So oder So - Die Libertad!-Zeitung - Nr. 11- Frühjahr 2002; www.libertad.de
Young Urban Militants
Subversion, Unabhängigkeit und Antikapitalismus - Interview mit der baskischen Jugendorganisation Segi
Aus dem Jugendzentrum in den Hochsicherheitstrakt: Die spanische Justiz rüstet gegen militante Jugendliche
Wer ein als “Drohung” auslegbares Graffiti anbringt, darf mit vier Jahren Haft rechnen, für das Anzünden eines Geldautomaten geht es gleich für 20 Jahre in den Knast. Was zuvor noch als Sachbeschädigung und Landfriedensbruch galt und mit Haft von zwei bis vier Jahren bestraft wurde, heißt nun “urbaner Terrorismus”, Strafmaß: zehn bis 20 Jahre Haft. Der Hintergrund ist eine Gesetzesnovelle von 2001, mit der die Definition terroristischer Straftaten erheblich ausgeweitet wurde. Nicht zufällig ist seitdem die Zahl sogenannter terroristischer Straftaten in die Höhe geschnellt. Daß es der Justiz ernst ist, zeigt ein erstes Urteil: Ein Jugendlicher wurde zu zwölf Jahren verurteilt, weil er einen Bankautomaten attackiert hatte.
Um die Antiterrorgesetze auf Minderjährige anwendbar zu machen, wurde mit der Gesetzesnovelle von 2001 die Strafmündigkeit auf 14 Jahre gesenkt. Teenager können nun nach einer Verhaftung fünf Tage lang totalisoliert werden; das ist der Zeitraum, in dem der Großteil der Folterungen verübt wird. Die Verfahren werden vor dem zentralen Gericht für Minderjährige in Madrid geführt, und eine eventuelle Haftstrafe ist auch nicht mehr in Jugendknästen, sondern in Gefängnissen für Erwachsene abzusitzen. Die militante Jugendbewegung ist offensichtlich neben der ETA zum Hauptfeind Spaniens erhoben worden: Im Februar 2002 ließ Balthasar Garzón, Richter am Sondergericht Audiencia Nacional, die Jugendorganisation Segi zur illegalen Vereinigung erklären. Die Organisation war erst im Juli 2001 aus der Taufe gehoben worden, im Dezember vergangenen Jahres erschien ihr Name dann unerwartet auf der von der Europäischen Union publizierten Liste terroristischer Organisationen.
“Wir sind keine Terroristen!” war auf Transparenten zu lesen, die baskische Jugendliche am 16. Februar 2002 vor der spanischen Botschaft in Berlin entrollten. In Kirchen, vor Botschaften und in Fußballstadien protestierten junge BaskInnen mit einem Aktionstag gegen die Kriminalisierung ihrer Organisation - in Berlin, Paris, Lissabon, Brüssel, Den Haag und in Euskadi. Der Protest gipfelte in einer Demonstration von etwa Tausend baskischen Jugendlichen am 2.3. in Brüssel.
Die Reaktion auf die europaweite Kampagne folgte auf dem Fuße: am 8. März ließ Richter Balthasar Garzón mehrere Wohnungen von AktivistInnen der Gruppe durchsuchen; zwölf Jugendliche wurden festgenommen, “höchste Verantwortliche der Organisation”. Die Jugendorganisation, so Balthasar Garzón, bilde die Nachfolge der bereits verbotenen Organisation Jarrai-Haika, und verstehe sich als “revolutionäre Organisation, die für ein unabhängiges und sozialistisches Euskadi kämpft und die sich dem kapitalistischen System, das die Jugend ausbeutet, entgegensetzt.” In den Augen des spanischen Sondergerichts Audiencia Nacional Grund genug, die Organisation zu verbieten.
Libertad! sprach mit Mitgliedern der verbotenen baskischen Jugendorganisation Segi über ihre Mobilisierung gegen die EU-Gipfel und ihr Verständnis von Sozialismus und nationalem Befreiungskampf.
Neben anderen baskischen Organisationen ist auch die Jugendbewegung Segi kürzlich verboten worden. Seht ihr die Repression gegen die baskische Linke als Folge der Dynamik des 11. 9.?
Die Repressionsapparate haben nach dem 11.9. einen Freibrief bekommen, gegen alle vorzugehen, die sich den etablierten Mächten entgegenstellen. Segi steht auf der europäischen Liste terroristischer Gruppen.
