanische Ausbeutung der Kolonien war noch stark an mittelalterlichen Bereicherungsformen orientiert.
Die Eroberung neuer Märkte: diplomatisch ...
Die Unabhängigkeit der lateinamerikanischen Staaten geht nicht zuletzt auf die französische Revolution zurück. Zwar hatte es davor bereits Aufstände indigener Gruppen (Tupac Amaru in Bolivien/Peru etc.) gegeben, aber erst die Schwächung Spaniens, das 1808 – 1814 im Krieg mit Frankreich lag und faktisch von seinen Kolonien abgeschnitten war, schufen die Voraussetzungen für eine Überwindung der spanischen Fremdherrschaft.
Dabei lavierten die kreolischen Eliten zwischen Königstreue und Unabhängigkeit: einerseits sahen sie in der revolutionären Bewegung die Möglichkeit, sich von der spanischen Herrschaft zu befreien, andererseits wollten sie ihren privilegierten Status gegenüber der indigenen Bevölkerung auf keinen Fall verlieren. Nachdem Ecuador am 10.8.1809 seine Unabhängigkeit von Spanien erklärt hatte, folgte noch im selben Jahr Bolivien. 1810 folgten Venezuela und Kolumbien. Aber aufgrund der Widersprüche innerhalb der kreolischen Herrschenden erfolgte die Unabhängigkeit provinzweise, was den Spaniern wiederum Aufwind verschaffte.
Ebenfalls 1810 wurde der spanische Vizekönig in Argentinien gestürzt, und die Aufständischen schickten Expeditionen zur Unterstützung der Unabhängigkeitsbewegungen nach erst Peru, danach auch Paraguay, das 1811 seine Unabhängigkeit erklärte. Auch Chile schüttelte 1810 die spanische Herrschaft ab. All diese Bewegungen mussten schwere Rückschläge hinnehmen, so die venezolanische 1812 und 1814. Ab dem Jahr 1815 setzten sich die Unabhängigkeitsbewegungen sukzessive durch, und am 9. Juli 1816 wurde Argentinien tatsächlich unabhängig. Am 12. Februar 1818 proklamierte Chile seine Unabhängigkeit. 1819 eroberte Simon Bolívar Kolumbien und in der Folge Ecuador und Venezuela.
Ein Jahr später versuchten die Spanier, eine Armee mit 20.000 Soldaten nach Südamerika zu entsenden. Ihr Kommandeur, Rafael del Riego, begann aber stattdessen am Neujahrstag 1820 einen Aufstand und bezwang König Ferdinand in Madrid, der erst drei Jahre später mit Hilfe französischer Royalisten seinen Thron zurück erobern konnte. In der Zwischenzeit hatten die südamerikanischen Aufständischen bereits fast den gesamten Kontinent befreit.
Anders verlief die Geschichte in Brasilien, das portugiesische Kolonie war. Die portugiesische Politik war verhandlungsorientierter, die scheinbare Entlassung des Landes in die Unabhängigkeit war flankiert von der Inthronisierung des Sohnes des portugiesischen Königs als Pedro I. Kaiser von Brasilien, wodurch das Land bis 1889 von Portugal abhängig blieb.
1811 vertrieben uruguayische Aufständische die Spanier aus dem Land, das allerdings zehn Jahre später von Brasilien annektiert wurde. Erst 1828 konnten die Uruguayer, die sich mit Argentinien verbündet hatten, ihre Unabhängigkeit durchsetzen.
Britisch- und Niederländisch Guyana erlangten als Guyana bzw. Surinam erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Unabhängigkeit. Französisch-Guayana ist seit 1946 als Department ein Teil Frankreichs.
Das britische Modell einer „Partnerschaft“ (Anerkennung der sich unabhängig erklärenden Länder) erschien den unabhängig gewordenen südamerikanischen Staaten allemal attraktiv er als die spanische Vorherrschaft, es verhieß „Wohlstand für alle“ (womit sicherlich nicht die indigene Bevölkerung gemeint war). Die rasche Anerkennung dieser Länder sicherte die Einflussmöglichkeiten der britischen Regierung (Erlaubnis zum Bau von Hafenanlagen und Handelshäusern) und damit die Expansion des britischen Kapitals.
... und militärisch
Den chinesischen Markt hingegen mussten die Briten militärisch erobern, denn China war ein in sich geschlossenes, mehr oder weniger straff durchorganisiertes, seit Jahrhunderten bestehendes Reich.
Bereits in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts hatten britische Kaufleute versucht, Baumwolle nach China zu exportieren, um damit die Tee- und Seide-Importe nach Großbritannien zu finanzieren. Aber 1821 brachten 4509 Stück englischer Kattun und 416 Stück Samt und Baumwollsamt, die auf einer Auktion in Guangdschou verkauft wurden, nur 40% ihrer Selbstkosten.17Diese Verluste setzten sich bis 1827 fort und der chinesische Absatzmarkt für britische Produkte blieb marginal.
Dem standen Exporte chinesischer Produkte nach England gegenüber, deren Wert das Sechsfache der britischen Exporte nach China betrug. Die britische Handelsbilanz war mit China war chronisch defizitär führte zu einem Silbermangel in Europa. Deshalb gingen die Briten dazu über, aus Indien (Bengalen) Opium nach China zu exportieren, um damit ihre Importe nach Europa zu finanzieren. Das Opiumverbot umgingen sie durch Bestechung chinesischer Beamter.
Bis 1835 griff der Opiumkonsum in China so weit um sich, dass er schließlich zur „nationalen Bedrohung“ wurde, über den Opiumhandel entwickelte sich das chinesische Handelsbilanzdefizit gegenüber Großbritannien. Die massiven Importe britischer Waren begannen die einheimische chinesische Textilproduktion zu zerstören.
Als die Opiumhändler immer dreister gegen das Importverbot verstießen, brachte ein Zwischenfall in Guangdschou das Fass zum Überlaufen. Die Befreiung eines verurteilten chinesischen Drogenhändlers durch britische und amerikanische Dealer führte zu einem Volksaufstand. Tausende DemonstrantInnen umzingelten die ausländischen Fabriken in der Stadt, die Dealer mussten schließlich von chinesischer Polizei und Militär gerettet werden.
Den britischen Kapitalisten war rasch klar, dass dieser Markt militärisch erobert werden musste. In der Folge schickten die Briten ihre Flotte nach China, und nach langen Kämpfen – die vor allem von den chinesischen BäuerInnen und HandwerkerInnen geführt wurden – setzten die Briten die Öffnung von fünf chinesischen Häfen für den Außenhandel, verbunden mit hohen „Reparationszahlungen“ und schließlich 1841 eine „Meistbegünstigungsklausel“ (d.h. beste Handelsmöglichkeiten für britische Händler) durch. Und selbstverständlich wurde der Opiumhandel ausgedehnt.18
Die Konjunktur vor 1845 resultierte nur zum Teil aus dem Fernosthandel. Daneben entwickelte sich in Großbritannien ein neuer Binnenmarkt, der auf der Erfindung der Dampflokomotive beruhte. Diese Technologie benötigte Unsummen an Geld für die Konstruktion und Produktion der Loks und Waggons und vor allem für das Verlegen der Schienennetze. Der Boom der Eisenbahnindustrie setzte sich rasch am Kontinent fort und band in den deutschen Ländern zehntausende WanderarbeiterInnen.19
Der hohe Kapitalbedarf wiederum konnte nur durch Kapitalgesellschaften aufgebracht werden. Hier erfolgte (nach den Fernhandelsgesellschaften im Merkantilismus) der Übergang vom Einzelunternehmertum zu den Aktiengesellschaften, die das Kapital vieler (Aktionäre) in sich vereinigten und entsprechend viele Arbeitskräfte benötigten, die alle dem gleichen Kommando unterstanden.
Ähnlichkeiten zur jüngeren Geschichte
Die Haltung der österreichischen Regierung beim Zerfall des ehemaligen Jugoslawien war ähnlich der Haltung der britischen Regierung beim Zerfall des spanischen Weltreiches: Obwohl ein kleines Land im Reigen der imperialistischen Mächte, sorgten Mock und Co. mit ihrer Anerkennungspolitik der sezessionistischen Staaten (Slowenien, Kroatien …) für hervorragende Expansionsmöglichkeiten österreichischer Konzerne. Das erklärt die starke Präsenz österreichischer Banken in diesen Ländern.
Inzwischen hat sich der anfängliche Vorteil – Erschließung neuer Märkte – angesichts des drohenden Kollaps der osteuropäischen Volkswirtschaften wiederum zur Voraussetzung für die Krise des österreichischen Bankenwesens gekehrt.
Bedeutung des Kredits
Bereits bei den erwähnten Krisen in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts fällt die Bedeutung des Kredits auf. Ohne die Kredite an die unabhängig gewordenen lateinamerikanischen Länder hätte der Umfang der Handelsbeziehungen nie so weit aufgebläht werden können. Ohne die Kreditvergabe hätte auch der Eisenbahnbau in England selbst nicht finanziert werden können.
Sobald eine Branche boomt, wird der Kredit lockerer vergeben, bis selbst die Hoffnung auf zukünftige Gewinne als Sicherung für einen Kredit ausreicht. Dahinter steckt, dass jede kapitalistische Produktion nichts anderes als die Hoffnung auf zukünftige Gewinne ist. Denn erst nach der Produktion zeigt sich, ob die Waren am Markt absetzbar sind – und zu welchem Preis. Und erst der Verkauf der Waren realisiert den Gewinn.
Aber sobald hohe Gewinne winken, entwickelt sich aus dem Kreditgeschäft die Spekulation. Aktien werden nicht mehr gekauft in Erwartung hoher Dividenden, sondern weil erwartet wird, dass ihr Kurs steigt und sie innerhalb kurzer Zeit mit Gewinn weiterverkauft werden können. Kredite werden nicht aufgenommen, um damit Unternehmen auszubauen, sondern um Aktien zu kaufen, deren rascher, gewinnbringender Weiterverkauf die Kreditrückzahlung ermöglichen soll.20
Wenn Aktienwerte steigen, weil Gewinne erwartet werden, dann steigt der Wert des Unternehmens, unabhängig davon (weil das ja noch gar nicht vorauszusehen ist), ob sie jemals den erwarteten Gewinn erzielen werden. Diese fiktiven Werte müssen dann in der Krise bereinigt werden (Kursverfall). Und je größer die Spekulation vor der Krise, desto höher der Bereinigungsbedarf in der Krise.
Aktuell haben wir eine Spekulationsphase von Jahrzehnten hinter uns, in der zwar immer wieder Kurswerte bereinigt wurden (1987 Bankenkrise in den USA, 2000 dotcom-Krise etc.), die entsprechenden Buchverluste wurden aber sofort wieder durch die nächste Spekulation mehr als wettgemacht, auf jede zerplatzte Blase folgte eine größere Spekulation.
Deshalb ist absehbar, dass noch viel mehr „Wertberichtigungsbedarf“ besteht, als gemeinhin von bürgerlicher Seite zugegeben wird. Unabhängige Ökonomen schätzen diesen Bedarf inzwischen um ein Mehrfaches größer, als die gesamte Realökonomie an Werten zu schaffen in der Lage ist.
Weltwirtschaftskrisen
1. Weltwirtschaftskrise 1857
Mehrere Faktoren in diesem Jahr lösten die Krise aus, die sich als erste auf alle Finanzzentren der Welt ausweitete. Zum einen war das die Beendigung des Krimkrieges durch Russland. Bis dahin hatten die USA einen großen Teil ihrer Weizenproduktion nach Europa exportiert, das damit die Soldaten an der Front ernährte. Mit Ende des Krieges und der damit einhergehenden Ankurbelung der eigenen Landwirtschaften in Europa entfiel diese Exportmöglichkeit für die US-Farmer. Umgekehrt importierten die USA weiter jede Menge Waren aus Europa, was zu einem massiven Abfluss von Gold aus Amerika führte.
Ein weiterer, innerer Faktor war die Spekulation auf Eisenbahnaktien. Nachdem die Besiedelung des Westens der Vereinigten Staaten (sprich der Landraub an der indigenen Bevölkerung) ins Stocken geraten war, fielen die Aktien der Eisenbahnunternehmen in Erwartung sinkender Gewinne aus dem Transportgeschäft.
