Transkript und Anmerkungen zur Veranstaltung der Grundrisse: Info-Verteiler
Klassenkämpfe im Wirtschaftswunder
Am 24.3.2006 veranstalteten die „Grundrisse“ (http://www.unet.univie.ac.at/~a9709070/index.htm) einen Abend zu China. ReferentInnen waren drei GenossInnen aus Deutschland aus dem Umfeld von wildcat (http://www.wildcat-www.de/ und http://www.umwaelzung.de). Wir fanden diesen Abend vor allem bezüglich der vermittelten Fakten sehr interessant, was einige Einschätzungen betrifft, so artikulieren wir unseren Widerspruch/unsere Kritik in den Anmerkungen am Ende dieses Beitrages.
Grundrisse: Ich möchte euch herzlich begrüßen im Namen der Grundrisse, Zeitschrift für linke Theorie und Debatte zur Veranstaltung ‚Klassenkämpfe im Wirtschaftswunder‘ über soziale Auseinandersetzungen in China. Die ReferentInnen stellen sich selbst vor. Es wird ungefähr so ablaufen: Zuerst wird es einen kurzen Film geben. Dann referiert Susanne, anschließend Bernhard, und zum Schluss Felix, und dann kann diskutiert werden.
Felix: Zur atmosphärischen Einstimmung wollen wir erstmal zwei, drei Minuten aus dem Film über den Zwischenfall in einem Dorf zeigen. Das ist ein Dokumentarfilm, leider komplett auf chinesisch gedreht. Und es ist eine von vielen Bauernunruhen, die es auf lokaler Ebene in China nun gibt. In diesem Dorf haben die Bauern versucht, von ihrem Recht Gebrauch zu machen, den Bürgermeister abzusetzen, und Neuwahlen zu inszenieren. Weil der alte Bürgermeister ihr Land verkauft hat, ohne ihnen Entschädigungen dafür zu bezahlen. Der Film berichtet davon, was infolgedessen passiert, nämlich dass die Bauern von der Polizei und von den Schlägertrupps des alten Dorfbürgermeisters terrorisiert werden, sodass sie am Ende doch darauf verzichten. Und am Ende des Films sitzt die Regisseurin des Films mit der Kamerafrau im Taxi, und die Scheiben werden von außen zerschlagen. Das ist dann das Ende des Films. Es ist einer der wenigen Filme, die ich kenne, wo wirklich viel mitgefilmt worden ist von diesen Auseinandersetzungen. Sonst kriegt man nur einzelne Bilder oder sehr schlecht gedrehte mit Handkamera.
Das sind jetzt die Frauen, die beschweren sich gerade vor der Fernsehkamera über den Bürgermeister.
Die Frau sagt, sie hofft, dass durch diese Übertragung im Fernsehen die Regierung in Peking davon erfährt.
Sie sagen, dass der Landverkauf illegal ist, und sie wollen, dass der Premierminister ins Dorf kommt.
Das ist die Anti-Riot-Polizei (mit Schild und Schlagstock, fast wie in Österreich, zweisprachige Aufschrift auf den Schildern: chinesisch und „police“)
Die Frauen berichten jetzt davon, wie sie von der Polizei geschlagen worden sind. Das konnte natürlich nicht mit gefilmt werden. (Frauen und Männer zeigen ihre Verletzungen, am Kopf, an Armen und Beinen.)
Interessant ist an diesem Film: meistens werden die Frauen vorgeschickt, um was zu sagen. (Der Film wird abgedreht.)
Ja, das ist nur ein kurzer Eindruck.
Frage: Wer hat den Film gemacht?
Felix: Das hat eine chinesische Journalistin gemacht. Aber der wird in Hongkong von der Chinese University vertrieben, also nicht in China. Das ist nicht möglich, dass der im Fernsehen läuft. Aber es ist erstaunlich, dass sie überhaupt so viel mitdrehen konnte.
Susanne: Guten Abend, ich bin Susanne aus der Nähe von Mannheim. Ich habe den Bernhard mitgebracht, und wir werden jeder ein Referat halten, ich zu China, und Bernhard über die Situation in den letzten Entwicklungsdiktaturen.
Bernhard und ich sind die Redaktion des täglichen blogs, der täglich erneuerten Website von ‚Welt in Umwälzung‘. Wir machen dazu eine Presseauswertung zu Nachrichten über die Situation in Südostasien und China mit dem Schwerpunkt auf Indonesien und China. Außerdem haben wir schon öfter – und werden das auch weiterhin tun – für die Zeitschrift wildcat Artikel geschrieben. Nicht nur zu China und Indonesien.
Ich will erstmal was zur Situation der Klassenkämpfe in China erzählen. Die Situation in China kann man so zusammenfassen: Eine Gesellschaft im Umbruch mit rasant zunehmender Ungleichheit der Verhältnisse. Das Wohlstandsgefälle wird ständig größer, und zwar zwischen Stadt und Land, zwischen den Küstenprovinzen und dem Inland, zwischen Gebildeten und Ungebildeten, zwischen den Gewinnern und den Verlierern der Wirtschaftsreform. Wobei ich die Erfolge der Wirtschaftsreform überhaupt nicht kleinreden will. In China war der Großteil der Bevölkerung schon immer von Hunger bedroht. Das ist einer der Gründe, warum es in China kaum Nahrungstabus gibt.
Die ganz existenzbedrohenden Formen des Elends wurden in den letzten 25 Jahren zwar nicht beseitigt, aber doch stark zurückgedrängt. Das heißt, dass noch immer 100 Millionen Chinesen unter dem absoluten Elendsniveau existieren. Das heißt, dass das nur noch jeder 13. Chinese arm ist, und das hat es wahrscheinlich in der ganzen chinesischen Geschichte noch nie gegeben.
Wobei man sagen muss, die Erfolge der Armutsbekämpfung haben sich in den letzten Jahren im Vergleich zu den 80er Jahren verlangsamt. Im Jahr 2003 ist zum ersten Mal seit Beginn der Wirtschaftsreformen die Zahl der in absoluter Armut lebenden Chinesen wieder gestiegen.
In den letzten Jahren haben 40 Millionen Bauern ihr Land an Entwicklungsprojekte verloren. Einige zehn Millionen Beschäftigte in Staatsunternehmen haben ihre Jobs verloren. Hingegen haben etwa 100 Millionen Chinesen stark vom Boom profitiert. Es ist eine neue Mittelschicht entstanden, die konsumiert fleißig und ist inzwischen auch ein attraktiver Binnenmarkt für Elektronik, Autos, Mode usw.
Durchschnittlich ist einer von 400 Chinesen Unternehmer geworden. Kein Wunder, dass inzwischen auch Kapitalisten Mitglieder in der Kommunistischen Partei werden können.
Soziale Unruhen sind allgemein verbreitet. Und die Leute greifen sehr schnell zu kollektiven Aktionen: Demonstrationen, Streiks, riots, Blockaden sind bei Arbeitern, Bauern, bei Mietern, die von Entwohnung bedroht werden, bei Rentnern, bei Soldaten, betrogenen Geldanlegern sehr beliebt, um auf ihre Probleme aufmerksam zu machen. Denn eines ist klar: Die offizielle Methode zu protestieren, nämlich über Beschwerdepetitionen, die ist so gut wie aussichtslos. Wenn man nicht ordentlich auf den Putz haut, dann erreicht man gar nichts.
Die Behörden tolerieren Protestaktionen häufig. Man kann auch sagen, sie ignorieren sie einfach. Und wenn das nicht geht, dann werden einzelne Beamte oder Unternehmer als Sündenböcke verantwortlich gemacht. Und oft bekommen die Protestierenden ihre Forderungen mit Geld von staatlichen Stellen abgefunden. Und dann werden die, die als Rädelsführer der Proteste ausgemacht werden, in den Knast gesteckt und verrotten dort.
Zwei Arbeiterklassen
Jetzt will ich meinen Vortrag auf die Arbeiterklasse beschränken. Es gibt in China zwei Arbeiterklassen. Die alte Arbeiterklasse aus den Staatsbetrieben, und die neuen, proletarisierten Kinder von Bauern, vom Lande. Diese neue Arbeiterklasse, die Wanderarbeiter oder Mingong, entstand erst im Zuge der Wirtschaftsreformen, vor allem durch die Gründung der Sonderwirtschaftszonen Anfang der 80er Jahre.
Warum es zwei Arbeiterklassen gibt, warum man davon reden kann, wie das historisch entstanden ist, dazu wird Felix in seinem Referat etwas sagen.
Die alte Staatsarbeiterklasse ist vor allem von Firmenbankrotten und Privatisierungen betroffen. Daran entzünden sich auch ihre Kämpfe. Meist geht es dabei um ausbleibende Löhne, Abfindungen, Renten und Arbeitslosengeld. Außerdem auch gegen die Privatisierungen bzw. die Korruption im Zuge der Privatisierungen. 60% aller privatisierten Staatsunternehmungen sind von ihren eigenen Managern aufgekauft worden, nachdem diese vorher diese Betriebe in den Bankrott getrieben hatten und sich Firmenvermögen angeeignet haben.
Vor vier Jahren, Anfang 2002, gab es in Nordostchina eine gewaltige Streik- und Protestbewegung von Erdöl- und Stahlarbeitern. Die war ganz hoch organisiert, mit illegalen Organisationsstrukturen, und hat andere Betriebe in anderen Gegenden ausgestrahlt. Dort haben sich Arbeiter anderer Betriebe inspirieren lassen für ihre eigenen Kämpfe. Diese Bewegung wurde durch staatliche Repression zerschlagen, einige der angeblichen Rädelsführer sitzen heute noch im Knast.
Kämpfe in Staatsbetrieben gab und gibt es auch weiterhin, ein Beispiel aus diesem Jahr: Im Januar lieferten sich Arbeiter einer Militärgüterfabrik im Landesinneren drei Tage lang Kämpfe mit der Polizei. Die Firma ist pleite und soll weiter unter ihrem Wert verkauft werden. Und den Arbeitern wurde auch die versprochene Abfindung nicht bezahlt. Deshalb haben sie die Fabrik besetzt und den Geschäftsführer als Geisel festgenommen. Als 1.300 Militärpolizisten versucht haben, den Manager zu befreien, kam es zu heftigen Auseinandersetzungen mit zahlreichen Verletzten.
Der staatseigene Sektor macht zwar immer noch den Großteil der chinesischen Wirtschaft aus. Das chinesische Wirtschaftswunder wird im Kern jedoch von den Mingong getragen, den Wanderarbeitern. Und vor allem von den Wanderarbeiterinnen vom Lande. Sie galten lange überhaupt nicht als Arbeiter. Erst seit kurzem können sie in die Gewerkschaft eintreten. Nicht nur als Arbeiter werden sie diskriminiert, sondern auch von den Stadtbewohnern als Menschen zweiter Klasse betrachtet. Typische Jobs für Mingong sind zum Beispiel Bauarbeiten, wo sich ganze Kolonnen aus dem selben Dorf verdingen. Der Lohnbetrug, also die Nichtzahlung von Löhnen, ist legendär. Lohnrückstände von Monaten, und sogar von Jahren sind keine Seltenheit. Es gibt auch immer wieder Zoff deswegen.
Viele der Mingong, vor allem junge Frauen, arbeiten in Weltmarktfabriken, vor allem produzieren sie dort Schuhe, Klamotten, Spielzeug, Werkzeug, zunehmend allerdings auch hochwertige Sachen wie Elektronik und Automobilzulieferteile. Die Probleme dort sind vor allem nichtgezahlte Löhne, überlange Arbeitszeiten mit erzwungenen Überstunden, das repressive Fabrikregime: es gibt Strafen bei Verstößen gegen die Fabriksordnung, und zu niedrige Löhne.
Es gab zwar in den letzten Jahren immer wieder eine Erhöhung der Mindestlöhne, die Lohnsteigerungen konnten jedoch kaum mit den Preissteigerungen mithalten. Nichtsdestotrotz jammern die Firmen über den Lohndruck, und einige der Fabriken drohen mit Verlagerung in die Inlandsprovinzen, wo die Löhne noch billiger sind.