Die Verfolgung ist für uns allerdings nichts Neues: Im März 2000 wurde die Jugendorganisation Haika illegalisiert und 20 ihrer Mitglieder verhaftet. Da aufgrund des Verbots keine nationale baskische Jugendorganisation mehr existierte, gründeten Tausende Jugendliche kurz darauf eine neue Organisation - Segi. Seitdem hat die Repression kein Ende gefunden: die spanische Regierung setzte ihre Forderung durch, Segi auf europäischer Ebene zur terroristischen Organisation zu erklären, Richter Garzón erklärte daraufhin umgehend das Verbot der Organisation und ihrer Aktivitäten, zuletzt wurden auf Anweisung des spanischen Innenministers am 8. März dieses Jahres elf unserer Aktivisten festgenommen und inhaftiert. Das bedeutet zusammengefaßt: der baskischen Jugend wird verboten, sich zu organisieren.
Im Februar 2002 wurde Indymedia Italien angegriffen und in Sevilla wurden Studenten festgenommen, die gegen die neoliberale Bildungsreform kämpfen. Gibt es Parallelen zwischen der Repression gegen die Antiglobali­sie­rungsbewegung und die baskische Bewegung?
Die Haltung Spaniens und Frankreichs gegenüber jenen, die für eine bessere Welt kämpfen, ist bekannt. Es genügt, auf den Regierungschef Aznar zu verweisen, der kürzlich sagte: “Alle Antiglobalisierungsgruppen sind Terroristen!”
Das Baskenland wird dabei als Labor für Repressionsmethoden benutzt, die später in ganz Europa angewandt werden.
Wir haben einen spezifischen Konflikt mit den beiden Staaten; uns ist klar, daß sie die Arbeit für ein unabhängiges und sozialistisches Baskenland unmöglich akzeptieren können, deshalb wollen sie uns loswerden. Das ist kein Grund, an unserem Kampf für eine gerechtere Welt zu zweifeln, wie auch keine andere linke revolutionäre Kraft zweifeln sollte, im Kampf alle Mittel einzusetzen, die uns zur Verfügung stehen.
Im Herbst 2001 war die baskische Jugendbewegung maßgeblich an der Organisation der Demonstrationen gegen den EU-Gipfel in Biarritz beteiligt; Segi mobilisierte jetzt auch zu den Aktionstagen gegen den EU-Gipfel in Barcelona. Wo seht ihr euch innerhalb dieser heterogenen Bewegung?
In den letzten Jahren ist eine neue Bewegung in der Welt sichtbar geworden, die ausgehend von verschiedenartigen antikapitalistischen, ökologischen und anderen Initiativen unter dem Motto der Antiglobalisierung’ Front gegen das neoliberale sozioökonomische Modell macht. Der Kampf gegen den Neoliberalismus ist seit Jahren Teil unserer täglichen politischen Dynamik, sowohl in den längerfristigen Kampagnen gegen Zeitarbeitsfirmen, als auch in den Mobilisierungen gegen die EU-Gipfel in Biarritz und in Barcelona. Segi hat als Bewegung immer Anteil an den Antiglobalisierungskämpfen gehabt. Das neoliberale Modell wird uns von der politischen Rechten mit Hilfe der heutigen Sozialdemokratie, die man kaum als Linke bezeichnen kann, aufgezwungen. Globalisiert wird auf diese Weise vor allem die Ausbeutung der Arbeiterklasse, die Armut und die Kluft zwischen den reichen und den armen Ländern.
Segi wird vor allem als Organisatorin des Straßenkampfes im Baskenland gesehen. Könnt ihr skizzieren, worin eure Arbeit als Jugendorganisation besteht?
Segi besteht aus lokalen Gruppen in allen baskischen Orten und Stadtteilen. Mehr als 3.000 Jugendliche entwickeln in diesen Gruppen die Aktivitäten und Diskussionen, die in unsere politische Positionierung eingehen. Wir haben mehrere Arbeitsbereiche. Einer betrifft das sozioökonomische Modell, die Probleme des Arbeitsmarktes, des Wohnraumes und die Forderung nach einer nachhaltigen Entwicklung in Einklang mit der Natur. Ein anderes wichtiges Thema ist die Freizeitgestaltung: wir entwickeln selbstorganisierte Alternativen gegen Konsum und Vereinheitlichung. Die gleichberechtigte Teilnahme der Frauen in allen sozialen Bereichen ist ein Kampf, der in alle Arbeitsbereiche integriert ist.
Wie ist die Lage baskischer Jugendlicher, was Arbeit, Ausbildung und Wohnen betrifft?