Am 24. August 1857 fiel schließlich der erste Dominostein im Kartenhaus des Bankenwesens. Die New Yorker Filiale der Ohio Life Insurance and Trust Company, die Kredite über fünf Millionen Dollar an riskante Eisenbahnvorhaben vergeben hatte, musste Konkurs anmelden. Daraufhin schränkten die New Yorker Banken ihre Tätigkeiten umgehend ein. Die Zinssätze für Kredite wurden enorm erhöht, Wechsel von Kaufleuten und Schuldnern nicht mehr angenommen, und damit eine Panik unter Anlegern ausgelöst. Aktienkurse sanken innerhalb weniger Stunden um 8 bis 10%, allein in New York verloren 20.000 Menschen sofort ihren Job.
Nun zogen britische Kaufleute und Banken ihr Geld aus Amerika ab. Der Weizenpreis fiel weiter und Russland unterbot auch noch den amerikanischen Baumwollpreis. In den Häfen der USA lagerten unzählige Tonnen an importierten Waren, die mangels Kaufkraft nicht abgestoßen werden konnten. Eisenbahnprojekte mussten aufgrund fehlender Investitionsmittel eingestellt werden. Weitere Banken gingen bankrott.
Um die Situation zu entspannen, hatten einige Banken an der Ostküste beschlossen, eine größere Menge Gold aus kalifornischen Minen als Sicherheitsreserve herbei zu schaffen. Doch der Dampfer, der das Gold im Wert von mehreren Millionen Dollar transportierte, sank am 12. September in einem Hurrican 200 Meilen vor der Küste South Carolinas. 400 Menschen ertranken, das Gold versank im Meer. Die Nachricht von dieser Katastrophe versetzte die Finanzwelt in einen Schockzustand. Die Aktienkurse crashten, die Hälfte aller New Yorker Broker (Wertpapierhändler) musste Bankrott anmelden.
Durch neue Technologien wie die Telegraphenleitungen verbreiteten sich die Nachrichten in Windeseile im ganzen Land. Bald verweigerten auch Banken in Philadelphia und anderen großen amerikanischen Städten die Herausgabe von Gold. Im ganzen Land stieg die Arbeitslosigkeit rasch an, bis Ende Oktober waren allein in Manhattan und Brooklyn 100.000 Menschen arbeitslos. Einige große Investoren, wie Cornelius Vanderbilt22, nutzten die niedrigen Aktienpreise und kauften marode Firmen auf.
Diese Krise war mit ein Auslöser für den Bürgerkrieg von 1861 – 1865. Die Krise traf die Nordstaaten viel stärker als die Südstaaten, deren Baumwollexporte nach Europa aufgrund der gesunkenen Preise wieder anliefen. Während die Nordstaaten für Schutzzölle gegenüber Europa plädierten, kam das für die exportorientierten Südstaaten nicht in Frage. Der Norden forderte, dass SiedlerInnen Land im Westen geschenkt werden solle, damit Arbeitslose sich als Farmer selbst versorgen könnten. Der Süden lehnte das ab, weil er fürchtete, dass dadurch eine Mehrheit gegen die Sklaverei zustande kommen könnte.
Die Wirtschaft der Nordstaaten erholte sich erst wieder, als Europa ab 1859/60 seine Weizeneinfuhren aus den USA auf das Siebenfache der in den Vorjahren gekauften Mengen steigerte. Nicht nur die BäuerInnen verdienten an den Exporten, auch die Eisenbahnen hatten wieder Aufträge zu verzeichnen, und der steigende Konsum des Westens kurbelte die Konjunktur der Industrie im Osten der USA wieder an.
Internationale Auswirkungen
Die amerikanischen Banken und Unternehmer hatten auch Kredite in Europa, vor allen in Großbritannien aufgenommen, die sie in der Krise nicht mehr zurückzahlen konnten. So kam es zu Konkursen bei britischen und schottischen Banken, verbunden mit Aktieneinbrüchen. Im November erreichte die Krise Deutschland. Hamburger Banken hatten Mitte der fünfziger Jahre große Kredite an schwedische, dänische und norwegische Unternehmen vergeben, die wiederum in Bahn- und Schifffahrtsgesellschaften und Fabriken investierten. Deren Bankrotte rissen auch die deutschen Banken mit.
Im Hamburger Hafen verfaulten Tee, Stoffballen, Kaffee und Getreide im Wert von 500 Millionen Mark, weil sie unverkäuflich wurden. Schiffe aus Amerika und Asien wurden gar nicht mehr ausgeladen. Schließlich dehnte sich die Krise weiter aus auf Frankreich, das Habsburgerreich, Russland, Chile, Argentinien, Brasilien, Uruguay, Indien und das heutige Indonesien. Die deutsche Handelskammer schreibt: „Die Welt ist ein Ganzes, Industrie und Handel haben sie dazu gemacht.“ Und der „Frankfurter Aktionär“: „Die Krisis ist eine Weltfrage geworden.“
Weltwirtschaftskrise 1873
Als „Gründerzeit“ wird die Zeit vor 1873 bezeichnet, in der Deutschland und Österreich industrialisiert wurden („Firmengründungen“). Die Entdeckung der Dampfkraft und ihre Anwendung in Fabriken, Eisenbahnen und Schiffen schuf völlig neue Produktionsmöglichkeiten und benötigte große Summen an Kapital. Die „Einigung“ Deutschlands vergrößerte den „inneren“ Markt, und 1870 wurden auch die Bedingungen für die Gründung von Kapitalgesellschaften „liberalisiert“, d.h. vereinfacht. Eine Aktiengesellschaft brauchte etwa nur noch mit 50% des Nennwertes ausgestattet sein.
Das führte zu einer Vielzahl an Gründungen neuer Kapitalgesellschaften, allein in Preußen von über 500 innerhalb von 2 Jahren. Die Wertsteigerungen, die diese Gesellschaften in Erwartung großer Gewinne erfuhren, ließen die Börsenkurse der Aktien steigen und steigerten damit die Spekulationslust. Langfristige Kredite wurden durch kurzfristiges Kapital finanziert – und damit de facto nicht besichert. Den letzten Kick erhielt diese Entwicklung durch den Sieg Deutschlands im französisch-deutschen Krieg 1870/71.23Die folgenden Reparationszahlungen führten nochmal zu einem wirtschaftlichen Aufschwung und explodierenden Börsenkursen. Die Folge war eine immense Überpoduktion und Ansammlung von industriellen Überkapazitäten, die ab Mai 1873 die Aktienkurse sinken ließen.
Die Donaumonarchie lag ebenfalls im Spekulationsfieber, das durch die Vorarbeiten zur Weltausstellung zusätzlichen Auftrieb erhielt. Neue Brücken und Straßenbahnen wurden gebaut, die Donauregulierung angegangen, der Nordbahnhof angelegt und am Schwarzenbergplatz der Hochstrahlbrunnen errichtet. In Erwartung „hoher Gäste“ wie des Schah von Persien wurde der Prater „sandlerfrei“ gemacht, eingesessene Wirtshäuser in den Ruin getrieben, und von neuen das schnelle Geld gemacht: Fiaker verlangten für die Fahrt in den Prater bis zu 40 Gulden, ein Reporter berichtete über ein Backhendl um 120 Gulden.
Am 1. Mai 1873 erfolgte die feierliche Eröffnung der Weltausstellung. Bereits nach wenigen Tagen war klar, dass die Erwartungen völlig überzogen waren. Statt der geplanten 20 Millionen besuchten insgesamt 7 Millionen Menschen die Ausstellung, schon nach wenigen Tagen mussten beteiligte Firmen den Konkurs anmelden. Im Mai kündigte weiters die Wiener Credit-Anstalt wegen „negativer politischer Nachrichten aus Frankreich“ alle Börsendepots und schränkte die Auszahlung von Bargeld ein. Weitere Banken folgten, die Börsekurse brachen ein, und bald meldeten die ersten Banken den Bankrott an.
Im Oktober begann der Bankenkrach in Berlin. Gleichzeitig hatte Frankreich die letzte Rate an Reparationszahlungen überwiesen, wodurch auch diese Einnahmequelle ausfiel. Allein in Deutschland und Österreich wurden schließlich 60 Banken zahlungsunfähig.
Die folgenden Produktionssenkungen bewirkten eine große Anzahl an Entlassungen, und damit einen Rückgang der Konsumtionskraft. Wer konnte, wanderte nach Amerika aus. Die Krise dauerte – als „Große Depression“ bezeichnet – bis zum Ende der 1880er Jahre an. In dieser gesamten Zeit kam es zu keinem nennenswerten Wirtschaftswachstum.
Aber auch in den USA kam es zeitgleich zu einer Wirtschaftskrise, und der wirtschaftliche Niedergang erreichte seinen Tiefstpunkt 1878. Erst im folgenden Jahr trat – aber nur – in den USA und England eine Besserung der Wirtschaftslage ein. Der US-Ökonom Nicholas Gregory Mankiw behauptet gar, die große Depression in den USA sei erst mit den Goldfunden am Klondyke beendet worden.24
Weltwirtschaftskrise 1929 – nichts gelernt
Als die Überproduktion bereits längst wieder Realität geworden war, behaupteten bürgerliche „Experten“ immer noch, der Kapitalismus sei nunmehr in eine stabile Phase eingetreten. Mitte 1929 erschien in New York das zweibändige Werk „Recent Economic Changes“, in dem US-Ökonomen anhand eines gewaltigen Zahlenmaterials „bewiesen“, dass die Vereinigten Staaten in eine Phase nicht endender Prosperität eingetreten seien. Als Grundpfeiler dieser These wurden „der gewaltige Reichtum des Landes“ und die „unersättliche Nachfrage“ genannt.
Prosperität für immer oder nach einer größeren Konjunktur kommt eine größere Krise
Aber bereits im Frühsommer 1929 erlahmte die Nachfrage nach Produktionsmitteln, es wurden deutlich weniger Maschinen, Ausrüstungen etc. angeschafft. Und schließlich wurde auch die Produktion in der Konsumgüterindustrie, speziell auch in der noch jungen, bis dahin rasant wachsenden Automobilindustrie zurückgefahren. Als deutlich wurde, dass die an der Börse gehandelten Aktien keine Dividenden mehr abwerfen würden (weil die Unternehmen keinen Profit mehr machten), brach die Börse ein, um schließlich am 24. Oktober 1929, am berühmten „schwarzen Freitag“ (der tatsächlich ein Donnerstag war, bloß kam die Nachricht erst am nächsten Tag in Europa an) zusammenzubrechen. Die „ewige Prosperität“ hatte gerade ein halbes Jahr ihren Schein aufrecht halten können.
Die Weltwirtschaftskrise 1929 begann weder in diesem Jahr, noch wurde sie von einem Börsencrash ausgelöst. Im Gegenteil, der crash war eine Folge der Überproduktion in der „Realwirtschaft“, eine notwendige Wertberichtigung der an der Börse gehandelten Eigentumsrechte an den Unternehmen, die Verluste schrieben.
Die Ursachen dieser bis dahin größten kapitalistischen Wirtschaftskrise gehen viel weiter zurück. Der vor allem in Europa geführte 1. Weltkrieg verschaffte den USA und südamerikanischen Staaten neue Märkte, weil kriegsbedingt die Produktion in Europa zurückging. Das Ende des Krieges und die anlaufende Produktion in den europäischen Staaten führte zu einem Überangebot, das wiederum zu deutlich fallenden Preisen führte.
Nun produzierten die USA verstärkt für den Binnenmarkt und bauten die Produktionskapazitäten für die neuen Konsumgüter wie Autos, Kühlschränke, Fotoapparate aus. Ende der 20er Jahre war dieser Markt dann gesättigt. Aber mit dem Aufschwung hatte sich auch ein Spekulationsfieber entwickelt, das breite Gesellschaftsschichten erfasste. In Erwartung ständig steigender Börsenkurse nahmen Menschen Kredite zu teilweise horrenden Zinssätzen auf, um Aktien erwerben zu können. Mit der Marktsättigung im Konsumgüterbereich standen die Zeichen an der Börse dann auf Abschwung, Spekulanten stießen ihre Aktien ab, um sich vor dem Schlimmsten zu retten, und beschleunigten damit den Kursverfall der Wertpapiere.