Die Geduld der Wanderarbeiter ist ziemlich am Ende. Streiks und andere Proteste nehmen gewaltig zu, vor allem auch in den Weltmarktfabriken. Im letzten Jahr gab es in einer Stadt in 17 japanischen Firmen eine Serie von Streiks. Es ging dabei um Löhne, Unterkünfte und Kantinenprobleme. Die streikenden Arbeiter legten die Arbeit zu verschiedenen Zeiten für einige Tage nieder. Wieder griff die Polizei ein, einige der Rädelsführer wurden verhaftet.
Doch nicht nur solche Kämpfe machen den Unternehmen zu schaffen, sondern es gibt inzwischen sogar Klagen über Arbeitskräftemangel. Es gibt verschiedene Vermutungen über die Gründe, warum es Arbeitskräftemangel geben soll. Selbstverständlich gibt es natürlich keinen absoluten Mangel an Arbeitskräften in China. Immerhin sind noch mehrere 100 Millionen völlig unproduktiv in der Landwirtschaft tätig. Einer der vermuteten Gründe für den verminderten Strom von Arbeitsimmigranten in die Stadt ist, dass sich die Situation am Land verbessert haben soll. Außerdem nimmt man an, dass viele Arbeiter sich inzwischen genau überlegen, wohin sie gehen sollen.
Auch in der Hauptstadt werden billige Arbeitskräfte knapp. Deshalb hat die Pekinger Stadtverwaltung 50.000 Arbeitskräften rechtzeitige Lohnzahlung und gute Arbeitsbedingungen garantiert. Dies soll zusätzliche Arbeitskräfte anlocken. Vor allem auch angesichts der Bauarbeiten für die Olympischen Spiele 2008.
Die Fluktuation in den Betrieben ist sehr hoch. Die heutige Generation von Wanderarbeitern ist sehr viel ungeduldiger und anspruchsvoller als ihre Vorgänger in den 80er Jahren. Die Firmen müssen sich entsprechend mehr Mühe geben, die Leute zu halten. Indem sie z.B. bessere Unterkünfte bauen, oder Freizeitmöglichkeiten anbieten, bis hin zum Bau eines eigenen Schwimmbads. Die Wanderarbeiter bekommen inzwischen sogar Unterstützung von offiziellen Medien, Arbeitsrechtsgruppen und staatlichen Stellen. Das Regime reagiert und versucht, die schlimmsten Mißstände abzuschwächen, wie Lohnbetrug. Es gibt immer wieder Kampagnen gegen Lohnbetrug.
In einer Stadt wurden vor kurzem acht Firmenchefs verhaftet, weil sie Löhne nicht bezahlt haben und dann verschwunden sind. Das waren dort die ersten Verhaftungen wegen nichtgezahlter Löhne seit 1994. Es gibt Versuche, die WanderarbeiterInnen besser zu integrieren, etwa dadurch, dass sich jetzt Teile der Staatsgewerkschaft oder NGOs um sie kümmern. Denn wenn man den Leuten nicht hilft, dann helfen sie sich selbst. Und davor hat das Regime – wie jedes andere Regime auch – Angst. Dass sich die Arbeiter selbst helfen und selbst organisieren.
Kurzes Resümee zum Schluss: Das Neue der letzten Jahre. Die Hauptakteure, die Macher des chinesischen Wirtschaftswunders, die neue Arbeiterklasse, die in den Weltmarktfabriken arbeitet, hat mit Streiks, riots und sonstigen Protesten Ansprüche auf eine deutliche Verbesserung ihrer Lage angemeldet. Eine ganz neue qualitative Stufe im Klassenkampf ist das aber noch nicht. Auch wenn die Kämpfe zahlenmäßig zunehmen, sie sind relativ isoliert und auf sich selbst bezogen. Den einzelnen Aktionen kann man schon einen hohen Grad an Zusammenhalt unterstellen. Aber es scheint noch kein Zusammenkommen mit anderen zu geben. Eine inhaltliche Weiterentwicklung, also eine Bewegung, die das System als solches herausfordern könnte, die die Ausbeutung als solche thematisiert, das ist bislang noch nicht sichtbar.
Entwicklungsdiktaturen
Bernhard: Also so auf den ersten Blick ist die chinesische Entwicklung tatsächlich noch ein kapitalistisches Erfolgsmodell. Aber selbst die Schreiberlinge des Kapitals, oder die Journalisten des Kapitals diskutieren eigentlich nicht mehr, ob ein Umsturz, eine Revolution kommt, sondern auch die diskutieren inzwischen ihren Charakter. Wir sind natürlich keine Propheten. Man kann nicht mehr als ein paar Aspekte der Entwicklung herausstellen, ansprechen und dann diskutieren.
Aber ich will daran erinnern: Sprünge sind möglich. Also wer hätte zwei Monate vor dem Aufstand auf dem Tienanmen 1989, wer hätte da zwei Monate vorher an sowas geglaubt? Ich denke, dass man aus der Geschichte der letzten 20 Jahre einiges ableiten kann. Und ich will da gar nicht viel über China erzählen. Das macht Felix anschließend. Sondern ich möchte einen größeren Rahmen aufmachen. Weil ich denke, dass man daraus auch verschiedenes lernen kann. Oder bestimmte Fragestellungen entwickeln kann.
Es gibt in der Geschichte der Welt seit dem 2. Weltkrieg so ein Muster der Entwicklung – was nicht heißt, dass nicht jedes Land seine eigene Entwicklung und seine eigene Geschichte hat, selbstverständlich. Und es ist nicht überall derselbe Vorgang. Aber es gibt ein Muster, auf das ich hinweisen will, und daraus kommt die These, dass China die letzte, oder eine der letzten großen Entwicklungsdikaturen ist, deren Tage gezählt sind.
Dieses Muster kann man so darstellen: Nach dem 1., vor allen Dingen aber nach dem 2. Weltkrieg gab es eine kurze Zeit des Aufbruchs in der Welt, eine demokratische Phase der Dekolonialisierung, fast überall in der Welt. Die ziemlich bald abgelöst wurde durch das, was ich Entwicklungsdiktatur nennen will. Fast überall meint Osteuropa, Asien, Lateinamerika, Afrika. Also überall außerhalb von Westeuropa und Nordamerika.
In den meisten Fällen waren es rechte Militärdiktaturen, von Indonesien über Nigeria bis Lateinamerika. Dagegen in China, Vietnam, Osteuropa kamen kommunistische Parteien an die Macht. Es fallen mir eigentlich nur zwei bemerkenswerte Ausnahmen ein, wo die Entwicklung zwar ähnlich war auf der sozialen Ebene, wo es aber nie zu einer ausgewachsenen politischen Diktatur gekommen ist. Und das sind Indien und Japan.
Diesen Diktaturen gemeinsam war ein Programm der industriellen Entwicklung, der ökonomischen Entwicklung. Das Programm: Sie versuchten, aus der Ausbeutung der Bauern Kapital freizusetzen, um über Importsubstitution Industrie aufzubauen. Alle diese Regimes stützten sich auf die relativ stabile Situation auf dem Land, in Lateinamerika und den Philippinen etwa auf den Großgrundbesitz, in Asien auf überkommene Verkehrsformen des asiatischen Feudalismus, also Großfamilie und so weiter.
Auch die Armee selber, die an der Macht war, bestand im Allgemeinen aus Bauern. Auf die Bauern stützte sich in den rechten Militärdiktaturen übrigens auch die kommunistische Opposition. Also das Zentrum der Macht, die Auseinandersetzungen fangen an auf dem Land. Aber in dem Maße, wie die Entwicklung funktioniert hat, und da, wo sie funktioniert hat, verlagert sich das Zentrum der gesellschaftlichen Macht wieder ziemlich bald zurück in die Stadt. Und zwar vor allem, weil überall etwa ab 1968, beschleunigt dann in den 90er Jahren, die Leute das Land verlassen und in die Stadt ziehen.
Ein Grund dafür ist die Armut auf dem Land, klar, die wurden ausgebeutet. Aber wir denken, dass es vor allen Dingen die Versprechungen sind, die der Kapitalismus in der Welt verbreitet, die die Leute in die Stadt ziehen. Es reicht vom Kühlschrank über die Disco zum Internet, und vor allem hin zu mehr persönlicher Freiheit. Wenn frau, vor allem frau, vor allem junge Mädchen der Kontrolle der Großfamilie entkommen wollen.Man muß verstehen, es sind ja nicht leere Versprechungen, die der Kapitalismus da macht. Sie bestätigen sich ja tatsächlich zum Teil selbst. Persönliche Freiheit, sexuelle Emanzipation, jedenfalls zum Teil oder ansatzweise. Geld, das ja immerhin im Prinzip für Wohlstand steht oder für die Hoffnung auf Wohlstand.
Das gibt es, aber es gibt es nur in der Stadt. Die Hoffnungen können nur erfüllt werden in der Stadt. Stadtluft macht frei. In Europa war das halt 200 Jahre früher. Aus den Bauern werden Proletarier und Stadtbewohner, und das ist eine ziemlich universelle Geschichte. Nur zwei Zahlen, um die Dimensionen darzustellen: 1980 lebten 39,6% der Menschen in den Städten, 2000 schon 47%. 1985 gab es 245 Millionenstädte, im Jahr 2000 waren es 372. Also Eric Hobsbawm hat es einmal als die größte Umwälzung von Klassenverhältnissen seit der Jungsteinzeit bezeichnet, also die Verwandlung von Bauern in Proletarier. Und da geht es nicht um Millionen, sondern um Milliarden. Und deshalb hat er offensichtlich recht.
Es geht ja nicht nur um ökonomische und soziale Umwälzungen, sondern auch um sowas wie Kulturrevolution. Proletarisierung, Urbanisierung können natürlich vielerlei bedeuten. Sie können bedeuten Verelendung. Jeder kennt die Bilder, die Vorstellung von Slum. Aber es kann auch bedeuten, dass sich eine junge, dynamische und meist weibliche Arbeiterschaft bildet. Es gibt natürlich immer beides überall, aber entscheidend für die Entwicklung ist das Gewicht, das die industrielle Arbeiterklasse erhält. Und genau darin besteht auch der Unterschied etwa zwischen Afghanistan und Südkorea. Oder zwischen Afrika und Südostasien.
Proletarisierung kann auch einfach nur zu Verelendung führen wie in Afghanistan oder in Teilen Afrikas, und dann haben wir das, was allgemein als „failing states“ bezeichnet wird. Diese Arbeiterinnen der 1. Generation werden ziemlich schnell zum Subjekt der Entwicklung. Ich sage bewusst „Arbeiterinnen“, weil die ersten Industrien sind immer die Massenfabriken der Textil- und Schuhindustrie. Erst in Japan, nach dem Krieg, dann später in Südkorea, dann in Indonesien, dann in China, und jetzt, zuletzt, in Vietnam.
Das Kapital sucht die jeweils billigste Arbeitskraft, und das sind halt die jungen Frauen vom Land. Und genau die sind es auch, die gerade aufgebrochen sind, ihr Glück zu suchen in der Stadt. Ihr persönliches Glück, persönliche Freiheit, und natürlich erstmal in den Hungerlohnfabriken von Nike oder Adidas landen. Dort geht es ihnen erstmal gar nicht so arg viel besser, also nicht nur Ausbeutung, sondern sexuelle Unterdrückung, Strafregime, überlange Arbeitszeiten und so weiter. Aber sie sind dort nicht mehr allein, sondern zusammen mit hunderten, tausenden anderen jungen Frauen. Und deshalb sind es die Arbeiterinnen, die sich wehren, die kämpfen, die ein neues Klima der Emanzipation in der Gesellschaft verankern.
Und die, nebenbei bemerkt, natürlich auch dann die Situation auf dem Land verändern. Sie bringen neue Verhaltensweisen zurück, sie schicken Geld heim. Und deshalb gibt es überall nicht nur die Arbeiterkämpfe, sondern auch Bauernkämpfe.