Die Konsequenzen des neoliberalen Modells sind im Baskenland wie in ganz Europa sichtbar: die multinationalen Konzerne dehnen sich aus, die Arbeit wird prekarisiert und die Vesklavung der arbeitenden Klasse durch Zeitarbeitsfirmen verschärft. Jeder Versuch, ein würdiges Leben zu führen, wird durch die Wohnraumspekulation und den Preisanstieg fast unmöglich gemacht. Alle Alternativen zu dem, was uns dieses System anbietet, werden unterdrückt: Wenn wir Besetzungen als Modelle für die Lösung des Wohnraumproblems entwickeln genauso, wie wenn wir freie Märkte einrichten, um dem brutalen Konsumismus der Gesellschaft etwas entgegenzusetzen. Jugendliche und Frauen haben unter dieser Situation am meisten zu leiden.
In euren Publikationen wird neben dem Ziel der nationalen Selbstbestimmung immer eine sozialistische Perspektive betont. Wie verbindet ihr beide Ziele?
Wir verstehen uns als revolutionäre, sozialistische, feministische, internationalistische und independentistische1Organisation. Unsere Arbeit folgt zwei grundlegenden Zielen: Dem Recht auf Selbstbestimmung, verstanden als kollektives Recht, das nationale politische Modell zu bestimmen, und gleichzeitig als individuelles Recht, die eigene Lebensweise gegenüber dem vereinheitlichenden Impuls des Kapitalismus frei zu definieren. Unser zweiter Eckpfeiler ist der Sozialismus als Instrument, um die Gesellschaft neu zu strukturieren.
In der politischen Praxis scheint der nationale Aspekt im Vordergrund zu stehen. Ist das Ausdruck der Bündnisbestrebungen, oder gar dem Einfluß der baskischen Bourgeoisie auf die Linke geschuldet?
Der Kampf für die Selbstbestimmung des baskischen Volkes ist für uns gleichwertig mit dem globalen Kampf gegen den Kapitalismus. Vor dem Hintergrund unserer besonderen Lage, und auch aus taktischen Gründen, sind wir größere Schritte im Kampf für die nationale Befreiung gegangen. Man sollte daraus nicht den Schluß ziehen, unsere Ziele und unsere politische Linie seien mit denen der Bourgeoisie identisch. Die Kampfbereitschaft der baskischen Bourgeoisie und ihrer politischen Führung, der PNV2, ist gleich Null. Sie arbeitet mit ihren Strukturen der autonomen Verwaltung und der autonomen Polizei dem repressiven Apparat des spanischen Staates in die Hände.
In den Diskursen der Linken in Deutschland sind die Begriffe Volk und Nation keine Ziele, sondern Vorbedingungen für rassistische und rechte Ideologien. Wie definiert ihr das “baskische Volk”, was ist euer Konzept des Nationalen, und wie betrachtet ihr die Widersprüche zwischen nationalen und sozialistischen Zielen?
Das Volk, für das wir kämpfen, ist durch verschiedene kulturelle Realitäten charakterisiert, unter denen die gemeinsame Sprache das Verbindende ist. Unsere Definition des Volkes ist eine offene und egalitäre, nicht ausschließend wie die Konzepte, die auf Kriterien einer Rasse oder Religion beruhen. Unsere kulturellen Realitäten besitzen einen offenen Charakter; jeder und jede, der oder die sich in unsere kulturelle Realität einmischt und bereit ist, unsere Sprache zu erlernen, kann Teil des baskischen Volkes sein. Deshalb sehen wir in der nationalen Befreiung keinen Widerspruch zu unseren sozialen Zielen. Es sind die beiden Fronten, an denen wir kämpfen: für ein unabhängiges und sozialistisches Baskenland, und auf globaler Ebene gegen den Kapitalismus.
Welche Bedeutung hat die internationale Vernetzung und Zusammenarbeit für Segi?
Die internationale Arbeit ist angesichts der Situation, in der wir uns befinden, natürlich von immenser Bedeutung: damit sie uns nicht in die Knie zwingen, und damit wir beweisen können, daß wir trotz allem weiter gegen den imperialistischen Kapitalismus für eine Welt kämpfen, in der alle, bei all unseren Unterschieden, die gleichen Möglichkeiten haben. Für unser aller Überleben ist es existentiell, vereint zu bleiben, jedem Volk und sozialen Sektor, der unterdrückt wird, Solidarität entgegenzubringen. Wenn wir uns zusammenschließen, können wir voneinander lernen, Erfahrungen austauschen, uns gegenseitig unterstützen. Regelmäßig organisieren wir im Baskenland Camps, an denen Gruppen aus aller Welt teilnehmen. Wir hoffen, daß sie zu Treffpunkten der revolutionären Jugend der Welt werden.
März 2002
Anmerkungen
1 für die Unabhängigkeit eintretend
2 die Partido Nacional Vasco (Bürgerliche Nationalpartei) stellt die baskische Regionalregierung