Eugen Varga hatte bereits im Jänner 1929 festgestellt, dass „die starken Widersprüche im amerikanischen Wirtschaftsleben durch die kurze Depression im vorigen Herbst nicht einmal eine vorübergehende Lösung gefunden haben, dass die Überproduktion im Automobilbau und im Bauwesen weiter droht und ein Börsencrash früher oder später unvermeidlich ist.“ Und weiter schrieb er, dass „ein neuer Weltkrieg immer greifbarer heranrückt.“25
Demgegenüber steckten die Kapitalisten die Köpfe in den Sand und übten sich in Zweckoptimismus: „Am 30. Oktober (1929) erklärte der alte Rockefeller, die Krise sei definitiv überwunden! Die Geschäftslage sei vollkommen zufriedenstellend und die meisten Papiere ständen auch heute noch viel zu niedrig.“26
Varga erklärte die „ökonomische Basis dieser alles in der Geschichte übersteigenden Spekulation“ damit, dass es aufgrund der „herrschenden Stellung des Monopolkapitals in der Produktion fast unmöglich“ war, in der Industrie die Durchschnittsprofitrate für angelegtes Kapital zu erhalten. „Entweder sind die Rohstoffquellen in Monopolbesitz“, was zu überhöhten Rohstoffpreisen führte, oder „man braucht so riesige Summen zur Schaffung eines neuen konkurrenzfähigen Unternehmens, die sich mit Umgehung des Finanzkapitals nicht beschaffen lassen“, man also wiederum nicht um das Monopolkapital herumkommt. „Die kleinen Kapitalisten müssen sich also mit Zins begnügen oder durch Börsenspekulation ihr Glück versuchen.“
Die Aufwärtsbewegung an der Börse wertete Varga als konjunkturverlängernd, denn durch sie hatten auch kleinere und mittlere Anleger profitiert und damit war die Konsumtionskraft der Gesellschaft erhöht worden. Er schränkte aber ein: „Diese Konsumtionskraft war ökonomisch nicht real, sie entsprang nicht der Schaffung von neuem Wert durch Produktion. Trotzdem wirkte sie auf dem Warenmarkt als Erhöhung der Nachfrage, verlängerte die Dauer der Hochkonjunktur, indem die bestehende Disproportion zwischen Produktion und Konsumtionskraft der Gesellschaft dadurch verdeckt wurde; umso größer wurde die Disproportion; umso schwerer die Krise.“
Für Varga ist die „Realwirtschaft“ ausschlaggebend für die kapitalistischen Krisen, und die Krise von 1929 ist für ihn die erste große Wirtschaftskrise in der Epoche des Imperialismus, des monopolistischen Kapitalismus: Industrie- und Bankkapital sind immer verflochtener, die großen Banken kennen daher die Lage der einzelnen Unternehmen und „es besteht die Möglichkeit, rechtzeitig einzugreifen“. Für vertikal strukturierte Konzerne (d.h. Unternehmen, die ihre eigenen Produkte an ihre eigenen Tochterfirmen weiter verkaufen) macht es keinen Sinn, Kredite zurückzufordern, wo nichts zurückzufordern ist. Sie würden sich selbst in den Bankrott treiben.
Die Krise 1929 hatte in der Realwirtschaft begonnen, sich an den Börsen fortgesetzt, aber noch nicht den Bankensektor erreicht. Im April 1930 schrieb Varga: „Die starke Entwicklung des bargeldlosen Zahlungsverkehrs vermindert die Möglichkeit bzw. Notwendigkeit einer Geldkrise im engeren Sinn. Dies bedeutet keinesfalls, dass im weiteren Verlauf der Krise keine allgemeine Kreditkrise mit weit gehenden Zusammenbrüchen eintreten könnte.“27
Dies hatte Varga im April 1930 geschrieben. Im Juli 1931 brach in Deutschland die Kredit- und Bankkrise aus. Eine knappe Darstellung liefert Kurt Gossweiler: „Am Sonnabend, dem 11. Juli 1931 musste die Danatbank (= Darmstädter und Nationalbank, damals eine der deutschen Großbanken und einer der Hauptkonkurrenten der Deutschen Bank, damals DeDi-Bank d.h. Deutsche Bank und Disconto-Gesellschaft – Corell) ihre Zahlungsunfähigkeit erklären; am folgenden Tage, dem 12. Juli, wurde offenbar, dass auch die Dresdner Bank gestützt werden musste; am 13. Juli setzte – nachdem die Danatbank ihre Schalter geschlossen hatte – ein ‚run’ der in Panik geratenen Anleger auf die Kassen der übrigen Banken ein, um ihr Geld zu retten. Diesem Ansturm waren die Banken nicht gewachsen, die Regierung erklärte deshalb den 14. und 15. Juli zu Bankfeiertagen, an denen die Schalter aller Banken geschlossen blieben. Auch nach diesen Vollfeiertagen wurden die Auszahlungen der Banken durch Notverordnungen auf Bruchteile der Einlagen begrenzt; erst am 5. August 1931 erfolgte die Rückkehr zu unbegrenztem Zahlungsverkehr der Banken.“28Fast alle Großbanken mussten staatliche Hilfe in Anspruch nehmen, um einem Konkurs zu entgehen, die bankrotten Großbanken (Dresdner und Commerzbank) wurden verstaatlicht, an der Deutschen Bank übernahm der Staat über 35% des Aktienkapitals.
Dass die Krise nicht in der Spekulationssphäre begann, zeigen Daten zur Entwicklung der Produktion: In den USA stiegen die Börsenkurse trotz einer Stagnation in der wirtschaftlichen Entwicklung bis Mitte 1928 extrem an, d.h. die Realwirtschaft befand sich längst in der Krise, als an den Börsen noch gefeiert wurde.
In Deutschland war 1929 bereits ein Schrumpfen der Wirtschaft um 2% zu verzeichnen, die Krise in der Produktion hatte aber bereits früher begonnen. Die Bankenkrise setzte aber erst 1931 ein. Bis 1932 halbierte sich die Industrieproduktion, die Aktien verloren zwei Drittel ihres Wertes.29
Zwischen den Krisen –
„Nie wieder Deflation“
Nachdem die Weltwirtschaft bereits drei Jahrzehnte lang dahindümpelte und im Prinzip nur noch durch zunehmende Spekulation eine Weltwirtschaftskrise hinausgeschoben wurde, nach dem Platzen der dotcom-Blase und dem beginnenden Boom, der durch die spätere Hypothekenkrise finanziert wurde, erklärte Jahr 2002 der Gouverneur der US-Federal Reserve Bank, Ben Bernanke, dass die Gefahr einer Deflation in den USA „in voraussehbarer Zukunft extrem niedrig“ sei. Grund dafür sei „die Strapazierfähigkeit und strukturelle Stabilität der US-Wirtschaft selbst. Über Jahre hat die US-Wirtschaft eine bemerkenswerte Fähigkeit gezeigt, Schocks aller Art abzuwehren, sich wiederzufinden und zu wachsen. Flexible und effiziente Märkte für Arbeit und Kapital, eine Tradition des Unternehmertums, und ein allgemeiner Wille, technologische und ökonomische Veränderungen zu tolerieren und sogar zu begrüßen, tragen zu dieser Strapazierfähigkeit bei. Vor allem ein wichtiger schützender Faktor in der gegenwärtigen Umwelt ist die Stärke unseres Finanzsystems: Trotz des Schocks des vergangenen Jahres (9/11) blieb unser Bankensystem gesund und gut reguliert, und die Bilanzen sind allgemein in einer guten Verfassung.“30
Was Bernanke bei seiner Einschätzung der „Stabilität der US-Wirtschaft“ übersehen hat, ist die mangelnde Konsumtionskraft, die bereits 2002 am seidenen Faden der Kreditfähigkeit der amerikanischen ArbeiterInnen hing.
Die „Abwehr von Schocks“ bewerkstelligte die US-Wirtschaft durch immer neu generierte Blasen, die nichts anderes als (absurde) Hoffnungen auf zukünftigen Gewinn sind. Aber wo keine Konsumtionskraft, da keine Möglichkeit, produzierte Waren abzusetzen, und damit keine Möglichkeit, Profite zu erzeugen. Hoffnungen allein machen niemand satt, und genauso wenig schafft die Hoffnung auf Gewinne tatsächlich Gewinne.
Das jahrelange Hinauszögern des Ausbruchs dieser Krise hat zu einem enormen Überhang an fiktiven Werten (z.B. hohe Börsenkurse) geführt, die nun berichtigt werden müssen. Stattdessen wird das letzte „Familiensilber“ (die Reserven der Federal Reserve) auf den Markt geworfen (und im Gegenzug wertlose Hypothekarkredite genommen), wodurch der crash nur noch einmal hinausgezögert wird.
Heute ist Bernanke Chef der Fed, die „strukturelle Stabilität der US-Wirtschaft“ zeigt schwere Defizite, der Arbeitsmarkt bricht ein, und von einer „Stärke des US-Bankensystems“ wagt niemand mehr zu sprechen. Mit 0,2% Inflationsrate stehen die USA am Rande zur Deflation, und Bernanke hat alle Hände voll zu tun, diese – auch um den Preis einer galoppierenden Inflation und eines stark fallenden Dollarkurses, der letztlich dazu führen wird, dass der Dollar seine Funktion als Weltwährung einbüßt – zu verhindern.
III. Wessen Krise
Kapitalistische Krisen sind immer Ausdruck eines Missverhältnisses von Angebot und Nachfrage, eine Stockung der Verwertung des Kapitals. Damit bezieht sich der Begriff „kapitalistische Krise“ auf den Wert. Für uns, diejenigen, die diese Werte produzieren, stellt sich aber die Frage nach dem Gebrauchswert der Produkte, die wir schaffen, denn der Zweck menschlicher Güterproduktion ist letztlich die Befriedigung bestimmter Bedürfnisse.
Die Kosten der Krise werden letztendlich auf die arbeitenden Klassen, die ProduzentInnen, abgewälzt – selbst wenn einzelne Kapitalisten Bankrott anmelden müssen, so bedeutet das für die Belegschaften Arbeitslosigkeit. Und selbst die Prosperität (zumindest einzelner Branchen) kann für uns eine Krise darstellen. Das beginnt nicht bei der „Sockelarbeitslosigkeit“ in Phasen der Hochkonjunktur, wie wir am Beispiel der Hungerrevolten im Frankreich der 1840er Jahre sehen.
1846/47 – Hungerrevolten in Frankreich31
Oberflächlich betrachtet war der Grund für die Hungerrevolten in den Missernten der Jahre 1846 und 1847 und der Kartoffelkrankheit, die dieses Grundnahrungsmittel ungenießbar machte, zu denen im 2. Jahr noch ausgedehnte Überschwemmungen kamen, zu suchen. Doch die Betroffenen machten andere für die miserablen Zustände verantwortlich. Die Nahrungsmittelknappheit wurde verschärft durch die Versuche der Händler, Getreide zu exportieren, und dagegen richtete sich dann auch der Protest, der rasch in aktiven Widerstand umschlug.
Selbst die zeitgenössische bürgerliche Presse gesteht zu, dass der Hunger der Jahre 1846/47 nicht allein auf Missernten zurückzuführen ist: „Die gegenwärtige Hausse hat zwei Ursachen, eine reelle, ernsthafte und eine künstliche. Die erste geht auf das Defizit der Ernte zurück; die zweite überlagert die erste und verschärft sie, um Spekulationsgewinne daraus zu ziehen. Tatsächlich besteht überhaupt kein Verhältnis zwischen dem Preis des aus dem Ausland importierten Getreides einschließlich der Transportkosten und dem Preis, zu dem es auf unseren Märkten verkauft wird.“
Die verbreitetste Form der Revolte war die „Behinderung der Getreidezirkulation“: „Am 19. August 1846 umstellen Frauen, bewaffnet mit großen Knüppeln, den Markt von Beaujeu (Rhone), um die Großhändler gewaltsam daran zu hindern, Getreide aufzukaufen, das den Einwohnern für deren Privatbedarf vorbehalten bleiben soll.“ Die französische Presse ist sich darin einig, dass Frauen die Spitze der Bewegung stellen, sie postieren Wachposten auf Straßen, die den Abtransport von Getreide verhindern, und setzen den Preis des Getreides selbst fest. Damit beziehen sie sich auf die Revolution von 1789, als ebenfalls ein „Preismaximum“ durchgesetzt wurde.