Ganz kurz zwei Beispiele, um dieses Muster klarzumachen, diesen Zusammenhang. Das erste Beispiel ist Südkorea. Dorthin ist die Schuhindustrie aus Japan gekommen. Dort begannen die Streiks der Schuharbeiterinnen in den 70er Jahren. 1979 gab es einen Polizeiangriff auf eine Demonstration von Arbeiterinnen einer Perückenfabrik. Wobei eine Arbeiterin ums Leben kam, Politiker verhaftet wurden und so weiter. Daraufhin gab es eine große, militante Demo, viele Demos, vor allen Dingen in Pusran damals, der Turnschuhhauptstadt der Welt. Und letztlich führte der Streit innerhalb der Diktatur darüber, wie man mit diesen Demos umgehen sollte, zur Ermordung des Diktators Pak Chung Heh und dem demokratischen Frühling von 1980.
Als das Militär erneut die Macht ergreift, wehren sich vor allem die Einwohner der Stadt Kwang Chu. Sie bilden Milizen und weiter. Bei der Einnahme der Stadt durch das Militär sind bis zu 2.000 Menschen ermordet oder verschleppt worden. Das erinnert ein bisschen an das, was neun Jahre später in Peking passiert ist. Die Vorgeschichte der Bewegung und die Sache in Kwang Chu führten etwa ab 1984 zur Bildung einer Bewegung an den Unis. Und die sieht genau in den Kämpfen dieser Arbeiterinnen ihr Vorbild.
Tausende Studenten verlassen die Unis und gehen in die Betriebe. Und sie sind ein bisschen der Sauerteig, der dazu führt, dass sich schnell eine große Gewerkschaftsbewegung bildet, auch in den Männerbetrieben. Während gleichzeitig die Textil- und Schuhindustrie weiterwandert, damals vor allem nach Indonesien. Nach der Ermordung zweier Studenten entsteht eine große Demokratiebewegung, die zwar die Studenten in vorderster Front sieht. Aber diese können nur so entschlossen kämpfen, weil sie wissen, dass die Arbeiterklasse hinter ihnen steht. 1987 zum Beispiel gibt es innerhalb von drei Monaten 3.600 Streiks und die Neugründung von über 1.000 Gewerkschaften.
Gut, der Übergang von der weiblichen Leichtindustrie zur männerdominierten Schwerindustrie war eine direkte Folge der Kämpfe der Frauen. Aber natürlich, im Fall Südkoreas muss man schon zugeben, dass das nur deshalb hat geschehen können, weil es mit dem kapitalistischen Aufschwung passiert ist. Das südkoreanische Kapital konnte das umdrehen in die Entwicklung der Schwerindustrie.
Das ist der Erfolg dieser gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung und der Demokratiebewegung letztendlich. Der Sturz der Diktatur war natürlich dieser gestiegenen strukturellen Macht der Arbeiter geschuldet. Und wie groß die bis heute ist, möchte ich nur erwähnen. Die Löhne der Automobilarbeiter in Südkorea sind heute höher als die in England und die Löhne der Werftarbeiter sind höher als die in Deutschland. Bei entsprechenden Arbeitszeiten.
Zweites Beispiel: Indonesien. Die Suharto-Diktatur wurde in der Krise gestürzt, also in dieser berühmten Asienkrise von 1998. Aber auch da spielten die Arbeiter die entscheidende Rolle. Indonesien, wie gesagt, gehörte zu den Tigerstaaten. Es hatte also auch eine industrielle Entwicklung gegeben, vor allem Textil- und Schuhfabriken, die aus Südkorea hergekommen waren. Korruption auf allen Ebenen. Aber auch hier sind es die Arbeiter, die anfangen zu kämpfen. 1994 streiken 5.000 in Medan, 1997 streiken 20.000 in Surabaya. Das scheint jetzt nicht so eindrucksvoll, aber es sind die einzigen großen Manifestationen von Widerspruch überhaupt während der Suharto-Diktatur, wenn man von Osttimor absieht.
Und deshalb konnte sich in diesen Bewegungen der Arbeiter – kleinere Bewegungen gab es woanders auch– die ganze Gesellschaft wiederfinden, von den Studenten bis zu den armen Bauern. Nach Ausbruch der Asienkrise, ab 1997, beteiligten sich dann auch andere Gruppen, vor allem die Studenten, die dann auf der politischen Bühne in Jakarta den politischen Sturz Suhartos herbeiführten. Aber auch die konnten das damals nur deshalb, weil die übergroße Mehrheit der Gesellschaft mit ihnen sympathisierte und sich eine Verbesserung des eigenen Lebens erhofften.
Ich selbst war kurz nach dem Sturz von Suharto in Indonesien. Ich habe dort einen emanzipatorischen Aufbruch erlebt, der wirklich die ganze Gesellschaft erfasst hatte. Ich denke, für wenige Monate, und ich habe zwei davon miterlebt, war Indonesien sicher das freieste Land der Welt.
Der Sturz dieser Militärdiktaturen, der ja ein großer politischer Umbruch in der ganzen Welt war, weil ja fast die ganze Welt davon betroffen war, fand nicht statt unter der Führung bestimmter Organisationen. Auch nicht unter der Führung von charismatischen Einzelpersonen, und er hat auch so gut wie nirgends zur Renaissance von kommunistischen oder revolutionären Organisationen geführt. Es gibt also weder eine KP noch einen Che Guevara in dieser Geschichte. Die Akteure kämpfen eigentlich überhaupt nicht um die Macht. Dieser Sturz geschah meistens einfach, weil der Druck der Straße, aus den Fabriken, den Unis, aus der Gesellschaft zu groß geworden war. Die ArbeiterInnen und Studenten setzten die Freiheit durch, indem sie sie sich nehmen.
Das heißt natürlich nicht, dass niemand organisiert hat. Es gibt natürlich kaum spontane Streiks, und es gibt auch kaum spontane Demos. Es gibt immer eine Vorgeschichte der Organisierung, natürlich. Aber halt nicht auf breiterer politischer Ebene, nicht national organisiert oder wie auch immer. In Südkorea und Indonesien waren es erst einzelne, dann eine Bewegung von Studenten, die immer vor die Fabriken gezogen waren. Aber es ist die große Mehrheit der Gesellschaft, die die politische Umwälzung durchsetzt.
Das Ergebnis dieser Aufstände ist natürlich bisher nur sowas wie eine bürgerliche Demokratie. Noch dazu in vielen Fällen eine, die ziemlich prekär ist. Wie man jetzt an den Philippinen gesehen hat. Alternative Teile der Elite übernehmen die Macht, die Regierung. Aber die, selbst wenn sie sich als Führer bezeichnen, haben keine organische Verbindung zu den eigentlichen Akteuren dieser Umwälzung. Doch, ich denke, die Gesellschaften haben sich damit, mit diesen Umwälzungen, doch ein bisschen die Voraussetzungen geschaffen, um überhaupt über Zukunft debattieren zu können. Um einen Weg aus dem kapitalistischen Dilemma zu finden.
Weltweit gibt es verbreitet Arbeiterkämpfe. Darüber wird wenig berichtet. Wir versuchen, die Lücke ein bisschen zu füllen, was Südostasien und China betrifft. Aber es ist wirklich auffällig: Die ArbeiterInnen kämpfen für sich, und die Kämpfe kommen nicht zusammen. Ich habe es in Indonesien erlebt: zwei Bekleidungsfabriken nebeneinander, die gleiche Arbeit, die gleiche Schicht von Arbeiterinnen, genauso alt, genauso groß. Und trotzdem streikt der eine Betrieb, und der andere streikt nicht. Die, die streiken, kommen überhaupt nicht auf die Idee, in den Nachbarbetrieb zu gehen, um die Leute anzustacheln. Nein, wir streiken jetzt, wir sind stark genug, wir brauchen niemand.
Für mich ist das eigentlich ein gutes Zeichen. Weil ich aus Europa eigentlich eher das Gegenteil kenne. Ich kenne so die Haltung dieser europäischen Gewerkschaften, die immer sagen: „Ja, die anderen machen ja nicht mit. Und deshalb können wir auch nicht.“
Was wir derzeit in Südostasien und China sehen, ist genau das Gegenteil. Wenn die Leute sich für stark genug halten, kämpfen sie. Und sie warten auf niemand. Manchmal sind es sogar Minderheiten innerhalb eines Betriebes, die streiken, ohne auf den Rest des Betriebes zu warten. Und vielleicht nie zu streiken. Es drückt sich ein ziemlich großes Selbstbewusstsein in diesen Kämpfen aus. Der Nachteil ist: sie kommen nicht zusammen, und ich weiß nicht, ob es ein Nachteil ist, aber man muss es festhalten: sie erreichen nicht die politische Ebene. Es ist kein Kampf um die Macht. Es ist immer nur ein Kampf um die eigenen Interessen.
Textil- und Schuhindustrie sind inzwischen aus Indonesien nach China gezogen, und inzwischen auch nach Vietnam. Aber auch in Vietnam hat das Kapital, nebenbei bemerkt, keine Ruhe mehr. Da gab es gerade jetzt, seit Ende Dezember bis Mitte März eine ziemlich eine ziemlich große Streikwelle. Die größte Streikwelle, die es da je gegeben hat. Zwei Streikwellen, mit jeweils, soweit wir wissen, mehr als 50.000 ArbeiterInnen, die gestreikt haben. Und die auch eine 40-prozentige Erhöhung des Mindestlohnes durchgesetzt haben. 40 Prozent! Vor allen Dingen in Textil- und Schuhfabriken. Aber am Ende dann auch in den japanischen Elektronikfabriken. Und das hat in Japan einen ziemlichen Schock verursacht. Weil ein Teil der japanischen Elektronikindustrie nämlich gerade im Moment von China nach Vietnam ziehen will. Und ausgerechnet in dem Moment, wo die sich entschließen, aus China weg – weil die dort vor den chinesischen Wanderarbeitern flüchten, nach Vietnam gehen. Weil sie denken, dort gibt es eine Arbeiterklasse, die nicht so gerne streikt. Genau da gibt es dort eine große Streikwelle.
Also die Schlussfolgerung für China: Ich habe jetzt gar nichts gesagt zu China, das macht auch der Felix. Also China ist mit Vietnam die letzte große Entwicklungsdiktatur. Und was ich damit sagen will, ist klar. Es gab rechte und es gab linke Militärdiktaturen. Und sicher kann man sich über den politischen Unterschied lange unterhalten. Aber ich denke, die soziale Entwicklung und die Proletarisierung, später der Sturz, die Entwicklung der Arbeiterklasse. Dieses Muster gibt es in der rechtesten Militärdiktatur wie in Indonesien oder Südkorea genauso wie in Vietnam oder China. Und die Arbeiterklasse, die woanders den Sturz initiiert hat, getragen hat, herbeigeführt hat, all das haben wir jetzt auch in China. Relativ spät eigentlich, aber dafür auch umso heftiger.
Und noch etwas. Die Mehrheit der Menschheit ist jetzt, in den letzten 15, 20 Jahren, proletarisch geworden. Das heißt, sie hat außer ihrer eigenen Arbeitskraft keinen anderen Zugang zu Produktionsmitteln mehr. Erst jetzt, erst seit vielleicht 15 Jahren, ist das so. Vorher war die Mehrheit der Weltbevölkerung Bauern. Das war bis vor einigen Jahrzehnten noch die übergroße Mehrheit der Bevölkerung. Und deshalb denke ich, eine der Voraussetzungen dafür, dass wir über Weltrevolution reden können, ist eigentlich jetzt vorhanden.
Und die gesamte Menschheit kennt jetzt den entwickelten Kapitalismus, seine Versprechungen und hat auch ein Gefühl dafür gekriegt, wie leer diese Versprechungen in Wirklichkeit sind. Revolutionen sind natürlich immer etwas Neues. Es gibt kein Modell dafür. Das ist auch das Spannende daran. Was erwarten wir von Revolutionen? Die Entstehung einer revolutionären Weltorganisation? Globalisierung von unten? Große Solidaritätsaktionen, gemeinsame Kämpfe? Ich weiß es nicht. Der Kommunismus ist die unter unseren Augen vor sich gehende Bewegung. Also muss man gucken, was da wirklich vor sich geht.