Zusätzlich wird mit Brandstiftung gedroht: „An den Mauern von Le Mans werden anonyme Zettel angeschlagen, auf denen der Präfekt und der Bürgermeister im Namen der Arbeiter gewarnt werden, man werde, wenn das Brot nicht am 2. Oktober (1846) um 50 Centimes billiger wird, an den vier Ecken der Stadt Feuer legen, damit die Sache heiß zu Ende geht.“
Die Unruhen beginnen in den Kleinstädten und breiten sich rasch auf die Fabrikstädte und die Hauptstadt aus. „Vom 30.9. bis 2.10.1846 finden in Paris im Faubourg Saint-Antoine, einem Zentrum der Pariser Industrie, die ersten größeren Lebensmittelunruhen städtischen Typs statt, ausgelöst durch die Nachricht von der Heraufsetzung der Taxe für das Brot auf 43 Centimes pro Kilogramm per 1.10.“ Die ArbeiterInnen werfen den Bäckerläden vor, das Brot zu horten, bis die Preiserhöhung in Kraft tritt, vor zwei Bäckerläden kommt es zum Tumult. „Anfangs 200 Personen, Arbeiter aus den Werkstätten und Frauen, die sich unter die Männer mischen, lassen sich durch die herbeigerufene Munizipalgarde nicht zerstreuen“, und „zwischen 10 und 11 Uhr abends werden mehrere Läden verwüstet und geplündert.“ Die allgemeine Forderung lautet „le pain a 12 sous!“, das Brot soll 12 Sous kosten, was einem Kilopreis von 30 Centimes entspricht.
„Das Pflaster wird aufgerissen, die öffentliche Gasbeleuchtung in der Rue du Faubourg St. Antoine und in den angrenzenden Seitenstrassen wird systematisch zerstört, und zahlreiche Scheiben gehen zu Bruch. In der Höhe der Rue Lenoir beginnt man mit dem Bau von Barrikaden. Während der ganzen Zeit verlangen die Frauen nach Brot, die Arbeiter singen die Marseillaise, die Kinder werfen mit Steinen.“
In der Folge wird der gesamte Bezirk von Militär besetzt, die Polizei provoziert Zusammenstösse und nimmt willkürliche Verhaftungen vor. Die Unruhen dauern bis zum 4. Oktober, das Nachspiel findet vor Gericht statt. Die Presse weist auf „ausländische Rädelsführer“ hin, die schließlich abgeschoben werden. Die meisten von ihnen sind deutsche Arbeiter-Handwerker, die nach Paris immigriert waren.
Die Unruhen dehnen sich über ganz Frankreich aus, und überall findet sich ein ähnliches Muster: ArbeiterInnen, Jugendliche, Kinder rotten sich zusammen, teils maskiert, überfallen Getreidetransporte, setzen selbst den Preis fest und verteilen das Getreide untereinander. Dazu kommen Brandstiftungen sowie Drohungen gegen und Überfälle auf Händler, Müller, Bäcker. In Rennes wird ein Schiff, das Getreide geladen hat, gestoppt, und über mehrere Stunden wird die Ladung abtransportiert, die Presse spricht von einer „organisierten Plünderung, um den Export zu verhindern“. Als schließlich Militär eintrifft, steht es „einer feindlichen Menge von 2.000 Personen gegenüber“. Verhaftungen werden oft unter Einsatz von Gewalt verhindert, die Polizei schießt auf die Plünderer, es gibt Tote.
Gelegentlich werden die Häuser der Spekulanten geplündert oder diese gezwungen, die Menge zu bewirten und das Getreide zu einem selbst bestimmten Preis abzugeben: „Mehrere Leute zogen durch die Stadt und legten in allen Häusern der Wohlhabenden Listen vor, die mit folgenden Worten begannen: Ich, der Unterzeichner, verpflichte mich, dem Publikum allen Weizen, den ich besitze, zu 1 Francs 50 je Dekaliter und die Gerste für 1 Francs zu verkaufen.“
Angesichts der um sich greifenden Unruhen fordern schließlich auch Teile der Bourgeoisie eine Regulierung der Getreidepreise – nicht, weil sie plötzlich ihr Mitgefühl für die ArbeiterInnen und Armen entdeckt hätten, sondern weil sie an einer billigen Reproduktion ihrer Arbeitskräfte, sprich niedrigen Lohnkosten interessiert sind. Die Revolution von 1848 in Frankreich versucht, die Interessen der ArbeiterInnen mit denen der Bourgeoisie unter einen Hut zu bekommen, Louis Blanc: „Wir plädieren hier nicht nur für die Sache des Volkes, wir plädieren auch für die Sache der Bourgeoisie. Ist nicht auch sie interessiert an der Veränderung des Regimes, das den mittleren Handel, die mittlere Industrie, das mittlere Eigentum geradewegs erdrückt? Droht die Konzentration des Kapitals ihr nicht das Joch einer wahrhaften Finanzoligarchie aufzuerlegen? Seien wir überzeugt, alle Interessen sind solidarisch miteinander vereinbar. Volk und Bourgeoisie sollten, wenn die soziale Wissenschaft nur recht verstanden würde, eine einzige Familie bilden.“ So betrachtet ist diese Revolution nichts anderes als „eine Eindämmung der antikapitalistischen Bewegungen und Revolten“ der Jahre 1846/47, das „Ende der Sozialbewegungen des frühen 19. Jahrhunderts“.
1911 – Aufstand in Ottakring32
Der Zolltarif des Jahres 1906 schrieb hohe Agrarschutzzölle und Einfuhrverbote von Lebensmittel aus dem ungarischen Teil der Habsburgermonarchie in den österreichischen Teil vor. Diese im Interesse der ungarischen wie der österreichischen Großgrundbesitzer und -agrarier verabschiedeten Gesetze sorgten dafür, dass in Österreich, das aufgrund seiner strukturellen und technologisch rückständigen Landwirtschaft auf Importe angewiesen war, die Nahrungsmittelpreise hoch gehalten werden konnten, auch in Zeiten guter Konjunkturlage wie 1910/1911. Dazu kamen aufgrund der Wohnungsnot ständig steigende Mieten in den Mietskasernen der Vorstädte.
Die Arbeiter-Zeitung vom 19.9.1911 brachte es so auf den Punkt: „Durch die Teuerung wurde die Kaufkraft des Geldes um wenigstens ein Drittel verringert. Früher hat der Arbeiter mit seiner Familie ein Zimmer und eine Küche allein bewohnt; heute muss er die enge Wohnung mit zwei Bettgehern teilen. Er hat früher dreimal wöchentlich ein Stück Rindfleisch gegessen; heute kann er sich diesen Luxus nur noch einmal wöchentlich erlauben. Er hat früher ein paar Heller für einen Sonntagsausflug, für sein Glas Bier, für ein paar Zigaretten erübrigt; heute muss er all dem entsagen, wenn er nur seine Kinder notdürftig ernähren will.“
Die seit dem Sommer 1911 rasant ansteigenden Lebensmittelpreise sorgten für Empörung in der Bevölkerung, der Simmeringer Lebensmittelmarkt musste von der Polizei bewacht werden, um Plünderungen zu verhindern. In den Zinskasernenvierteln kam es immer wieder zu Spontankundgebungen gegen die Hausbesitzer. Am 9. September 1911 demonstrierten hunderte Personen gegen die Mieterhöhung vor einem Zinshaus. Als die Polizei einschreiten wollte, wurden die Beamten aus den Nachbarhäusern mit Gegenständen beworfen, anschließend Fensterscheiben eingeworfen und Straßenlaternen zerstört.
Für den 17. September 1911 rief die Wiener Sozialdemokratie zu einer Demonstration gegen die Teuerungen auf. Was als Ventil gegen den angestauten Unmut gedacht war, geriet rasch außer Kontrolle. Seit dem frühen Morgen versammelten sich an die 100.000 Menschen in ihren Vierteln und marschierten dann zum Rathausplatz. In der gesamten Innenstadt waren tausende Polizisten und Soldaten zusammengezogen worden, und als die Kundgebung gegen 11 Uhr offiziell beendet wurde, versuchten einige Bezirksgruppen, in die Innenstadt vorzudringen.
Am Hof war Kavallerie stationiert worden, gegen die die Menge zuerst vorging. Sozialdemokratische Abgeordnete versuchten abzuwiegeln, die Berittenen wurden zurückgezogen, und die Situation beruhigte sich. Gegen Mittag begann dann die Räumung des Rathausplatzes von den verbliebenen, mehreren tausend DemonstrantInnen unter Einsatz von berittener Polizei. Sofort wurde daraufhin das Rathaus mit Steinen beworfen, bis in den 1. Stock blieb kein Fenster ganz. Herbeieilende Polizisten wurden von einem benachbarten Gasthaus aus mit Bierkrügeln, Steinen, Tellern und Sesseln beworfen, den Pferden der Berittenen wurden Stöcke zwischen die Vorderbeine geworfen, mit Bänken aus dem Rathauspark erste Barrikaden gebaut. Ein sozialdemokratischer Abgeordneter, der einem Polizeikommissär zu Hilfe eilte, wurde von aufgebrachten DemonstrantInnen mit Stockhieben attackiert.
Erst nach langen Auseinandersetzungen konnte die Polizei die Menschen in die benachbarte Josefstadt abdrängen. Nun wurden die Lerchenfelderstraße und die Burggasse beim Rückzug der Menge nach Ottakring systematisch zerstört, Auslagen von Geschäften eingeschlagen und alle Gaslaternen zertrümmert, das Amtshaus im 8. Bezirk angegriffen und versucht, das Wachzimmer in der Schottenfeldgasse zu stürmen. Trotz der permanenten Angriffe durch die Polizei wurden Geschäfte geplündert.
Als sich die Aufständischen Ottakring näherten, wurden als strategisch wichtig erachtete Gebäude von Truppen umstellt und beschützt, darunter die Tabakfabrik und die Remise der städtischen Straßenbahn. Auf dem Gürtel und in der Panikengasse waren bereits Straßenbahnwaggons umgeworfen und in Brand gesetzt, Barrikaden errichtet worden. Auf der Schmelz wurde die Manner-Schokoladefabrik angegriffen. Überall, wo Militär auftauchte, wurde es mit Steinen, Eisenstücken usw. beworfen und mit Stöcken angegriffen. Unausgesetzte Straßenräumungen mit blanker Waffe zeitigten wenig Erfolg, da sich die DemonstrantInnen blitzschnell zurückzogen, sich an anderen Stellen wieder formierten und ihre überlegene Ortskenntnis ausspielten.
Immer wieder sammelten sich Gruppen von Aufständischen, griffen Polizei und Militär an, und lösten sich rasch wieder auf. Unterstützt wurden sie von den BewohnerInnen der umliegenden Häuser, die Gläser und was sie sonst hatten auf die Beamten warfen. Der ganze Bezirk Ottakring war auf den Beinen. Die Leute ließen sich auch nicht einschüchtern, als das Militär über ihre Köpfe hinweg Salven abfeuerte und mindestens drei Demonstranten durch Querschläger getötet wurden.
Gruppen von Jugendlichen griffen nun, unterstützt von ihren Müttern, die Schulen im Bezirk an. Kataloge, Bücher, Hefte wurden auf die Straße geworfen und angezündet, anschließend so manche Schule selbst in Brand gesteckt und die eintreffende Feuerwehr am Löschen gehindert.
Die Kämpfe dauerten bis in die Abendstunden an, bis der gesamte, in völliger Dunkelheit liegende Bezirk Ottakring militärisch besetzt wurde: „Auf dem Hofferplatz ist das Hauptquartier der bewaffneten Macht. Dort stehen Infanteristen, die Gewehre in Pyramiden zusammengestellt und große Massen Kavallerie. Im Dunkel der Nacht vermeint man, ein ganzes Heerlager vor sich zu haben.“
Was für die bürgerliche Presse reine Exzesse waren, entbehrte nicht einer gewissen Logik. Die öffentliche Beleuchtung wurde zerstört, weil sie vor allem Überwachungszwecken diente. In den angegriffenen Schulen, Kommissariaten und Gebäuden der Verwaltung wurden gezielt Zeugnisse, Hausordnungen und Arbeitsverordnungen, Gesundheitsatteste etc. vernichtet, die ebenfalls als Mittel der Disziplinierung der BewohnerInnen und der Verwissenschaftlichung der Verwaltung begriffen wurden.
Kämpfe der Wobblies
Die Industrial Workers of the World33
Brand Hall, Chicago, 27. Juni 1905. „Dies ist der kontinentale Kongress der Arbeiterklasse. Wir sind hier, um die Arbeiter dieses Landes zu einer Arbeiterbewegung zusammenzuschließen, deren Ziel die Befreiung der Arbeiterklasse von der kapitalistischen Sklaverei ist“, so Big Bill Haywood auf der Gründungskonferenz der IWW, „Industrial Workers of the World“.
Neben Haywoods eigener Gewerkschaft, der Western Federation of Miners (WFM), waren Bergleute aus Kansas, Schneider aus San Francisco, Drucker aus Schenectady, Pförtner aus Chicago, Hafenarbeiter aus Detroit und Hoboken, Schmiede aus Pullman, Brauereiarbeiter aus Milwaukee und Kürschner aus Montreal als Delegierte gekommen. Unter den Hauptrednern waren die beiden berühmtesten revolutionären Sozialisten Nordamerikas: Eugene Debs und sein alter sektiererischer Widersacher Daniel De Leon. Andere prominente Unterstützer waren Mother Jones von der Bergarbeitergewerkschaft und A.M. Simons, der Herausgeber der International Socialist Review.
Der Aufruf zum Kongress war von der WFM ausgegangen. Wie Haywood den Genossen ins Gedächtnis rief, hatten die Minenarbeiter seit 1892 in den Rockies einen brutalen Arbeitskampf geführt: „Es gab keinen Streik der WFM, bei dem wir nicht mit der Miliz konfrontiert gewesen wären.“ Im Gegensatz zur American Federation of Labor (AFL) unter Samuel Gompers dinierte man in der WFM nicht mit Raubrittern, unterstützte nicht den US-Imperialismus oder bat Präsident Roosevelt darum, bei Arbeitskämpfen zu vermitteln. Wenn nötig, wussten ihre Mitglieder auch, wie man mit dem gefährlichen Ende einer Winchester 30-30 umzugehen hatte. Die Folge war, so bemerkte Haywood, dass „die Kapitalistenklasse dieses Landes die WFM mehr fürchtet als den ganzen Rest der Arbeiterorganisationen“.
Jetzt waren die Bergleute aus dem Westen in den Osten gekommen, um dabei zu helfen, eine neue Arbeiterorganisation aufzubauen, „die breit genug ist, um die gesamte Arbeiterklasse aufzunehmen“ – eine Organisation, darauf bestand Haywood – „die geformt, basiert und gegründet ist im Klassenkampf und die keinen Kompromiss und keinen Verzicht im Blick hat“. Die AFL, argumentierte Haywood, war keine Arbeiterorganisation, sondern ein auf Ausgrenzung beruhendes Kartell, das eine Elite von weißen, einheimischen Arbeitern vertrat. „Was wir diesmal aufbauen wollen, ist eine Arbeiterorganisation, die ihre Türen weit für jeden Mann [sic] öffnen wird, der seinen Unterhalt entweder durch seine Muskeln oder sein Gehirn verdient.“
In der eloquentesten Rede der Versammlung machte Lucy Parsonsklar, dass die neue Solidarität auch arbeitende Frauen umfassen müsse, „die Sklavinnen der Sklaven“. Sie zwang die Delegierten, ihre Augen „auf das fern gelegene Russland“ zu richten „und Mut und Zuversicht von jenen zu beziehen, die dort den Kampf führen, und von der weiteren Tatsache, die der Kapitalistenklasse in der ganzen Welt den größten Schrecken bringt - dass die rote Fahne gehisst worden ist“.
MigrantInnen: Nicht organisierungsfähig?
Wie der Historiker der Arbeiterbewegung, Philip Foner, gezeigt hat, sicherte die leidenschaftliche Solidarität der Wobblies mit der Revolte in Russland (1905) ihnen die Unterstützung von eingewanderten Arbeitern in den milltowns des Ostens, was den Weg für die zentrale Rolle der IWW in der lang andauernden Streikwelle von 1909 – 1913 ebnete. Zudem ließ der Zustrom von Hunderten ins Exil getriebener russischer, polnischer, finnischer und jüdischer Revolutionäre die Reihen der IWW kräftig anwachsen. Entgegen dem allgemeinen Stereotyp über die Wobblies als romantische Landstreicheranarchisten war die IWW tatsächlich ein außergewöhnlicher Schmelztiegel der internationalen revolutionären Traditionen.
Dies wurde während des Streiks von 1909, der der Anfang eines vier Jahre andauernden Aufstands der eingewanderten Arbeiterklasse bildete, auf dramatische Weise illustriert. In der berüchtigten Pressed Steel Car Company in McKees Rocks, Pennsylvania, wurde durchschnittlich ein Arbeiter am Tag durch einen Betriebsunfall getötet. Sechzehn verschiedene Nationalitäten schufteten in der Fabrik, und das Management baute auf die Bigotterie der im Land geborenen Handwerker gegenüber den immigrierten „Hunkies“ (abwertend für MigrantInnen aus der österreich-ungarischen Monarchie), um die Gewerkschaftsbewegung in Schach zu halten.
Als im Juli ein spontaner Streik ausbrach, erwarteten sowohl die Firmenleitung wie auch AFL-Funktionäre, dass er in einem oder zwei Tagen zusammenbrechen werde. Stattdessen bekämpften die im Ausland geborenen Arbeitskräfte unter der Führung der IWW 45 Tage lang Streikbrecher, die Coal and Iron Police und die lokale Gendarmerie. Dreizehn Streikende wurden getötet, doch die Arbeiter setzten ihre Forderungen durch. Das interne Streikkomitee war eine revolutionäre Internationale in Miniatur. Seine Mitglieder umfassten italienische Anarchisten und Sozialisten, einen russischen Sozialdemokraten, mehrere Überlebende des Massakers vom „Blutsonntag“ in St. Petersburg, schweizerische und ungarische Gewerkschafter, die auf der schwarzen Liste standen, wie auch einen Kader der altgedienten deutschen Metallarbeiter.
MigrantInnen: Abschieben?35
Zu dieser Frage äußerte sich J.W. Walsh, einer der engagiertesten Sprecher der IWW für die Organisierung von chinesischen und japanischen ArbeiterInnen, in der Zeitung der Wobblies:
Walsh stellte erstmal fest, dass die damals aktuelle Frage der Ausweisung (Abschiebung) „orientalischer“ (d.h. japanischer und chinesischer) MigrantInnen angeblich im Interesse der US-amerikanischen weißen arbeitenden Männer und Frauen gefordert wurde, und griff sowohl die AFL und andere Gewerkschaften an („es gibt prominente Vertreter der Arbeiterbewegung, die gelobt haben, der Satzung zu folgen, die besagt: ‚Keinem Lohnarbeiter soll wegen Rasse, Konfession oder Hautfarbe die Mitgliedschaft versagt werden’ und nach dem Gelöbnis stehen sie auf und treten für die Ausweisung eines bestimmten Teiles der Arbeiterklasse aus Amerika ein und beenden ihre Rede dann mit: ‚Arbeiter aller Länder, vereinigt euch!’“), als auch die Unternehmer („Tatsächlich arbeiten jetzt schon viele Elemente daran, dem ‚armen Arbeiter’ zu helfen. So wäre es kein Wunder, wenn wir eines Morgens aufwachen und merken, dass die Ketten der Lohnsklaverei vom Boss selbst aufgeschlossen wurden und das Weltproletariat nun im Zentrum der solidarischen Gemeinschaft steht, dort eigens hingestellt von den Industriekapitänen - kurz vor bzw. gerade zu dem Zeitpunkt, als Politiker wieder ihre krummen Wahltricks anwenden wollen.“). Dann legte er dar, dass die Forderung nach Abschiebungen im Interesse der Mittelschicht sei, die angesichts zunehmender Konkurrenz um ihre Geschäfte fürchteten.
Walsh weiter: „Nackte Tatsachen, über die sich die Arbeiterklasse Gedanken machen sollte: 1. Sie sind hier. 2. Tausende von ihnen sind Lohnarbeiter. 3. Sie haben dieselbe Ware zu verkaufen, wie andere Arbeiter: Arbeitskraft. 4. Sie sind genauso wie du darauf aus, soviel wie möglich zu kriegen. Das beweist schon die Tatsache, dass sie in dieses Land gekommen sind. Warum? Um ihre Bedingungen zu verbessern. Wenn wir davon ausgehen, dass dies alles Tatsachen sind - und keiner sollte sie in Frage stellen - wo liegt dann das Problem? In der gewerkschaftlichen Organisation dieser Leute. Zu behaupten, „du kannst diese Leute nicht organisieren“ ist falsch. Wir haben bewiesen, dass sie zu organisieren sind.“
Als Beispiel brachte Walsh u.a. den Streik der Sailor’s Union: „Natürlich weigert sich die Sailors’ Union, Japaner oder Chinesen zu organisieren, womit sie den Anweisungen der AFL nachkommt. Aber an dem Tag, als Mitglieder der Sailors’ Union einen Streik begannen, kam einer ihrer Vertreter dreimal zum I.W.W.-Gewerkschaftshaus und fragte nach einem Aktivisten. Was wollte er? Er sagte: ‚Wir haben gehört, dass ihr Japse organisiert habt?’ ‚Ja, einige von ihnen’, erwiderten wir, ‚aber nicht alle. Sie sind wie die Amerikaner - sie brauchen lange, bis sie ihr Arbeiterinteresse erkennen.’ ‚Also, was ich will, ist dies,’ meinte der Vertreter aus dem Hafen. ‚Wir machen einen Streik mit den Seeleuten, und wir haben gehört, dass ihr Japaner organisiert habt und dass die Schiffseigner Japse anheuern wollen, die unsere Plätze einnehmen sollen. Wir wollen, dass ihr die Japse daran hindert, unsere Jobs zu übernehmen.’
Unser Aktivist folgte dem Vertreter runter zum Hafen, wo das Dampfschiff Umatilla festgemacht hatte. Auf dem Weg vom I.W.W.-Haus zu den Docks sagte ich: ‚Eure Gewerkschaft weigert sich doch, Japaner und Chinesen zu organisieren.’ Natürlich brachte ihn das in eine peinliche (sic) Situation, und er rechtfertigte sich so gut er konnte. Wir erreichten die Docks und sahen, dass Rauch aus dem großen Schornstein kam. Ich sagte: ‚Warum? Ich dachte, du hättest gesagt, die Umatilla sei noch festgemacht.’ Er antwortete sofort: ‚Ja, ist sie.’ Ich erwiderte: ‚Wie kommt es dann, dass Rauch aus dem Schornstein kommt? Sie haben also schon einen streikbrechenden Heizer, oder?’ Seine Antwort kam wieder sofort: ‚Oh, nein! Sieh mal, der Techniker hat wohl eine Konzession von Uncle Sam und infolgedessen kann er die Arbeit nicht niederlegen.’ ‚Aha, ich verstehe,’ sagte ich, ‚er gehört zu keiner Gewerkschaft.’ ‚Doch, er gehört zur Gewerkschaft,’ meinte der Vertreter, ‚aber er muss weiterarbeiten oder er verliert die Konzession von der Regierung.’
Japaner sind zuverlässig, während ein AFL-Techniker den Streik bricht
Dann erklärte er mir, dass sie die Japaner am Streikbrechen hindern wollten und damit den Streik gewinnen könnten. Wir versicherten, dass wir alle Japaner und Chinesen, die der I.W.W. angehörten, raushalten würden, aber natürlich gäbe es noch Hunderte, die nicht dazugehörten. Wir könnten denen nichts vorschreiben, würden aber alles tun, um sie am Streikbrechen zu hindern. Dann sagte ich: ‚Mein Freund, wenn ihr Seeleute diesen Streik gewinnen wollt, müsst ihr eurerseits genausoviel tun, wie ihr das von den Japanern und Chinesen - über die Industrial Workers of the World - verlangt.’ Er erwiderte: ‚Ja, wir wollen gewinnen und wir tun unseren Teil.’