Ideologien haben bei diesen Umstürzen, von denen ich berichtet habe, keine Rolle gespielt. Ideologien gehören in die Phase der Diktaturen, sowohl entweder Kommunismus oder Antikommunismus. Meistens Antikommunismus. Aber egal. Ich denke, dass wir das für China auch nicht erwarten müssen oder sollten. Dass es revolutionäre Organisationen geben wird, in großem Maßstab. Oder dass eine neue Ideologie entwickelt werden muss. Ich denke, die Diktaturen sind beseitigt worden, wenn der Widerspruch zwischen den Erwartungen der Menschen und der Realität zu groß wird.
Geschichte
Felix: Ich möchte mich nur ganz kurz vorstellen. Ich bin Felix, und ich schreibe in den ‚Grundrissen‘ Artikel zu China, in der ‚Jungen Welt‘ befinden sich auch von mir ungefähr 15 Artikel zu China, und auch in der letzten Ausgabe der ‚Fantomas‘.
Nachdem Bernhard jetzt über den internationalen Hintergrund gesprochen hat, möchte ich jetzt noch einmal über den geschichtlichen Hintergrund der Kämpfe in China sprechen. Oft gibt es in Europa immer noch ziemlich viel Wissen über die Mao-Zeit, weil während der Kulturrevolution China so in war. Heute ist China wieder im Mittelpunkt wegen dem Wirtschaftswunder. Beides kann eigentlich nie so richtig zusammengebracht werden. Das wird immer so als Gegensatz dargestellt. Und ich möchte deshalb jetzt die Hintergründe erläutern, wie denn die heutigen Kämpfe auch von dem beeinflusst sind, was seit 1949 in China passiert ist.
Ich fange jetzt einmal mit den Arbeitern an. Es gab in den 20er Jahren in China eine sehr starke Arbeiterbewegung, die aber 1927 von der Kuomintang im Wesentlichen zerschlagen worden ist. Wie wir alle wissen, hat die Revolution sich dann auf das Dorf zurückgezogen, und Mao Tse Tung hat dann die Strategie entwickelt, vom Land die Städte einzukreisen. Er hat die chinesische Revolution als Partisanenkampf der Bauernschaft unter Führung der kommunistischen Partei definiert. Das heißt, in der chinesischen Revolution selbst spielen demnach die Arbeiter und Streiks im Grunde genommen keine große Rolle mehr. Die Bauernarmeen erobern dann am Ende die Städte und tragen die Revolution militärisch weiter.
Dann wird mit der Etablierung der Volksrepublik China eine neue Staatsarbeiterklasse geschaffen, wo in den Staatsbetrieben ein von der Wiege bis zur Bahre versorgtes Proletariat geschaffen wird. Aber es ist eine Illusion zu glauben, dass das für alle Arbeiter so war.
Auch in der Mao-Ära gab es immer einen Teil von prekärer Beschäftigung, wie man heute sagen würde. Von Arbeitern, die nur zeitweise in den Staatsbetrieben gearbeitet hatten. Die über keine sozialstaatliche Leistung verfügten und sofort wieder ins Dorf zurück geschickt wurden, wenn sie nicht mehr gebraucht wurden. Man kann davon ausgehen, dass ungefähr 30 – 40 Prozent der chinesischen Arbeiterklasse zu diesen prekären Kontraktarbeitern gehörten. Ungefähr 60 – 70 Prozent waren diese versorgten Staatsarbeiter.
Die erste riesige Streikwelle gibt es 1957. Nach dem Ungarnaufstand gibt es im sozialistischen Lager Unruhe. Es gibt auch gleichzeitig in China Bauernunruhen. Millionen Bauern treten aus den Kollektiven wieder aus. Und in den Städten gibt es eine riesige Streikwelle. Es geht um Löhne, es geht gegen Bürokratismus, gegen Willkür der Kader. Und schon in dieser ersten Streikwelle von 1957 sieht man diese historische Spaltung einmal zwischen den Kernbelegschaften und dann zwischen den Kontraktarbeitern. Und das zieht sich im Grunde genommen bis heute so durch. Die haben praktisch nie zusammen gekämpft.
Duale Gesellschaft
Was damals auch entstanden ist, was sich bis heute nachwirkt, ist das, was ich die duale Gesellschaft nenne. Das werde ich jetzt gleich erklären. 1958 wurde das Huko-System eingeführt, auf Deutschübersetzt heißt das „Haushaltsregister“. Worin bestand jetzt diese duale Gesellschaft? Das ist eine Besonderheit in China, die es in keinem anderen Land gibt. Es ist eine Art Mauer zwischen Stadt und Land.
Jeder Chinese hat praktisch ein Huko, ein Haushaltsregister. Und davon gibt es zwei Sorten. Da gibt es einmal den Agrar-Huko, und den Nicht-Agrar-Huko. Und bis Anfang der 80er Jahre konnte jeder Chinese nur dort leben, wo er geboren wurde. Das heißt, ich bin Bauer, ich bin auf dem Dorf X geboren. In meinem Huko steht „Agrar-Huko“ drinnen. Ich muss dort bleiben, bis ich sterbe. Die einzige Möglichkeit, das praktisch zu verändern, war im Grunde genommen, zur Armee zu gehen oder auf eine städtische Universität. Was sehr schwierig war und natürlich nur ein verschwindend geringer Prozentsatz machen konnte.
Mit diesem Haushaltsregister waren die Getreidekarten verbunden. Die Stadt wurde subventioniert, und jeder Stadtbürger bekam Getreidekarten, hatte ein Anrecht auf Getreide im Monat. Die Bauern nicht. Die Bauern mussten sich in den Volkskommunen sozusagen selber versorgen und waren vom Produktionsergebnis ihres jeweiligen Kollektivs abhängig. Das heißt, wenn die Bauern in die Stadt gegangen sind, nach Peking oder Shanghai, bestand keine Möglichkeit, auf legalem Wege Essen zu bekommen.
So wurde ein Ansturm der Bauern auf die Städte verhindert. Und dieser Huko wurde eingeführt, als es schon zur ersten Massenflucht anfänglich der Hungersnot bei der Kollektivierung kam. Hintergrund dieses ganzen Systems ist, dass auch in China, wie in Stalins Sowjetunion, man die Industrialisierung über die Ausbeutung des Dorfes finanziert hat. Indem der Staat den Bauern das Getreide zu Dumpingpreisen abnimmt. Dadurch die Industrialisierung finanziert und gleichzeitig die Löhne der Arbeiter niedrig halten kann.
Die Folge dieses Systems: es hat keine Urbanisierung stattgefunden. Als die Kommunisten 1949 an die Macht kommen, gibt es 80 Prozent Landbevölkerung, 20 Prozent Stadtbevölkerung. Anfang der 80er Jahre ist es noch das gleiche Verhältnis. Maos Plan war es ursprünglich während des Großen Sprungs, die Bauern vor Ort in Arbeiter zu verwandeln. Aber auch das hat nicht funktioniert. Das Verhältnis von Bauern zu Arbeitern war auch nach 20 Jahren Revolution, Anfang der 80er Jahre, genau das gleiche.
Diese duale Gesellschaft hat dazu geführt, dass im Grunde genommen die traditionellen Strukturen gestärkt wurden. Natürlich, wenn ich ein Dorf habe mit der Bauernfamilie, und die Bauern haben keine Möglichkeit, das Dorf zu verlassen, dann wurden damit natürlich diese Strukturen, die die Revolution eigentlich zerschlagen wollte, gestärkt. Und ein anderes Ergebnis war, dass die Einkommen der Bauern nicht gestiegen sind. Die Chinesen haben Anfang der 50er Jahre durchschnittlich genauso viel gegessen wie Anfang der 80er Jahre.
Was man natürlich nicht verschweigen darf: die Bevölkerung hat sich in dieser Zeit auch vermehrt. Aber das, was der einzelne an Einkommen hatte und zu essen bekam, das hat sich auch nicht verändert.
Dann die Erfahrungen, die die Arbeiter mit diesem Staat machen. Das ist nämlich mein Spezialthema, die große Hungersnot während des Großen Sprunges nach vorne. Die Toten werden unterschiedlich berechnet nach den Statistiken, die die chinesische Regierung schon in den 80er Jahren veröffentlicht hat. Die Zahlen sind zwischen 15 und 45 Millionen Toten. Und während dieser Hungersnot werden die Städte geschützt. In Peking und Shanghai kommt es auch zu Mangelernährungen, zum Teil zu Wasserkrankheit. Aber nicht zum Massensterben, während in den chinesischen Zentralprovinzen Millionen von Bauern sterben.
1961 wird diese radikale Politik des Großen Sprunges nach vorne geändert, nachdem Mao Tse Tung die Nachricht bekommt: in zwei Wochen werden die Getreidevorräte von Peking zu Ende sein. Also am Ende war sogar die Stadt bedroht. Währenddes Großen Sprunges sind trotz des Huko-Systems wegen dieser schnellen Industrialisierung viele Frauen in die Städte gegangen.Und jetzt, 1962, kommt es zur großen Rückschickung. Es werden Millionen von Menschen, alle, die man sozusagen in Städten nicht mehr braucht, wieder zurückgeschickt.
Das hat natürlich für den Staat den Vorteil, dass er diese Menschen nicht mehr ernähren muss, weil sie ja im Dorf keine Getreidekarten haben und vom output der Volkskommunen abhängig sind. Aber das ist eine wichtige Erfahrung, die die Arbeiter mit dem Staat gemacht haben. Dass sie in der Not geschützt wurden gegenüber dem Dorf.
Nur ganz kurz kann ich natürlich nur auf diese ganzen Ereignisse eingehen: 1966 kommt es zur Kulturrevolution. Die findet hauptsächlich in den Städten statt. Man kann die urbane Jugend mobilisieren. Das Dorf ist nach dem Großen Sprung nach vorn eigentlich völlig ausgepumpt. Ich meine, nach dem Großen Sprung konnte Mao die Bauern auf dem Dorf nicht mehr mobilisieren. Und auch jetzt kommt es wieder zu Arbeiterkämpfen.
Hier haben wir wieder das gleiche Phänomen: In vielen Städten, vor allem in Shanghai, ergreifen viele Kontraktarbeiter die Gunst der Stunde. Es wurde ja damals Kritik geübt an der sogenannten revisionistischen Linie von Shao Shi, dem Machthaber des kapitalistischen Weges. Und die Kontraktarbeiter sagen jetzt: „Wir werden hier ausgebeutet. Wir haben keine Sozialleistungen. Wir werden sofort wieder weggeschickt, wenn wir nicht mehr gebraucht werden. Wir wollen auch an dem ‚eisernen Reistopf‘ beteiligt werden.“
Der Staat reagiert dann 1967/68 mit einer Kampagne der Kritik am Ökonomismus und wendet sich explizit gegen diese Forderung der Arbeiter. Die Staatsarbeiter stehen in der Kulturrevolution eher auf Seiten der Ordnung und verhindern im Grunde genommen, beispielsweise in Shanghai, dass sich die Kulturrevolution weiter auf ihre Betriebe ausdehnt. Auch hier haben wir wieder die traditionelle Spaltung zwischen diesen beiden Teilen der Arbeiterklasse.2
Das nächste, worauf ich eingehen möchte, hier haben wir wieder das gleiche Phänomen. Das ist die Demokratiebewegung 1989 auf dem Tienanmen. Ausgegangen ist das natürlich von den Studenten. Aber es kommt dann auch in vielen Städten Chinas zur Bildung von freien Gewerkschaften. In Peking schließen sich innerhalb von wenigen Tagen 30.000 Arbeiter an. Hier haben wir auch wieder die starke Fragmentierung: die Studenten sagen zuerst „das ist unsere Demokratiebewegung“ und verbieten den Arbeitern sogar, auf den Platz des Himmlischen Friedens zu kommen.
Die Arbeiter wiederum, die Staatsarbeiter, die ihre Gewerkschaften gründen, machen zur Voraussetzung, dass man das Haushaltsregister von Peking haben muss, um an den Gewerkschaften teilzunehmen. Manche marschieren dann auch mit ihren Fahnen der Arbeitseinheit als geschlossene Gruppen auf.
Interessant ist, dass das Regime das dann später versucht so darzustellen, als wenn praktisch die subversiven Elemente vom Dorf dort diese Unruhen inszeniert hätten. Obwohl das ganz massiv von den Studenten der Elite-Unis ausgegangen ist und auch von den Arbeitern aus den Staatsbetrieben.
Und manche China-Experten sind heute noch der Meinung, dass hauptsächlich die Angst vor der Arbeiterbewegung der Grund war, warum dann die chinesische Regierung den Befehl zur Niederschlagung gegeben hat und den Ausnahmezustand verhängt hat.
Nach dieser blutigen Niederschlagung hat sich für lange Jahre weder die Arbeiterbewegung noch die Studentenbewegung davon erholt. Und einer der Anführer der freien Gewerkschaft damals ist heute in Hongkong und macht die website des ‚Chinese Labour Bulletin‘, wo Nachrichten von verschiedenen Streiks zusammengefasst werden. Seine Lehre aus dem Massaker ist im Grunde genommen, dass er dafür eintritt, den Gewerkschaftskampf auf ökonomische Forderungen zu reduzieren und nicht mehr politisch das System herauszufordern.
So, dann kurz nochmal zusammengefasst, das kam praktisch auch schon im ersten Referat vor: Die städtischen Arbeiter, die immer noch versorgt sind, haben sehr viele Vorurteile gegenüber den Migranten. Leute aus Hunan, das sind alles Betrüger, aus Sechuan das sind alles Diebe, aus der Mandschurei, das sind Raufbolde, die sind verantwortlich für die Kriminalität. Also alle Vorurteile, die wir hier gegen die ausländischen Migranten kennen, haben dort im Grunde genommen auch die alteingesessenen Pekinger und Shanghaier gegen die chinesischen Migranten vom Land.
Und meiner Meinung nach ist immer die Haupthaltung in den Kämpfen in den Staatsbetrieben: Der Staat soll helfen. Der Staat soll ihnen wieder Arbeit geben. Der Staat soll die Staatsbetriebe weiter subventionieren. Und auch die Forderungen richten sich meist an den Staat. Wobei dann oft noch Argumente aus der alten, marxistischen Doktrin aufgegriffen werden: „Wir sind doch die Avantgarde. So steht‘s doch auch in der chinesischen Verfassung, im Parteistatut. Warum hilft uns der Staat nicht?“
Und diese Haltung unterscheidet sich, wie wir gleich feststellen werden, doch extrem von den Bauern und den Migranten. Jetzt komme ich ganz kurz noch zu den ländlichen Arbeitsmigranten. Auch da haben wir eine sehr starke Fragmentierung nach der Herkunft. Zum Beispiel ein Tschösiang-Dorf, wo alle wohnen, die aus dieser Provinz kommen. Alle Kindermädchen in Peking kommen aus der Provinz Hang-Hui, fast alle Müllarbeiter aus der Provinz Hunan. Da haben wir eine sehr starke Fragmentierung auch nach der sozialen Herkunft.
Das Neue an diesen Arbeitsmigranten ist, dass sie praktisch diese Überwindung der dualen Gesellschaft – in den 80er Jahren ist diese duale Gesellschaft erodiert. In dem Moment, wo der Staat Privatbetriebe zugelassen hat, hatten die Bauern auch die Möglichkeit, in die Städte und in die Kreisstädte zu gehen, um zu arbeiten. Ganz wichtig waren die Unternehmen in kleineren Städten. Die waren nicht mehr abhängig von der staatlichen Getreideversorgung und haben praktisch das Huko-System überrannt.
Dieses Huko-System, das Haushaltssystem, gibt es noch bis heute, aber der Staat kann es faktisch nicht mehr umsetzen. Das einzige, wo es immer noch eine Rolle spielt, ist bei der Bildung. Dass immer noch die Stadtkinder privilegiert sind und auch mit schlechteren Noten auf Universitäten gehen können. Aber die Mingong, die ländlichen Arbeitsmigranten, haben praktisch diese duale Gesellschaft zersprengt. Und das ist auch interessant. Die Frage, die ich mir stelle, ist, wie in diesen Kämpfen auch Stadt und Land verbunden werden kann. Wir haben es hier mit einer neuen Arbeiterklasse in China zu tun, die noch über eigenes Land verfügen.
Der Boden ist ja noch staatlich, und die Bauern bekommen vom Staat Land zugeteilt. Und haben auch ein Recht darauf. Diese Arbeiterklasse hat noch nicht „nichts zu verlieren als ihre Ketten“ und hat auch noch eine gewisse Versorgung zu Hause. Das heißt, wenn sie die Arbeit in den Städten verlieren, wissen die meisten, in der Heimat gibt es noch die Familie, die noch selber zumindest zur eigenen Versorgung Getreide anbaut.
Die Fragen, die sich für mich stellen: Wann verliert in diesen Kämpfen der Zentralstaat seine Autorität? Weil der Zentralstaat, die Regierung in Peking genießt immer noch mehr Vertrauen als die unteren Ebenen des Staatsapparates. Und wie kann diese Spaltung zwischen diesen Staatsarbeitern und den Prekären überwunden werden? Eine Frage ist auch, ob das Staatseigentum verteidigt werden soll. Wir haben gerade schon gehört, dass sowohl die privaten als auch die Staatsbetriebe im Grunde genommen in der Hand von korrupten Managern sind, die sich selber bereichern.
Die Frage, die sich auf Dauer stellt: wann fällt das Huko-System? Wann werden alle Chinesen zu gleichberechtigten Staatsbürgern? Wann wird die Diskriminierung der ländlichen Bevölkerung aufgehoben?
Ja, nochmal eine kurze Erklärung zu dem, worüber wir überhaupt reden: (er zeigt auf einer Karte, wo Minderheiten wohnen, wo wohlhabende Bauern leben, Mandschurei mit dem „Rostgürtel …)
BäuerInnen
Jetzt komme ich zu den Bauern. Manche sagen: „China, das ist Manchester-Kapitalismus und Neoliberalismus“, aber es unterscheidet sich doch noch auch dadurch, dass der Boden noch staatlich ist. Das Nutzungsrecht bekommen die Bauern für 30 Jahre verpachtet. Das ist im Grunde genommen noch die gleiche Ordnung, die es 1949 mit der Bodenreform gab. Und die Bauern, ich habe es angedeutet, haben eine andere Haltung zum Staat. Weil ihre Erfahrung mit der staatlichen Vollversorgung war nämlich die schlimme Hungersnot. Damals wurden Volksküchen eingeführt. Man durfte nicht mehr zu Hause kochen. Es wurde versucht, Kindergärten, Altenheime einzuführen.
Und das Ergebnis war eine der schlimmsten Hungersnöte im 20. Jahrhundert. Viele der Bauern haben zu diesem Zeitpunkt das Vertrauen in die Kollektivwirtschaft und in den Staat verloren. Die ersten, spontanen Versuche der Dekollektivierung gibt es dann Anfang der 60er Jahre. Und dann noch einmal in den 80er Jahren. Einerseits sind es dann die Mingong, die Wanderarbeiter, die praktisch dieses Huko-System sprengen und die Bauern in vielen Provinzen in Zentralchina lösen einfach die Volkskommunen auf.
Die Mingong sind nicht nur heute die Träger des chinesischen Wirtschaftswunders, sondern die chinesischen Bauern sind eigentlich die entscheidende Triebkraft der Reformbewegung.
In den 80er Jahren ging‘s dann den Bauern eigentlich ziemlich gut. Es gab einen riesigen Aufschwung. 1984 war das erste Mal in der chinesischen Geschichte, wo die Bauern so viel zu essen hatten, wie von der UNO als Mindestbedarf an Kalorien definiert wird. Die duale Gesellschaft wurde überrannt, das habe ich schon gesagt. Gleichzeitig macht der Staat noch mehr Zugeständnisse. Man kann in China bis heute nur auf Dorfebene den Bürgermeister in demokratischen Wahlen direkt wählen. Der Staat hat in den 80er Jahren eine Dezentralisierung durchgeführt, wo das Dorf immer mehr Verantwortung bekommen hat. Und der Staat sich aus vielen Aufgaben zurückgezogen hat.
Jetzt haben wir seit den 90er Jahren gerade in Zentralchina Stagnation der Einkommen, eine sehr hohe Steuerlast, weil die Dörfer sich im Grunde genommen selbst versorgen müssen und nur sehr wenig staatliche Zuschüsse bekommen.
Auf dem letzten Volkskongress wurde eine neue Politik verkündet. Dem Dorf soll jetzt massiv geholfen werden. Aber es ist fraglich, ob das dann auch so passiert. In den 80er Jahren bricht im Grunde genommen dann auch das ländliche Gesundheitssystem zusammen und alle Versuche des Staates, auch jetzt, es wieder aufzubauen, scheitern. Es liegt nicht nur daran, dass vielleicht der Wille des Staates fehlt, sondern ich meine, dass die Bauern ein solches Misstrauen gegenüber diesem Staat haben, dass alle Versuche, so etwas wie ein Gesundheitssystem einzuführen, am Widerstand von unten auch scheitern.
Hier ist auch wieder die Frage, das Huko-System. Ein viel größeres Problem für die chinesische Regierung ist: was soll man mit dieser Zwergbauernwirtschaft machen? Die chinesischen Bauern haben im Durchschnitt 1/15 Hektar, und diese egalitäre Zwergbauernwirtschaft ist halt unproduktiv. Und 800 Millionen chinesische Bauern sind nicht in der Lage, das Land zu ernähren. Es muss immer mehr Getreide importiert werden.
Was soll der Staat jetzt machen? Auf Dauer geht das natürlich nicht so weiter. Eine Möglichkeit wäre eine neue Genossenschaftsbewegung, was von der Neuen Linken, auf die ich gleich eingehen werde, gefordert wird. Aber ich meine, das wollen die Bauern nicht. Eine andere Möglichkeit wäre eine Privatisierung, was zur Folge hätte, dass die chinesischen Bauern ihre letzte Lebensversicherung verlieren. Und solange kein Sozialstaat aufgebaut ist, würde Arbeitslosigkeit den Hungertod bedeuten. Und davor scheut der Staat auch zurück. Es gibt bisher in der Partei auch keine Kraft, die wirklich die Privatisierung des Bodens fordert.
Der Staat hat gerade verkündet, es gibt ein Programm für das neue sozialistische Dorf. Milliarden sollen jetzt aufs Dorf transferiert werden, um die Lage zu verbessern. Aber ist der Staat überhaupt dazu in der Lage? Nach Schätzung eines chinesischen Agrarexperten verschwinden ungefähr 80 Prozent der Gelder auf dem Weg von oben nach unten und kommen gar nicht auf dem Dorf an.
Widerstand
Dann ist natürlich auch die Frage: Wie kann überhaupt Widerstand vernetzt werden? Es gibt fast täglich auch lokale Bauernunruhen in China. Die aber fast nie über die Dorfgrenzen hinausgehen.
Ich möchte noch kurz darauf eingehen, wenn es heute in China Unruhen gibt, gibt es natürlich auch immer bestimmte Traditionen, die immer zitiert werden. Einmal eine lange Geschichte von Bauernaufständen, die zu Dynastiewechseln geführt haben. Die Partei ist sich dessen bewusst. In den letzten Jahren wurden Berge an Literatur veröffentlicht zum Problem der Bauern. Man hat das Problem auf jeden Fall jetzt erkannt.