Wie wenig hatte er von dem kapiert, was ich gesagt hatte. Wie wenig von dem verstand er, was noch kommen sollte. Wie wenig ahnte er von der Macht der Unternehmerverbände. Das konnte man an seinem Gesicht ablesen, als ich sagte: ‚Diesen Streik zu gewinnen ist keine leichte Aufgabe. Wir müssen alle Japaner raushalten. Das wird die I.W.W. tun. Okay, und ihr zieht den streikbrechenden Techniker ab und der Streik ist gewonnen. Andernfalls ist er verloren.’ Seine Organisation konnte den Techniker nicht abziehen, aber die I.W.W. verhinderte, dass auch nur ein Japaner den Streik brach. Das ging so weit, dass sogar japanische Arbeitsvermittlungen Aushänge machten, auf denen die Japaner gewarnt wurden, die angebotenen Jobs anzunehmen. Hunderte Arbeiter im Hafen erkannten zu ersten Mal den Kern der Lehren der I.W.W. - das gemeinsame Interesse der Arbeiter der Welt.
Walsh las damit auch den US-amerikanischen ArbeiterInnen die Leviten und lehrte sie taktisches Verhalten: „In der Tidewater-Fabrik, Tacoma, arbeiteten japanische und ‚weiße’ Arbeiter für 1,75 Dollar am Tag. Die Japaner traten für zwei Dollar am Tag in den Streik und gewannen. Die ‚Weißen’ ließen ihre Köpfe hängen und arbeiteten weiter für 1,75 Dollar. Einige Wochen, nachdem die Japaner gewonnen hatten, sagten sie: ‚Wenn wir die amerikanischen Arbeiter für uns gewinnen, können wir 2,25 Dollar durchsetzen.’ Aber die ‚weißen’ Arbeiter waren mit 1,75 Dollar zufrieden, während die Japaner zwei Dollar bekamen. In welchem Ausmaß sie sich auf dem Arbeitsmarkt zurechtfinden und wissen, wie ein Streik zu gewinnen ist, zeigt der Bericht des Arbeitsministers des Staates Kalifornien.
Was der kalifornische Arbeitsminister zu sagen hat
Er sagt, dass die Japaner nicht streiken, dass sie im Gegenteil weiterarbeiten, wie auch immer die Bedingungen sein mögen und bis die Müßiggänger nicht mehr da sind. Und dann, gerade wenn die Früchte reif sind, wenn die Arbeit getan werden muss, legen sie die Arbeit nieder, fordern höhere Löhne und kürzere Arbeitszeit, ohne jede Rücksicht auf den Unternehmer. Mit anderen Worten, sie verhindern das Streikbrechen schon vor dem Streik. Der kalifornische Arbeitsminister hat recht.“
Schließlich erklärte Walsh, was passieren würde, wenn die „Orientalen“ tatsächlich ausgewiesen würden. Der Profit in den Baumwollspinnereien in Japan sei höher als in den USA, weshalb die US-amerikanischen Baumwollproduzenten an einer Auslagerung ihrer Produktion nach Japan interessiert seien. Er erläuterte eindringlich die Arbeitsbedingungen in Japan („In japanischen Fabriken wird täglich lange gearbeitet. Viele sind rund um die Uhr in Betrieb. Die 49 Textilfabriken bringen es durchschnittlich auf 28,2 Tage im Monat und 22 Stunden am Tag. Das ergibt im Schnitt für jede Fabrik insgesamt 620 Stunden im Monat. Auf den Sonntag wird dabei keine Rücksicht genommen. Die Spinnereien arbeiten auch an diesem Tag. In den meisten Fabriken gibt es zwei freie Tage, den 1. und den 15. des Monats. In vielen Fabriken starten die Maschinen am 2. des Monats um sechs Uhr und laufen dann ununterbrochen bis sechs Uhr morgens am 15. Dann starten sie wieder um sechs Uhr am 16. und laufen bis um sechs Uhr am 1.
Das geht an das maximale Leistungspotential der Maschinen heran. Es gibt keine Essenspause. Während die Hilfsarbeiter abwechselnd 30 Minuten Essenspause machen, übernimmt eine „Springer-Schicht“ die Plätze derjenigen, die gerade essen. Jeder Arbeiter arbeitet von sechs bis sechs mit 30 Minuten Essenspause. Die Nachtschicht beginnt um sechs Uhr abends.
Es gibt kein Gesetz gegen Kinderarbeit. Einige sehr junge Kinder arbeiten dort. Die Spinnereien wollen niemand unter 12 Jahren, weil die nicht genug schaffen, aber um genügend Arbeiter zu finden, müssen die Fabriken oft ganze Familien einstellen.
Die Spinnereien mobilisieren alles, um das Exportgeschäft auszuweiten. Sie haben die „Baumwollstoff Export Vereinigung“ gegründet, deren Ziel es ist, den Außenhandel mit Baumwollgütern unter ihre Kontrolle zu bekommen. Die Spinnereien sind übereingekommen, 1000 Ballen pro Monat auszuführen, um mit Amerika konkurrieren zu können - auch wenn sie dann mit Verlust verkaufen müssen.
Also auch vorausgesetzt, die Orientalen werden aus Amerika ausgewiesen, produzieren sie weiter auf der anderen Seite des Ozeans Güter. Und diese Güter konkurrieren mit anderen auf dem Weltmarkt.
Ein anderer Vorgang wird helfen, die Situation in der oben genannten Industriebranche begreiflich zu machen. Die Union Iron Works in San Francisco feuerten im Sommer 1907, zu Zeiten gutgehender Geschäfte, mehrere hundert Männer und legten damit den Schiffsbau in dieser Stadt mehr oder weniger still. Schwab Interests, die Firma, die diese Industrie kontrolliert, ließ verlautbaren, dass sie in diesem Land keine Schiffe mehr mit Profit bauen könnten. Gleich nach dieser Stillegung hörten wir, dass in Tokio eine große Schiffswerft eingeweiht wurde. Wir wissen zwar, dass die japanische Regierung ausländischen Investoren die Kontrolle über eine Industrie verbietet, aber wir wissen aus Erfahrung auch, dass die kriminellen Geschäftsmänner die Gesetze in Japan genauso umgehen können wie in den Vereinigten Staaten. Also investiert das amerikanisches Kapital in diverse Industrien im Orient.
Bread and Roses – von Siegen und Niederlagen36
Im Januar 1912 begann in Lawrence, Massachusetts ein Streik, der zu einem der symbolträchtigsten in der Geschichte der US-amerikanischen Arbeiterbewegung wurde. Er war einer der spektakulärsten Arbeitskämpfe der Industrial Workers of the World (IWW) in jener Zeit und widerlegte zugleich die von konservativen Gewerkschaftsführern der American Federation of Labor (AFL) aufgestellte Behauptung, Frauen und MigrantInnen, letztere häufig nahezu ohne Englischkenntnisse und gespalten in zahlreiche Nationalitäten, könnten nicht gewerkschaftlich organisiert werden.
Von 85.000 EinwohnerInnen von Lawrence arbeiteten mehr als 60.000 in der einen oder anderen Weise für die Textilindustrie, nahezu sämtliche EinwohnerInnen ab dem 14. Lebensjahr. Die Hälfte der direkt in den Fabriken Beschäftigten waren Mädchen im Alter zwischen 14 und 18 Jahren. Gearbeitet wurde 60 Stunden die Woche. Die ArbeiterInnen waren MigrantInnen, die erst aus England, Irland, Schottland und Kanada, später vor allem aus Italien, aber auch aus Griechenland, Portugal, Russland, Polen, Litauen, Syrien und der Türkei (ArmenierInnen) kamen. Die Löhne waren extrem niedrig und betrugen lediglich 22% der Umsätze, und dieses Verhältnis verschob sich bis 1905 auf 19,5%.
Als 1912 der Staat Massachusetts die gesetzliche Wochenarbeitszeit auf 54 Stunden begrenzte, bedeutete das für die ArbeiterInnen einen weiteren Lohnverlust. Am 11. Jänner erfolgten die ersten gekürzten Lohnauszahlungen, und sofort formierte sich ein spontaner Demonstrationszug von 2.000 ArbeiterInnen. Am nächsten Tag stürmten tausende ArbeiterInnen mit der Parole „Besser kämpfend sterben als hungernd arbeiten“ eine Textilfabrik nach der anderen und legten den Produktionsprozess lahm, immer mehr ArbeiterInnen schlossen sich der Demonstration an. Wenn die Polizei eine Fabrik absperrte, traten die ArbeiterInnen ebenfalls in den Streik, dem sich innerhalb weniger Tage 20.000 ArbeiterInnen anschlossen. Zwei Tage später war die Stadt in ein Heerlager verwandelt, Polizei und Miliz aus ganz Massachusetts wurden zusammengezogen.
Die IWW waren mit ihren 800 Mitgliedern die einzige handlungsfähige lokale Organisation, da sich die Textilgewerkschaften der AFL weigerten, EinwanderInnen aufzunehmen. Bereits am 10. Jänner hatte die IWW eine Versammlung mit 1.000 ArbeiterInnen durchgeführt, bei der beschlossen wurde, für den 12. Jänner zum Streik aufzurufen. Nun holten Mitglieder der italienischen Sektion der lokalen IWW Joseph Ettor, einen italienischstämmigen organizer, und Arturo Giovanitti von der italo-amerikanischen Zeitung „Il Proletario“ nach Lawrence.
Wenige Tage später formierte sich das von 25.000 ArbeiterInnen gewählte 60-köpfige Streikkomitee der IWW mit dem Ziel, die Aktionen zu koordinieren und den Forderungen der ArbeiterInnen nach einer substantiellen Lohnerhöhung zum Durchbruch zu verhelfen. Um die ArbeiterInnen jeglicher Herkunft in den Streik einzubeziehen, konnten die 15 am stärksten unter den ArbeiterInnen vertretenen Nationalitäten jeweils 4 Mitglieder in das Komitee wählen. Für jedes Mitglied des Streikkomitees wurde außerdem ein/e Stellvertreter/in gewählt, damit das Komitee jederzeit, auch bei größeren Verhaftungswellen arbeitsfähig bleiben konnte. Neben den Nationalitäten war außerdem die Belegschaft jeder der 12 bestreikten Textilfabriken im Komitee vertreten. Zusätzlich wurden Unterkomitees gebildet, etwa für Finanzfragen, Öffentlichkeitsarbeit etc. Die jeden Morgen stattfindenden Versammlungen des Streikkomitees waren öffentlich und die IWW schaffte es tatsächlich regelmäßig, die dort gehaltenen Diskussionsbeiträge in 25 Sprachen zu übersetzen, da sowohl die Mitglieder des Streikkomitees als auch die anderen, an dessen Sitzungen teilnehmenden ArbeiterInnen mehrheitlich kein oder nur wenig Englisch sprachen. Die für eine bestimmte Nationalität gewählten Mitglieder des Komitees waren den Versammlungen der ArbeiterInnen aus ihrem jeweiligen Land verantwortlich, die ebenfalls regelmäßig stattfanden und ihre Delegierten mit Voten und Arbeitsaufträgen für das Streikkomitee ausstatteten. Ein Forderungskatalog wurde aufgestellt, der die Forderung nach 15 Prozent mehr Lohn bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 54 Stunden sowie die Verdoppelung des Stundenlohns bei Überstunden beinhaltete. Die Bezeichnung „Streikkomitee der IWW“ bedeutete übrigens nicht, dass alle Mitglieder dieses Komitees IWW-Mitglieder gewesen wären. Die IWW hatte es initiiert, stellte ihre Erfahrung und ihre Organisation zur Verfügung, aber die meisten Mitglieder des Komitees waren zunächst keine Wobblies. Viele wurden es im Laufe des Streiks.
Die ArbeiterInnen mussten gegen die Unternehmer und gegen den Staat Massachusetts kämpfen. Auf das vom Gouverneur verhängte Versammlungsverbot reagierten sie mit einer Serie von Free-Speech-Versammlungen und permanenten Streikposten von bis zu 20.000 ArbeiterInnen, die jeden Tag und jede Nacht irgendwann und irgendwo an einem Blockadepunkt standen und sich im fliegenden Wechsel ablösten sowie Demonstrationen unter Begleitung von Musikkapellen, kurz: es war ein Mitmach-Streik, ein Milizoffizier bezeichnete ihn als „The Lawrence Revolution“ und legte dar, dass die Streikenden längst eine ArbeiterInnen-Gegenregierung geschaffen hatten und die Stadtverwaltung teilweise entmachtet war. Dagegen setzten Unternehmer und Staat auf nackte Repression, Streikposten wurden angegriffen, in Demonstrationszüge geschossen, vereinzelt angetroffene ArbeiterInnen zusammengeschlagen. Die AFL karrte tausende ArbeiterInnen als Streikbrecher herbei, die jedoch von den Streikenden vertrieben wurden. Nachdem die Nationalgarde am 29. Jänner eine Arbeiterin erschossen und viele andere verletzt hatte, wurden Etter, Giovanitti und ein völlig unbeteiligter Mann festgenommen.
Nach 9 Wochen, 335 Verhaftungen mit 320 Geld- oder Haftstrafen als Folge, in denen die Streikenden von einer belgischen Bäckerei wochenlang gratis mit Brot für 20.000 versorgt, von solidarischen Menschen in den USA mit 74.000 Dollar unterstützt worden waren, in denen Ärzte aus dem ganzen Land zur kostenlosen medizinischen Versorgung der Streikenden angereist waren, MigrantInnenvereine Solidaritätskampagnen durchgeführt hatten, endete der Streik. Das erste Angebot der Unternehmer (5% Lohnerhöhung) wurde auf einer Versammlung sofort abgelehnt, schließlich setzten die Streikenden Lohnerhöhungen zwischen 15% und 21% durch.
Erst am 26. November 1912 mussten die wegen Mord angeklagten Etter und Giovanitti und ihr Mitangeklagter in einem Schauprozess (die Angeklagten wurden in Metallkäfige eingesperrt) freigesprochen werden, nicht zuletzt wegen des eintägigen Solidaritätsstreiks von 15.000 TextilarbeiterInnen in Lawrence und einer internationalen Kampagne, bei der schwedische und französische ArbeiterInnenorganisationen mit dem Boykott von US-Waren drohten und italienische Gewerkschaften Demonstrationen vor US-Konsulaten organisierten.
Mit diesem Prozess erreichte die Mitgliederzahl der IWW in Lawrence mit 16.000 ihren Höchststand, aber unmittelbar darauf setzte der Niedergang ein. Die Stadt setzte bereits während des Soli-Streiks ein Demonstrationsverbot durch, die bürgerliche Presse und die katholische Kirche begannen eine groß angelegte Kampagne gegen die Wobblies. Bis Herbst 1913 sank die Mitgliederzahl auf 700. Heute hat auch die Textilindustrie für Lawrence keine Bedeutung mehr. Was blieb, ist die Hymne der proletarischen Frauenbewegung, „Bread and Roses“.37
Anmerkungen
1 wikipedia.de: Eugen Samuilovich Varga (ungarisch: Jen Varga, geboren am 6. November 1879 in Budapest; gestorben am 7. Oktober 1964 in Moskau) war ein marxistischer Wirtschaftswissenschaftler ungarischer Abstammung. Er studierte Philosophie und Wirtschaftsgeografie an der Universität Budapest. Ab dem Jahr 1906 publizierte er vor allem über ökonomische Themen. Vor dem Ersten Weltkrieg wurde er durch seine öffentliche Diskussion mit Otto Bauer über die Ursachen der Inflation in Österreich-Ungarn bekannt. Er gehörte damals zu den Anhängern Karl Kautskys.
Varga wurde 1919 Finanzminister der kurzlebigen ungarischen Räterepublik. Nach deren Sturz floh er nach Wien. Von dort ging er 1920 in die Sowjetunion, wo er für die Komintern arbeitete. Er spezialisiert sich auf internationale Wirtschaftsprobleme und Agrarfragen. In den Jahren 1922 bis 1927 war er in der sowjetischen Botschaft in Berlin in der Abteilung Handel tätig. In den 1930er Jahren war er Wirtschaftsberater Josef Stalins. Die Säuberungen dieser Jahre überstand er unbehelligt. Er war Mitglied der KPdSU als auch der Kommunistischen Partei Ungarns.
Varga war Autor der Wirtschaftsberichte für die Kongresse der Komintern von 1921 bis 1935. Er veröffentlichte viele Studien über die internationale Konjunktur, in denen er quantitative Entwicklungen in Produktion, Investition und Beschäftigung unter Nutzung offizieller Wirtschaftsdaten verschiedener Länder bewertete.
Im Jahr 1946 veröffentlichte er „The Economic Transformation of Capitalism at the End of the Second World War“. Er schrieb hier, dass das kapitalistische System stabiler sei, als bisher angenommen. Daraufhin wurde sein Institut geschlossen. In der zweiten Ausgabe der „Großen Sowjetischen Enzyklopädie“ wurde er als bürgerlicher Ökonom bezeichnet. Auch nach Stalins Tod waren die neuen Machthaber im Moskauer Kreml nicht an seinen Vorhersagen einer „notwendigen“ Wirtschaftskrise der Vereinigten Staaten interessiert, da sie eine Politik der friedlichen Koexistenz verfolgten.
Varga kehrte nicht in seine Heimat Ungarn zurück. Er war aber als Wirtschaftsberater von Mátyás Rákosi tätig. Seine Pläne für Wirtschaftsplanung, Preiskontrolle und Geldreform wurden von den ungarischen Kommunisten umgesetzt. Nach dem Sturz Rákosis beim Ungarischen Volksaufstand 1956 und der Regierungsübernahme durch János Kádár endete seine Beratertätigkeit.
Die folgende Darstellung folgt Eugen Varga, „Die kapitalistische Welt vor einer neuen Krise“, 1938
2 In Abteilung I können auch Maschinen produziert werden, die nicht der Produktion von Konsumgütern dienen, sondern der Produktion von Maschinen, die der Produktion von Konsumgütern dienen. Das ändert nichts an dieser Darstellung, sondern zeigt lediglich die Möglichkeiten, die der wissenschafltlich-technische Fortschritt mit sich bringt.
3 Dieser letztliche Zweck menschlicher Produktion führt unter kapitalistischen Bedingungen zwangsläufig zu völlig verdrehten Praxen und Erklärungsmustern. Die ProduzentInnen (also die Lohnarbeitenden) erkennen – aufgrund der Arbeitsteilung – nicht, dass sie selbst die Konsumgüter schaffen, die ihnen dann am Markt als Waren gegenüber stehen (d.h. sie müssen sich aneignen, was ihnen sowieso gehört). Die Kapitalisten wiederum beschäftigen Unmengen an „ExpertInnen“, deren Aufgabe es ist, neue Bedürfnisse zu schaffen, um so den Warenmarkt auszudehnen.
4 Um unterschiedliche Güter vergleichen zu können, müssen sie auf Vergleichbares reduziert werden. Das geschieht über das „allgemeine Äquivalent“, anders gesagt: Der Wert der Ware wird in ihrem Preis, in Geld ausgedrückt. Nun kann ich behaupten, dass der Preis eines Computers gleich ist dem Preis eines Fahrrades. Im Gebrauchswert unterscheiden sich Computer und Fahrrad allerdings erheblich, woraus ersichtlich ist, dass der Geldausdruck einer Ware eine krasse Reduktion des beschriebenen Gegenstands bedeutet. Vergleichbar ist also lediglich der Preis (Wert) der Waren, nicht ihr Inhalt (Gebrauchswert).
5 Im Kapitalismus steigt die Summe der Löhne und der konsumierten Profite (tendenziell) ständig an, bloß die Summe der Preise der produzierten Waren steigt rascher, weshalb sich das Verhältnis zwischen Konsumtionskraft und Warenangebot (in Preisen ausgedrückt) ständig zu Ungunsten des ersteren Werts verschiebt.
6 Für den einzelnen Kapitalisten wird es zusehends schwieriger, Prognosen über die Absatzmöglichkeiten seiner Produkte zu erstellen. Konzerne beschäftigen deshalb große Abteilungen damit, sich einen Überblick über den Markt zu verschaffen, ganze Branchen verdienen ihr Geld mit der gleichen Tätigkeit. Unkontrollierbarer werden aber auch Aspekte wie Liefersicherheit (Piratentätigkeit vor Somalia) und andere.
7 Wenn bürgerliche Ökonomen von „Plan“ sprechen, so meinen sie meist den Plan einzelner Unternehmen/Konzerne, was nichts mit einer geplanten Wirtschaft, dafür viel mit Konkurrenz zwischen den Kapitalisten zu tun hat. Andere Formen von „Plan“ betreffen etwa den Keynesianismus, d.h. staatliche Interventionen in den Marktablauf, die aber eher den Charakter von „Krisenfeuerwehr“ haben als den einer geplanten Ökonomie. Die Vorstellung von Monopolen, die aufgrund ihrer Einmaligkeit die Produktion und Distribution der Waren tatsächlich planen könnten, vergisst, dass auch Monopole kapitalistisch funktionieren, d.h. dass Profitstreben ihr einziger Zweck ist. Reformistische Sozialdemokraten haben deshalb unrecht, wenn sie die Monopolisierung (und Verstaatlichung, die nicht mit Sozialisierung zu verwechselt werden darf: Aufgrund einer Verstaatlichung ändert sich am Charakter des Staates als Herrschaftsinstrument des Kapitals gar nichts und ein verstaatlichter Betrieb funktioniert weiterhin wie ein privatkapitalistischer. Sozialisierung meint, die Produktion unter Kontrolle der ProduzentInnen und KonsumentInnen zu stellen und sie zu deren Bedürfnisbefriedigung einzusetzen, und nicht zur Profitgenerierung) als Heilmittel gegen „kapitalistische Auswüchse“ predigen.
8 Jede Krise führt dazu, dass Betriebe in Konkurs gehen, während andere ihren Markteinteil ausweiten. Bürgerliche Ökonomen nennen das „Innovationsfähigkeit“ oder „unternehmerischen Ehrgeiz“. Marx spricht von „Zentralisationstendenzen“ im Kapitalismus.
9 Zur Frage, wie das Kapital eine Krise überstehen kann, wo doch die Konsumtionskraft weiter sinkt, führt Varga aus: „Das Einkommen der Kapitalisten geht während der Krise zwar stark zurück, und sie können kein neues Kapital akkumulieren, sie sind im allgemeinen aber trotzdem noch reich genug, um ihren persönlichen Verbrauch in bisherigem Umfang aufrechtzuerhalten. Das gleiche trifft auf die Mittelschichten zu, die feste Gehälter haben, wie Staats- und Kommunalbeamte, hochbezahlte Angestellte usw., denn sie behalten ebenfalls ihre Einkünfte; das trifft auch auf den weiterbeschäftigten Teil der Arbeiter und unteren Angestellten zu. Die Arbeitslosen verzehren ihre geringen Ersparnisse, verkaufen häusliche Einrichtungsgegenstände und machen Schulden bei Ladenbesitzern, Bäckern und Wucherern. Obwohl der Verbrauch der kapitalistischen Gesellschaft stark abnimmt, so liegt er trotzdem über der noch stärker gesunkenen Produktion.“ Für heutige Verhältnisse in westeuropäischen Ländern können wir hinzufügen, dass die Arbeitslosenunterstützungen ebenfalls zur Konsumtionskraft beitragen, und in der aktuellen Krise sind die immer ausgedehnteren „Kurzarbeitsmodelle“ ebenfalls auf das Bemühen der Regierungen zurückzuführen, die Massenkaufkraft so weit als – unter kapitalistischen Krisenverhältnissen – möglich zu erhalten.
10 Wiederum handelt es sich hier um eine Tendenz, nicht um eine lineare Entwicklung. Insbesondere der 2. Weltkrieg hat offenbar dämpfend auf die folgenden Krisen gewirkt, sodass in den Nachkriegsjahren das Phänomen der Sockelarbeitslosigkeit in den imperialistischen Ländern nicht auftrat – was bürgerliche Ökonomen zu der Behauptung veranlasste, sie sei ein für allemal verschwunden. Inzwischen wissen wir, dass auch diese Feststellung falsch war.
11 Lenin stellt weiters fest, dass in den USA die Umwandlung von BäuerInnen in kapitalistische ProduzentInnen (zu Beginn des 20. Jahrhunderts) bereits abgeschlossen ist und daher hier keine Erweiterung des Marktes mehr stattfinden kann. Heute lebt bereits mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten, ein Hinweis darauf, dass dieser Prozess global weit vorangeschritten ist.