Die Studenten haben sich 1989 eher auf den 4. Mai bezogen. Das war die erste Demokratiebewegung nach dem 1. Weltkrieg. Mittlerweile hat sich das geändert. Mittlerweile haben wir das Problem, dass der Nationalismus sehr stark geworden ist. Und die Träger des Nationalismus sind auch hauptsächlich die Studenten mit antijapanischer Stoßrichtung.3
Es gibt auch bei den Arbeiterkämpfen einzelne, die sich auf verschiedene Rebellengruppen der Kulturrevolution beziehen. Auf dem Platz des Himmlischen Friedens, auf diese Bewegung von 1989, bezieht sich eigentlich in China niemand mehr. Es ist zum Teil in Vergessenheit geraten. Eine solche direkte Konfrontation mit dem Staatsapparat möchte heute niemand.
Wo ist das emanzipatorische Potential? Dazu hat Susanne schon etwas gesagt. Bisher sind es hauptsächlich Kämpfe um Löhne, um die Arbeits- und Lebensbedingungen zu verbessern. Es wird noch nicht das System als solches in Frage gestellt.
Ein Problem, das wir haben, das in China traditionell sehr verankert ist: Für Probleme sind immer die bösen Kreiskader verantwortlich, aber die gute Zentralregierung kann uns ja noch helfen. Das hatten wir auch im Film vorher. Da gehen dann tausende von Bauern nach Peking, um sich dort beim Beschwerdebüro der Zentrale zu beschweren über die Dorfkader. Was aber meistens gar nichts hilft. Und dieser Glaube ist bisher noch nicht zerstört worden.
Eine Frage, die ich mir auch stelle: Wie kann man überhaupt in China sowas wie Sozialismus ohne den Staat denken? Das ist auch ein sprachliches Problem: Es gibt einen Begriff, und der bedeutet „Staat“, „Land“, „Regierung“ und „Nation“. Das heißt, die Chinesen haben überhaupt kein Vokabular, um zwischen Staat und Land und Nation zu unterscheiden. Ein anderes Beispiel dafür ist, dass der Kommunismus wörtlich übersetzt worden ist mit „öffentliches Eigentum“ und dann „-ismus“ angehängt.Wo die Idee der Kommune gar nicht darin vorkommt.5Deswegen ist es, glaube ich, ziemlich schwierig, in China so etwas wie eine staatskritische oder anarcho-kommunistische oder wie man es nennen möchte, Linke zu etablieren. Man hat so eine Debatte auch in den 20er Jahren gehabt. Aber der Sozialismus ist so mit dem Staat verbunden.
Was aber passieren könnte: Wenn es in China Kämpfe von noch radikalerem Ausmaß gibt, dass die Revolution gegen Staat und Kapital zusammen fällt, weil die Erfahrung ist – wenn ich streike, dann schickt der Staat die anti-riot-Polizei, um mich niederzuknüppeln. Dann ist diese Verbindung automatisch da.
Die ist nicht immer da: Im Ruhrgebiet haben 1890 die Ruhrarbeiter gestreikt. Und dann hat der Kaiser Wilhelm gesagt, er schickt nicht die Polizei und die Armee, um die Geldsäcke zu schützen. Und dann endete die Streikresolution mit einem dreifachen Hoch auf den Kaiser.6Da haben wir diese Verbindung nicht. Aber wenn der Staat gleich die Knüppel für die Geldsäcke schickt, dann ist es natürlich auch möglich, dass das zusammenfällt.
Dann möchte ich kurz darauf eingehen: Es hat sich in den letzten Jahren so etwas wie eine „Neue Linke“ in China etabliert. Das hat mit der neuen Linken, die wir von 1968 kennen, relativ wenig zu tun. Das sind hauptsächlich Intellektuelle, Akademiker oder auch Parteikader, die mit der sozialen Ungleichheit unzufrieden sind.Und meinen, es geht so nicht weiter. Aber im Unterschied zu den alten, vielleicht konservativen Linken im Parteiapparat übernehmen die jetzt schon auch Theorien aus dem Westen, um die Partei und die soziale Situation zu kritisieren. Was aber charakteristisch ist: Diese Neue Linke existiert völlig getrennt von den sozialen Unruhen. Die gehen nicht auf die Dörfer, um da Propaganda zu machen. Es ist hauptsächlich eine städtische und akademische Debatte.
Gleichzeitig ist eine sehr starke Idealisierung der Mao-Zeit und des Staatssozialismus immer noch vorhanden. Man muss auch sagen, dass die Intellektuellen momentan in keiner prekären Lage sind, sondern dass viele sich im Konsumrausch befinden. Sie können jetzt auch eine Wohnung und Autos kaufen. Ich will mal ein Beispiel nennen. Es haben linke Intellektuelle ein Theaterstück entwickelt, „Che Guevara“ hieß das. Und es wurde sogar in Fabriken aufgeführt, und dann auch verboten. Also die hatten schon vor, Ideen, alte sozialistische Ideen wieder zu den Arbeitern zu tragen.
Aber der Hauptakteur, der das Theaterstück entwickelt hat, der darf das Frühlingsfestprogramm für das chinesische Staatsfernsehen drehen. Das gucken alle Chinesen während des Frühlingsfestes, Einschaltquote ist wahrscheinlich 100 Prozent. Selbst diese Leute, die kritisch sind, sind im System immer noch eingebunden. Und der Staat sorgt auch dafür, dass sie noch Möglichkeiten haben, sich in dem System zu entwickeln. Wir haben also jetzt so prekären Intellektuellen, die völlig außen vor stehen und meinen, wir gehen jetzt auf die Dörfer, um die Bauern zu organisieren.
Muss der Widerstand, der jetzt entsteht, fortschrittlich sein? Einmal profitieren unheimlich viele Sekten – die bekannteste ist ja die Falun Gong. Dann gibt es noch 50 verschiedene christliche Sekten mit sehr abstrusen Theorien, die auf den Dörfern sehr erfolgreich sind. In Zentralchina in den Provinzen sind die Kirchen voll. Alte Frauen, die nicht lesen und schreiben können, noch nie vorher etwas vom Christentum gehört haben, singen Lieder, dass Jesus sie retten soll und so weiter. Das haben wir auch.
Das ist natürlich für den Staat sehr gefährlich und der Staat hat auch Angst, weil sehr viele Rebellionen in der chinesischen Geschichte unter religiösen Vorzeichen stattfanden. Dann haben wir auf der einen Seite noch die Dissidenten und die Demokratieaktivisten, die nach dem Massaker von 1989 ins Ausland gegangen sind. Und viele haben mittlerweile auch ihre Meinung geändert. Vielen schwebt auch so eine Demokratisierung Chinas vor, ohne dass die Massen einbezogen werden und sie praktisch auch die neue Regierungselite bilden können.
Ein weiteres Problem ist, wie ich meine: Sowohl das neue Kapital in China als auch das internationale Kapital ist an einer Destabilisierung von China nicht interessiert und wird dem Regime in Peking im Fall von schlimmeren Krisen, da bin ich mir ziemlich sicher, den Rücken stärken.
Und was ich eben auch schon angesprochen habe: Ein Widerspruch zwischen Studenten und Staat ist, dass viele Studenten meinen, der Staat ist nicht hart genug gegenüber Japan und den USA, vertritt die nationalen Interessen Chinas nicht stark genug. Und ich meine, dass es hauptsächlich mittlerweile in eine sehr reaktionäre, nationalistische Richtung geht. Ab und zu lässt der Staat dann diese Kräfte sich austoben in antijapanischen Demos. Und wenn‘s dem Staat dann zu bunt wird, dann wird‘s halt wieder verboten. Das ist ein Konflikt, der unter der Oberfläche schwelt. Und es kann vielleicht sein, dass wir in China große riots haben, nicht wegen sozialer Probleme, sondern weil nationalistische Studenten meinen, man müsste also weiter gegen Japan vorgehen.
Dann möchte ich noch ein paar Fragen aufwerfen:
Ist es eigentlich unbedingt ein Nachteil, dass die Proteste lokalen Charakter haben?
Müssen sich alle in Peking am Platz des Himmlischen Friedens versammeln, um den Staat herauszufordern?
Ein Punkt, den ich noch aufgreifen möchte, ist im Rahmen der Empire-Theorie von Negri. Der meint ja, das Empire ist von jedem Punkt aus angreifbar. Ist das Empire eigentlich auch von chinesischen Dörfern angreifbar? Kann es sozusagen von dort aus ins Wanken gebracht werden?
So, jetzt möchte ich auch langsam zum Schluss kommen.
Was haben diese Klassenkämpfe in China eigentlich mit uns hier zu tun? Das Problem in Europa, meine ich, ist, dass China immer noch durch die Brille der Kulturrevolution gesehen wird. Also viele ältere Linke haben Erfahrungen mit China gemacht während der Kulturrevolution. Davon ist ihre Einstellung zu China stark geprägt. Die Aufarbeitung, Beschäftigung mit China ist natürlich dann auch schwierig, weil das mit den Erfahrungen mit den eigenen Niederlagen hier in Europa, mit dem Scheitern der 68er-Bewegung, der Studentenbewegung, dem Scheitern der K-Gruppen usw. verbunden ist.
Gleichzeitig gibt es wenige Identifizierungsmöglichkeiten mit den Kämpfen in China. Es gibt keinen Che Guevara, es gibt keinen Subcomandante Marcos. Es gibt keinen lateinamerikanischen Flair mit Rum und kubanischer Musik. Und es gibt natürlich auch eine hohe Sprachbarriere. Weshalb ich es sehr toll finde, dass einige aus dem Umfeld von ‚umwaelzung.de‘ jetzt angefangen haben, chinesisch zu lernen.
Aber ich denke, wir sollten China neu entdecken. Warum? Wenn man den Vortrag heute abend gehört hat – ich glaube, das war jetzt nicht einfach nur so der übliche Internationalismus – man hört jetzt mal was zu Afrika, zu Venezuela, zum Kongo, und findet das ganz interessant. Sondern ich meine, dass China momentan einer der wichtigsten Punkte auf der Welt ist. China ist eigentlich der Motor der Weltwirtschaft, und auch das Wirtschaftswachstum in Deutschland hängt sehr stark von China ab. Und auch vom Export dorthin.
Die Asienkrise von 1997 war noch eine Krise, die ohne China war. China ist stabil geblieben. Trotzdem hat sie die Weltwirtschaft ziemlich aufgerüttelt damals. Und man kann davon ausgehen, dass eine stärkere Krise in China auch sich auf Europa widerspiegeln wird. Und die Weltwirtschaft nach einer Krise in China vielleicht an den Rand des Abgrunds gezogen wird.
In diesem Land finden auch viele Kämpfe statt, wie in ganz Asien. Deswegen, denke ich, ist es wichtig, sich mit China zu beschäftigen, und den Fokus auf dieses Land zu setzen. Und die Linke sollte, denke ich, das Land wieder neu entdecken.
Danke für die Aufmerksamkeit.
Diskussion
Frage: Eine Frage zur sozialen Organisation der Mingong. Sind die dort alleine, oder mit ihren Familien? Sind die dort eingebunden? Sie müssen ja auch Zugang zu Schulen und so haben.
Susanne: Das ist unterschiedlich. Die Arbeitsbedingungen – es gibt Mingong, die arbeiten in Fabriken. Die sind dort oft in fabrikseigenen Schlafsälen untergebracht. Damit wird auch das ganze Leben von der Fabrik organisiert. Es gibt Mingong, die arbeiten in der Schattenwirtschaft. Deren Leben sieht natürlich ganz anders aus. Die leben dann auch so halblegal in der Stadt. Und es gibt auch Mingong, die sind mit ihren Familien dort. Es gibt in Peking – ich weiß nicht, wie viele, aber es gibt viele, vielleicht hunderte illegale Schulen für die Kinder. Das Leben der Mingong ist auch halblegal und illegal. Viele der Leute leben auch von Bettelei, von Prostitution, und ihre Tätigkeit ist illegal. Und ab und zu finden dann auch Razzien statt. Und da werden dann auch Leute ins Umerziehungs- oder Arbeitslager geschickt, oder aufs Land zurück.