12 Zwei Möglichkeiten, die Märkte auszudehnen: 1. territoriale Ausdehnung, die erst in der Einbeziehung neuer Landstriche in die kapitalistische Verwertung bestand („Entdeckungen“, „Kolonialisierung“), und nach Abschluss dieser Erweiterung umschlug in den Kampf um diese „neuen Märkte“ („Kolonialkriege“ mit dem 1. Weltkrieg als vorläufigem Höhepunkt). 2. innere Ausdehnung durch Unterwerfung von immer mehr Bedürfnissen unter die Warenproduktion (die Mechanisierung der Hausarbeit schafft den neuen Markt für Haushaltsgeräte, die Autoproduktion weckt das Bedürfnis für Mobilität, die Entwicklung von Fotoapparaten, MP3-Playern etc. schafft neue Bedürfnisse der Freizeitgestaltung und damit neue Märkte).
13 Beispiele für Monopolisierung liefern etwa die Automobilindustrie (aktuell die Krise der US-amerikanischen Autohersteller) oder die Flugzeugindustrie (weltweit gibt es nur noch zwei Konzerne, die fähig sind, Großraumflugzeuge zu produzieren: Boing und Airbus). Generell ist aber in nahezu allen Branchen die Tendenz zur Monopolisierung feststellbar.
14 Diese Erscheinungen sind nicht so neu, wie sie scheinen. Eugen Varga hält fest, dass in den „fünf besten Konjunkturjahren während des letzten Zyklus (1925 bis 1929) der Produktionsapparat der amerikanischen Industrie zu 80% ausgelastet“ war, d.h. 20% der Produktionskapazitäten konnten selbst in der Prosperität mangels Nachfrage nicht verwendet werden. Gleichzeitig beziffert er den niedrigsten Stand der Arbeitslosigkeit (in Großbritannien) vor der Krise von 1929 mit 10,4%. Die durchschnittliche Auslastung der Maschinen während des gesamten Zyklus (also die Krisenphase miteingerechnet) gibt er mit 57% an, den höchsten Stand der Arbeitslosigkeit mit 22,2%.
15 Nach: zeitenwende.ch/finanzgeschichte/die-britisch-suedamerikanische-krise-der-jahre-1825/1826/
16 Nach Karl Marx, Das Kapital, Band III, 25. Kapitel
17 Die folgende kurze Darstellung des Opiumkrieges beruht auf „Der Opiumkrieg“, Verlag für fremdsprachige Literatur, Peking 1977.
18 Vor Beginn der Auseinandersetzungen zählte China bereits 2 Millionen OpiumraucherInnen. Der „Opiumkrieg“ wurde von großen Teilen der chinesischen Oberschicht und den britischen Truppen gegen den Widerstand der chinesischen BäuerInnen und HandwerkerInnen geführt. Die herrschenden Kreise waren korrupt genug, um sich dem britischen Diktat nach Öffnung Chinas für britische Waren (und Opium) zu unterwerfen. Dagegen formierten sich selbstorganisierte Armeen von ganzen Dörfern und Städten, die die britischen Truppen angriffen, manchmal sogar vertrieben, bis sie von der chinesischen Armee niedergeschlagen wurden.
19 Unmittelbar nach der Niederschlagung des schlesischen Weberaufstands begann 1844 der erste Kampfzyklus auf den deutschen Eisenbahnbaustellen, in dessen Verlauf bis 1847 mehr als 30 Streiks stattfanden. Wilhelm Wolff zitiert die Ansichten eines schlesischen Eisenbahnarbeiters: „So lange wir hier arbeiten, verdienen wir uns zwar den Unterhalt, wir wissen aber sehr gut, dass wir doch hauptsächlich nur für die Geldleute uns schinden. Die stehen in der Stadt auf dem Markt und machen gute Geschäfte mit unserm sauren Schweiße, und wenn die Bahnen fertig sind, können wir gehen, woher wir gekommen. (…) Einen Vorteil hat’s für uns. Wir sind zu Tausenden zusammengeströmt, haben einander kennengelernt, und in dem gegenseitigen langen Verkehr sind die meisten von uns gescheiter geworden. (…) Wir haben jetzt verteufelt wenig Respekt mehr vor den vornehmen und reichen Leuten. (…) Sie können’s glauben: Wenn die Weber nur länger ausgehalten hätten, es wäre bald sehr unruhig unter uns geworden. Der Weber Sache ist im Grunde auch unsere Sache.“ – Aus: Die Logik der Revolten, Schwarze Risse – Rote Strasse, 1999
20 Ebenso: Währungen werden in großem Stil aufgekauft in Erwartung kommender Kursänderungen, die beim weiteren Verkauf dieser Währungen Gewinne bringen. Landwirtschaftliche Flächen werden aufgekauft in Erwartung der Umstellung auf Biosprit-Landwirtschaft, die ein Vielfaches an Gewinn verspricht.
21 Hauptquelle: zeitenwende.ch
22 Cornelius Vanderbilt (Van Der Bilt, geboren am 27. Mai 1794 in Port Richmond (New York City) auf Staten Island. Mit 16 Jahren kaufte er mit dem Geld seiner Eltern ein Segelschiff und baute eine Fährdienst zwischen Staten Island und New York auf, im Krieg von 1812 versorgte er einige Forts der US-Army nahe New York mit Lebensmitteln. 1818 wurde er Dampfschiffkapitän, 1829 gründete er eine eigene Dampfschiffgesellschaft, in den 1850er Jahren besaß er eine Flotte von hundert Schiffen. 1848 sicherte er sich für zwölf Jahre die exklusiven Transitrechte auf dem Seeweg von San Juan del Norte (Karibikküste) nach San Juan del Sur (Pazifik). Nach dem Bürgerkrieg investierte Vanderbilt in den Ausbau des Eisenbahnnetzes und verfügte bald über die wichtigsten Eisenbahnlinien der USA. Seine Unternehmen und erfolgreiche Börsenspekulationen machten ihn zu einem der reichsten Unternehmer seiner Zeit, am Ende seines Lebens besaß er ca. 100 Millionen Dollar (in heutiger Kaufkraft ca. 143 Milliarden Dollar).
23 Das letzte Kapitel dieses Krieges schrieb die arbeitende Bevölkerung von Paris, die die geschlagene französische Regierung vertrieb und die Kommune ausrief. Die Pariser Kommune wurde von französischen Truppen, die von Deutschland wieder bewaffnet worden waren, blutig niedergeschlagen.
24 Am 16. August 1896 fand George Carmack gemeinsam mit seinen indianischen Verwandten Tagish Charlie und Skookum Jim Gold im Rabbit Creek, in der Nähe des Zuflusses des Clondyke River in den Yukon River (Kanada). Die Nachricht von diesem Fund erreichte die Welt erst fast ein Jahr später, am 14. Juli 1897. Sofort begann der Goldrausch. Erst reisten Goldsucher aus San Francisco und der US-Westküste zum Clondyke River, später kam auch Europäer (aus Deutschland, Italien, Norwegen, Großbritannien) und Asiaten (aus China und Japan) dazu.
Als der Ansturm größer wurde, ließ die Royal Canadian Mounted Police nur noch diejenigen passieren, die eine Tonne an Lebensmitteln und Ausrüstung mit sich führten. Etwa 40.000 Abenteurer erreichten die Boomtown Dawson City am Clondyke. Die wenigsten wurden reich. (nach: Wikipedia)
25 Varga/InPreKorr, 4.Vj.1929
26 Neue Freie Presse vom 30. Oktober 1929
27 Varga/InPreKorr, 1.Vj.1930
28 Kurt Gossweiler, „Großbanken – Industriemonopole – Staat, Ökonomie und Politik des staatsmonopolistischen Kapitalismus in Deutschland 1914-1932“, Westberlin 1975
29 Nach: http://de.wikipedia.org/wiki/Weltwirtschaftskrise
30 http://www.federalreserve.gov/boardDocs/speeches/2002/20021121/default.htm
31 Alle Zitate aus Ahlrich Meyer, „Die Logik der Revolten“, Studien zur Sozialgeschichte 1789 – 1848, Schwarze Risse – Rote Strasse 1999
32 Nach: Wolfang Maderthaner, Lutz Musner, „Die Anarchie der Vorstadt“, Das andere Wien um 1900, Campus 1999
33 Aus: Mike Davis in SoZ - Sozialistische Zeitung
34 Aus: en.wikipedia.org. Lucy Eldine González Parsons (geboren 1853, gestorben am 7. März 1942), radikale Gewerkschaftsorganisatorin („organizer”), Anarcho-Kommunistin, hervorragende Sprecherin. Lucy González wurde 1853 in Texas geboren, mit Wurzeln von Native Americans, AfroamerikanerInnen und MexikanerInnen. 1871 heiratete sie Albert Parsons, der 13jährig an der Seite der Südstaaten gekämpft hatte und später für die Annahme der Kapitulation eintrat. Sie wurden beide dazu gezwungen, Texas zu verlassen und gingen nach Chicago.
In den 20er Jahren wurde sie von der Chicagoer Polizei als „gefährlicher als tausend Aufständische” beschrieben. Lucy und ihr Mann hatten sich in Chicago zu anarchistischen „organizern“, die ArbeiterInnen für die Gewerkschaft gewannen, entwickelt und waren aktiv in Bewegungen zur Unterstützung politischer Gefangener, Farbiger, Obdachloser und Frauen. Lucy schrieb für „The Socialist“ und „The Alarm“ (die Wochenzeitung der Gewerkschaftszeitung „International Working People’s Association“, an deren Gründung 1883 die Parsons beteiligt gewesen waren).
Nachdem am 4. Mai 1886 auf dem Haymarket eine Bombe auf die Polizei geworfen wurde, die gerade eine Arbeiterversammlung auflösen wollte, wurde Parsons zusammen mit sieben anderen, hauptsächlich deutschen Anarchisten festgenommen und als einer von fünf zum Tode verurteilt. Am 11. November 1887 wurde er im Gefängnis Cook County gehängt. Dies war einer der größten Justizmorde der USA. Haymarket war der Beginn der 1. Mai-Demonstrationen.
„Meine Konzeption eines zukünftigen Streiks ist es nicht, zu streiken, rauszugehen und zu hungern, sondern zu streiken, drin zu bleiben und die Produktionsmittel in Besitz zu nehmen“, wurde Lucy Parsons in der Wobblies(IWW)-Zeitung zitiert. Sie nahm damit die sit-down-Streiks in den USA und später die Betriebsübernahmen in Argentinien vorweg. In den 20er Jahren arbeitete sie im „Nationalen Komitee zur Internationalen Verteidigung der ArbeiterInnen“, das AktivistInnen der ArbeiterInnenbewegung und fälschlich beschuldigte AfroamerikanerInnen wie die Scottsboro Nine und Angelo Herndon verteidigte. 1939 trat sie der Kommunistischen Partei bei. Noch mit über 80 Jahren hielt Lucy Parsons leidenschaftliche Reden.
Am 7. März 1942 starb Lucy Parsons mit 89 Jahren bei einem Hausbrand. Sogar nach ihrem Tod wurde sie noch als Gefahr betrachtet, die Polizei beschlagnahmte all ihre Bücher, über 1.500 Stück, und ihre persönlichen Aufzeichnungen.
35 Nach: Wildcat-Zirkular Nr. 27 - Juli/August 1996 - S. 32-47
36 Nach: Lutz Getzschmann, 05/07 trend onlinezeitung
37 Brot und Rosen:
Wenn wir zusammen gehen, geht mit uns ein schöner Tag. Durch all die dunklen Küchen und wo grau ein Werkshof lag, beginnt plötzlich die Sonne uns’re arme Welt zu kosen, und jeder hört uns singen: Brot und Rosen!
Wenn wir zusammen geh’n kämpfen wir auch für den Mann, weil unbemuttert kein Mensch auf die Erde kommen kann. Und wenn ein Leben mehr ist, als nur Arbeit, Schweiß und Bauch, woll’n wir mehr: Gebt uns das Leben, doch gebt die Rosen auch!
Wenn wir zusammen geh’n, geh’n uns’re Toten mit. Ihr ungehörter Schrei nach Brot schreit auch durch unser Lied. Sie hatten für die Schönheit, Liebe, Kunst erschöpft nie Ruh. Drum kämpfen wir um’s Brot, und um die Rosen dazu.
Wenn wir zusammen geh’n, kommt mit uns ein bessrer Tag. Die Menschen die sich wehren, wehren aller Menschen Plag. Zu Ende sei, dass kleine Leute schuften für die Grossen! Her mit dem ganzen Leben: Brot und Rosen!