Felix: Das Problem ist hier auch wieder dieses Huko-System. Wenn ich nicht diesen Pekinger Huko habe, dann kann mein Kind in Peking keine öffentliche Schule besuchen. Das heißt, ich muss entweder ganz viel Geld haben, um durch die Hintertüren zu gehen. Oder, es wurde gerade gesagt, es werden dann illegale Schulen gegründet, die manchmal vom Staat geschlossen werden, manchmal geduldet, das ist unterschiedlich. Aber meistens ist das Leben in der Stadt und der Schulbesuch in der Stadt sowieso zu teuer. Deswegen gehen gerade aus den Provinzen im Westen und Zentralchina alle jungen Leute aus dem Dorf weg in die Stadt, um zu arbeiten. Und die Kinder bleiben bei den Großeltern, helfen mit bei der Feldarbeit. Und gehen dort in die Dorfschule. Viele Provinzen leben hauptsächlich von den Transferleistungen, von dem Geld, das von den Eltern wieder zurückgeschickt wird. Und einmal im Jahr, beim Frühlingsfest, bricht das ganze chinesische Verkehrssystem zusammen. Weil hunderte Millionen von Wanderarbeitern dann nach Hause fahren, um einmal im Jahr ihre Familien zu sehen. Also die kommen dann einmal im Jahr nur für eine Woche nach Hause. Oft sind Mutter und Vater in der Stadt, manchmal sogar in getrennten Städten. Und die chinesische Regierung möchte auch keine öffentlichen Schulen in der Stadt zur Verfügung stellen, weil sie davor Angst haben, dass sie alle kommen und dann auch in China Slums entstehen wie in Mexiko City.
Frage: Ich habe geglaubt, dass Ende der 90er Jahre ein neues System eingeführt hätte werden sollen. Das ist aber nicht so?
Felix: Das wurde diskutiert. Ist nicht eingeführt worden.
Susanne: Das wird zurzeit wieder diskutiert. Es ist so: Den Huko gibt es natürlich noch. De facto ist er natürlich schon längst unterlaufen worden. Die Leute warten auch gar nicht darauf, dass er abgeschafft wird. Die organisieren das, was sie zum Leben brauchen, einfach selbst. Ich habe ein Beispiel mitbekommen, da ist eine Frau an Krebs erkrankt. Die hat keinen Huko von Peking, das heißt, sie muss bezahlen. Wenn sie in einer der staatlichen Fabriken arbeiten würde, dann würde sie in einer der Kliniken versorgt. Das heißt, dass alle Bekannten und Verwandten das Geld zusammenlegen, damit die Frau behandelt werden kann. Weil ihr ist klar, vom Staat ist nichts zu erwarten. Die Pekinger Stadtverwaltung ist nicht für sie zuständig. Also muss die Familie und die Bekanntschaft einspringen. Jeder, der irgendwie die Frau schon mal gesehen hat, gibt umgerechnet 10 oder 20 Euro.
Bernhard: Man kann anfügen, dass das auch eine der wesentlichen Grundlagen für die Kampfkraft der Mingong ist. Dass sie einerseits in der Stadt nichts zu verlieren haben. Und im Zweifelsfall, wenn sie den Kampf mal verlieren sollten, im Prinzip auch wieder zurück können aufs Land, oder in eine andere Stadt. Aber in den Städten sind sie auch zusammen in communities, und dort auch aufgehoben. Dort werden sie auch aufgefangen, wenn mal was schiefgeht. Wenn man einen Streik verliert, beim Diebstahl erwischt wird oder irgendwas.
Frage: Wie ist die Kriminalität?
Susanne: Ich würde mal sagen, nicht so hoch wie bei uns.
Felix: Es gibt schon Bereiche, in den Kreisstädten, auf unterer Ebene, wo es einen fließenden Übergang zwischen Mafia, organisierter Kriminalität und Polizei gibt, was dann ab und zu in den zentralen Medien kritisiert wird. Wo Geschäftsleute ihre Konkurrenten ermorden lassen. Das gibt es schon. Auf der unteren Ebene, würde ich sagen, ist schon ein Zerfall der gesellschaftlichen Ordnung bemerkbar. In Peking natürlich, wo wahrscheinlich die Kontrolle von ganz China am strengsten ist, da merkt man nicht so viel davon.
Susanne: Also ihr habt die Frage völlig falsch verstanden und beantwortet. Kriminalität definiert sich ja immer vom Staat aus, was der Staat als nicht erwünscht betrachtet. Und viele von den Leuten leben daher illegal. Das, was sie machen, um durchzukommen, Bettelei, Prostitution, als Obdachlose auf der Straße, ist illegal. Ist kriminell. Weiters gibt es eine große Kriminalität auf allen Ebenen der Verwaltung und der Demokratie: Unterschlagung, Korruption, Machtmissbrauch ohne Ende.
Einwurf: Ganz normaler Kapitalismus halt.
Susanne: Nein, nein. Das ist noch schlimmer. Bei uns gibt‘s das natürlich auch. Aber dass man von vornherein davon ausgehen kann, dass ein Großteil der Gelder, die zur Verfügung gestellt wurden für die Umsiedlung beim Bau des Drei-Schluchten-Dammprojektes – das der Staat zur Verfügung stellt, um die Bauern abzufinden. Das Geld ist fort. Aber nicht bei den Bauern.
Einwurf: Ich denke bei uns an die Hochwasserhilfe, da ist auch nicht unbedingt alles angekommen.
Felix: Ich denke, das ist aber trotzdem eine völlig unterschiedliche Qualität. In China existiert bis heute kein Rechtsstaat. Und was das Wort Rechtsstaat bedeutet, und auch Sozialstaat bedeutet, das habe ich erst in China zum ersten Mal verstanden. Bei vielen Dingen kümmert sich keiner darum, was gesetzlich oder ungesetzlich ist. Die Urteile werden immer noch von den Parteisekretären beeinflusst, es gibt keine unabhängige Justiz.
Einwurf: Bei uns gibt es die Nazirichter.
Felix: Na gut, man kann auch sagen, die Welt ist schlimm. Aber man muss doch auch unterschiedliche Qualitäten sehen. Und das bedeutet natürlich auch für die Kämpfe etwas. Was wir gerade im Film gesehen haben. Die einfachen Bauern, die in die Kamera schreien: „Das ist doch Gesetz, dass der Staat uns das Land zur Verfügung stellen muss. Das kann er uns nicht einfach wegnehmen. Wir haben das Recht dazu, den Dorfbürgermeister abzusetzen.“ Wo dann auf einmal die Bauern in ihrem Kampf gegen völlig korrupte Kader, die ihre Macht missbrauchen, die Argumente des Staates übernehmen, um sich für ihre eigenen Interessen einzusetzen. Und das ist natürlich klar für China: Wenn es ein modernes, kapitalistisches Land werden will, dann braucht es auf Dauer sowas wie einen Rechtsstaat, weil das ausländische Kapital für die Investitionen, für ihr Eigentum Garantien haben wollen. Es kann natürlich nicht sein, dass an einem Tag investiert wird, am nächsten Tag sagt der Bürgermeister „das passt mir nicht, die Fabrik wird zugemacht“. Die brauchen schon eine Rechtssicherheit. Und schon allein deshalb ist China gezwungen, rechtliche Normen umzusetzen und sich zu bemühen, einen Rechtsstaat einzuführen.
Das Problem dabei ist auch, dass es da wegen dem Konfuzianismus diese Tradition überhaupt nicht gibt. Im Konfuzianismus sollen die Herrscher immer durch Vorbild herrschen, nicht durch Gesetze. Deswegen ist da wenig Bewusstsein vorhanden, und der Staat nimmt heute keine Massenbewegung mehr. Er verabschiedet aber schon Gesetze, durch die die Politik praktisch von oben nach unten implementiert werden soll. Weil die unteren Kader überhaupt kein Bewusstseinüber Gesetze haben. Da hat natürlich der Zentralstaat ganz massive Schwierigkeiten, diese Politik durchzusetzen.
In dieser Hinsicht wird die Frage Rechtsstaat ein ganz heißes Thema werden, auch wegen dem Boden. Der Boden ist staatlich, die Bauern haben aber das Nutzungsrecht. Was passiert aber, wenn die Kader dann sagen, wir wollen einen neuen Golfplatz oder Industriepark bauen? Sie nehmen das Land weg. Dann müssen sie eigentlich entschädigen. Millionen Menschen werden auch umgesiedelt. Das sind alles ganz wichtige Fragen. Diese Probleme haben eine Dimension, dagegen sind die ganzen Sachen in Österreich oder Deutschland, würde ich sagen, läppische Kleinigkeiten.
Frage: Was ich mir bei den Referaten gedacht habe: Die entscheidenden Fragen sind völlig unbeantwortbar. Ich kann überhaupt nicht erkennen, wie kann man sich nur vorstellen, dass aus diesen Kämpfen, diesen Konflikten, die ja vorhanden sind, und die werden auch nicht verschwinden, wie daraus sowas wie eine neue Gesellschaft herauswächst. Ich sehe da eigentlich unsere zentrale Frage. Wo sind die Elemente der neuen Gesellschaft in der alten? Wie entwickeln sie sich durch Kämpfe, Widerstand. Ich sehe das nicht. Ich bin vielleicht – nicht pessimistisch, aber bedrückt, das muss ich sagen. Ich wüsste da nichts. Das ist sehr offen.
Bernhard: Nicht wir müssen rauskommen, die Chinesen müssen rauskommen. Zum Teil waren in den Referaten ja ein bisschen pessimistische Stimmen. Ich bin da optimistischer. Ich sehe an China, dass diese ganze Gesellschaft wahnsinnig in Bewegung ist. Und die Bewegungsrichtung ist eindeutig. Die geht von Unterdrückung in Richtung Freiheit. Wenn man bedenkt, wie die Mehrheit der Chinesen vor 30, 50, 60 Jahren gelebt hat, und wie sie heute leben, aufgrund ihrer eigenen Kämpfe, dann denke ich, ist das ein gewaltiger historischer Fortschritt, der mit nichts in der Geschichte vergleichbar ist. Natürlich ist das noch nicht am Ende. Natürlich steckt die Frau bei Nike immer noch in der Hungerlohnfabrik. Aber auch das haben die chinesischen Arbeiter gerade in Arbeit. Ich will auch nicht sagen, ich habe ein Modell, wie man Revolution macht. Oder was das überhaupt erst sein wird. Das weiß ich nicht. Ich gucke nach China, und gucke, was die gerade dort machen. Möglicherweise werden gerade die eine Antwort finden. Oder in Lateinamerika. Wissen tu ich das nicht, aber die Bewegung ist für mich ziemlich eindeutig. Die Freiheit, die politische und persönliche Freiheit in China ist um Dimensionen größer als noch vor wenigen Jahrzehnten. Und das ist eine gute Richtung. Das ist doch in die Richtung Kommunismus.
Frage: Zu den Nike-Hungerlohnfabriken. Ich habe gehört, dass da Frauen, die kleine Kinder haben, dass sie da ausgegliedert werden aus dem Arbeitsprozess. Und ich habe gehört, dass in China die Abtreibungen sehr hoch sind durch diese Ein-Kind-Ehe, und dass es sehr leicht ist abzutreiben. Also ähnlich wie in Indien, aber aus anderen Gründen.
Susanne: Zu den jungen Fabrikarbeitern: das sind meist junge Frauen, die sind meist nicht verheiratet. Und die leben dann auch meist in den Schlafsälen der Fabrik. Die haben auch keine Kinder. Es gibt aber inzwischen in den Gebieten, in denen zuerst die Sonderwirtschaftszonen eingerichtet wurden, das ist in der Nähe von Hongkong, in Südchina, da gibt es inzwischen auch Frauen, die auch Kinder haben und in der Fabrik arbeiten. Vom Staat wird das nicht organisiert, dass die ausgegliedert werden aus dem Arbeitsprozess. Im Gegenteil, es gibt Arbeitsschutzgesetze für Mütter. Eigentlich müssen Fabriken auch Still- und Wickelräume haben, aber das gibt‘s halt nicht. Wenn die Frauen ausgegliedert werden, wenn sie in das heiratsfähige Alter kommen, so mit 25 Jahren, dann geht das von der Fabrik selber aus.
Bernhard: Es ist jetzt so, dass viele Zulieferfabriken, auch von Nike, tatsächlich die Frauen wieder rausgeschmissen haben mit 25. Weil das ist das offizielle Heiratsalter. Das gibt es sicher. Man muss aber schon sagen, dass nach den Berichten, die uns vorliegen, das Los der Mingong sich verbessert. Die Fabriken kriegen einfach gar nicht mehr die Leute, die sie haben wollen. Sie müssen etwas bieten. Höhere Löhne, bessere Schlafsäle, bis hin dazu, dass Fabriken, die höherwertige Produkte herstellen, sogar Swimming-pools bauen für die Arbeiter. Weil sie sonst keine Arbeiter kriegen. Daher bessert sich die Lage schon.
Die andere Seite: es kam unlängst die Meldung, dass eine der größten Textilgesellschaften der Welt, die zwischen diesen Zulieferern vermittelt, jetzt jammert, China verliert Wettbewerbsvorteile, da steigen die Arbeitskosten, nicht die Löhne, aber die Kosten, die Arbeit zu organisieren, jährlich um 10 Prozent. Deshalb gehen jetzt mehr Aufträge nach Bangla Desh.
Susanne: Das gibt es inzwischen schon, dass sich zwei junge Leute auf der Arbeit kennenlernen, heiraten, die Arbeit nicht aufgeben, sondern einfach aus dem Schlafsaal der Fabrik ausziehen in ein eigenes Apartment. Und es gibt das auch, dass die Frau deswegen nicht entlassen wird, sondern dass sie weiter arbeitet.
Die andere Frage zu den abgetriebenen Mädchen: ja, das gibt es, oder gab es. Seit Anfang der 80er Jahre gibt es die Ein-Kind-Politik. In der Stadt ist in der Tat fast jede Familie eine Ein-Kind-Familie, fast alle Familien. Auf dem Land allerdings sieht man das nicht so eng. Also wenn das erste Kind ein Mädchen ist, dann kann nochmal probiert werden. Auf dem Land ist es auch noch so, dass die männliche Nachkommenschaft ein höheres Maß an Wertschätzung genießt als ein Mädchen. Bei der Generation, die jetzt Kinder bekommt, bei Eltern in den 20er Jahren, sind Jungen oder Mädchen egal.
Felix: Generell wird die Geburtenplanung auf dem Land sehr hart umgesetzt. Nur, die Bauern haben sehr viele Möglichkeiten, den Staat auszutricksen. Zum Beispiel, wenn die Frau zum zweiten Mal schwanger ist, dann geht man zu Verwandten in die Kreisstadt, kriegt da das Kind. Und muss dann halt die Strafen bezahlt, ein Jahresgehalt. Und in den Staatsfabriken wird die Geburtenplanung auch noch hart umgesetzt. Da dürfen die ein Kind haben. Dann wird festgelegt, dieses Jahr können wir hier zum Beispiel zehn Kinder haben in dieser Fabrik. Dann wird abgesprochen, wer die bekommen darf. Und wer ohne diese Erlaubnis das zweite Kind kriegt, der fliegt raus. Ich kenne da Chinesen, die Frau ist entlassen worden, der Mann durfte weiter arbeiten, aber sie mussten dann auch aus der Betriebswohnung ausziehen. Privatbetriebe denken vielleicht, sie wollen junge Leute haben. Aber die sind ja an der Umsetzung der staatlichen Geburtenplanung nicht beteiligt. Da funktioniert das nicht. Wo häufig darauf geachtet wird, das ist in den Staatsbetrieben.
Und noch einmal zur Frage der Abtreibungen: In China sind Ultraschalluntersuchungen zur Feststellung des Geschlechts verboten und werden mit hohen Strafen belegt. Der Staat will das auf jeden Fall verhindern und macht auch viel Propaganda dafür, dass Mädchen genauso gut sind wie Jungen. Nur ist halt die Umsetzung durch die Korruption in den Krankenhäusern sehr schwer. Dass die die Untersuchung halt dann doch machen und dann abtreiben.
Susanne: Die jungen Leute, die ich kenne, die noch nicht ganz im fortpflanzungsfähigen Alter sind, sagen, es wäre ihnen eigentlich egal, ob das Kind ein Junge oder ein Mädchen wird.
Frage: Mir stellt sich die Frage, inwieweit diese aktiven Bewegungen, die ja voneinander unabhängig sind, davon abhängig sind, dass der Staat in China überhaupt nicht so weit reicht. Dass der Staat nach wie vor auf der Kreisebene aus ist. Und dass es die – meiner Meinung nach gerechtfertigte – Ansicht gibt, dass China nicht unbedingt als autoritärer Staat zu gelten hat, weil diese Reichweite nicht so weit ist. Felix hat vorhin gemeint, dass gerade diese Initiativen des Staates, z.B. das Gesundheitssystem, abgelehnt werden. Die Frage ist: Wie weit kann man das auf lange Zeit überhaupt ablehnen? Denn es ist ja jetzt die Situation, dass nicht nur ein Gesundheitssystem, sondern auch versucht wird, ein Bildungssystem am Land aufzubauen. Inwieweit können sich die Bauern, die ländliche Bevölkerung, überhaupt dagegen wehren? Und ist davon abhängig, dass die Bewegung so unabhängig und aktiv bleiben kann, wie sie es ist?
Felix: Zur Frage des Gesundheitssystems. Das ist so: Der Staat hat momentan mehrere Modellsysteme, die ausprobiert werden, in verschiedenen Regionen. Und es ist so, dass die Bauern nicht bereit sind, dem Staat, den Kadern Geld zu geben. Weil sie sagen, das Geld verschwindet sowieso nur, und wenn wir krank sind, dann bezahlt keiner. Und macht man das auf freiwilliger Basis, dann treten nur Alte und Kranke ein. Das lässt sich also sehr schwer durchsetzen. Aber die Staatsbürokratie reicht nur bis zur Kreisebene. Aber nach 1949 haben die chinesischen Kommunisten schon den Staat aufs Dorf gebracht. Vor 1949 gab es in 3.000 Jahren chinesischer Geschichte unterhalb der Kreisebene keine Beamten mehr. Die staatliche Kontrolle ist aber immer noch ziemlich stark. Das sieht man schon daran, dass der Staat die Geburtenplanung immer noch umsetzt. Wenn auch die Bauern das oft umgehen. Aber es gibt in jedem Dorf die Kader für die Geburtenplanung, die gucken, wer da zum zweiten Mal mit dickem Bauch durch die Gegend läuft.
Gerade auf der unteren Ebene ist der Staat auch ziemlich unberechenbar. Weil die die neuen Tyrannen, die Elite, die auch ihre eigenen Schlägertrupps hat, die Macht hat. Ich würde das Ganze auch nicht so pessimistisch sehen. Wir haben auch noch überhaupt kein Konzept, wie eine künftige Revolution oder eine postkapitalistische Gesellschaft aussehen soll. In China hat auch die Aufarbeitung des Scheiterns des Staatssozialismus im Grunde noch gar nicht richtig begonnen. Der erste Fortschritt wäre es ja schon, wenn die Leute es schaffen, sich selbst zu organisieren, Gewerkschaften, Bauernverbände, und wenn es gelingt, den Widerstand mehr zu vernetzen. Und am Ende vielleicht der Sturz des jetzigen Systems steht. Ich halte immer noch solche Sachen wie demokratische Wahlen, Verfassungsstaat und Rechtsstaat auf jedem Fall gegenüber einer Diktatur für eine zivilisatorische Errungenschaft. Wo sich dann auch neue Möglichkeiten für Kämpfe herausbilden werden. Da würde ich Bernhard auf jedem Fall recht geben.
Natürlich ist das Problem: Wie sollen die Kämpfe über die jetzigen Kämpfe hinausgehen? Z.B. auf dem Land? In Brasilien kann man vielleicht Land vom Großgrundbesitzer besetzen. Was soll man in China machen? Da ist der Grund gleich verteilt. Der Staat nimmt jetzt oft Boden weg, ohne Entschädigungen zu zahlen. Dadurch entstehen Konflikte. Aber da gibt es an Boden auch überhaupt nichts zu verteilen. Und Fabriksbesetzungen, Arbeiterräte – ich habe bis jetzt nicht gehört, dass es so etwas gegeben hat. Die Arbeiter wissen auch ganz genau: die meisten Staatsbetriebe sind unrentabel. Also wenn die Zentrale in Peking ihnen nicht hilft, dann sind sie arbeitslos. Und bisher hat der chinesische Staat recht geschickt eine Schocktherapie wie in Osteuropa vermieden. Er hat über einen Zeitraum von 20 Jahren Schritt für Schritt die ganze Privatisierung durchgeführt. Und auch heute noch sind, wie bereits gesagt wurde, Teile der Großindustrie in staatlicher Hand. Und der Staat geht auf jeden Fall relativ vorsichtig vor. Deshalb sehe ich etwa in der Industrie auch nicht, wie die Eigentumsfrage neu gestellt werden sollte.
Nichtsdestotrotz fangen die Leute an zu kämpfen. In Frankreich geht es jetzt auch erstmal nur um Arbeitsschutzgesetze. Aber das sind erste Schritte. Und die Leute haben dort jedenfalls viel mehr zu verlieren als wir hier. Sie wissen, sie können dafür ins Gefängnis kommen. Und trotzdem demonstrieren und streiken sie. Das ist schon ein riesiger Schritt. Und vielleicht reichen die Unruhen ja erstmal aus, um die ganze Weltwirtschaft durcheinander zu hauen.
Frage: Ich habe das Problem aus dem Vortrag mit Staat und Kapital – wie gesellschaftliche Organisationsformen jenseits des Staates möglich sind. Ich glaube, dass die Notwendigkeit einer bürgerlichen Rechtsstaatlichkeit besteht, dass sie Prinzipien, die lokal nicht existieren, von außen importieren wollen. Und das in einem Zeitalter, in dem selbst dort, wo diese rechtsstaatlichen Traditionen existieren und entwickelt worden sind, der Rechtsstaat auf allen Ebenen am Rückzug ist. Wo sich so etwas wie ein politischer Ausnahmezustand zum Normalfall entwickelt. Dass von Herrschaftsseite das auch im Westen umgesetzt wird, nur unter falschen Vorzeichen, was eigentlich die Voraussetzung für eine kommunistische Transformation war. Ich glaube nicht, dass das einen Weg über den Kapitalismus hinaus bieten kann.
Die zweite Frage wäre: Was ist das Politische? Es wurde zweimal kurz erwähnt – und ich würde diese Trennung ablehnen –, dass es die ökonomischen und die Klassenkämpfe gibt, aber es wurde nicht die politische Ebene erreicht. Was heißt die politische Ebene? Sind das die Institutionen, repräsentative Demokratie und Parteien? Anders kann ich mir diese Trennung nicht vorstellen. Und da, meine ich, bleibt uns nichts anderes über, als auf die Organisationsformen der Kämpfe zu setzen, und darauf, wie sich aus diesen Organisationsformen neue Elemente der Vergesellschaftung herausbilden. Auch wenn das keine momentane Perspektive für eine Umwälzung bietet, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie auf globaler Ebene ein Kampf für ein Rechtssystem, das gerade verschwindet, gewonnen werden kann. Damit gilt es umzugehen und die positiven Elemente daran zu finden zu verstärken und vielleicht zu verbinden.
Bernhard: Ich habe gesagt, das Ergebnis dieser Umwälzungen hat zuerst einmal nur zu einer gewissen Demokratie geführt. Die ist überall auch noch ziemlich prekär. Aber das ist ein notwendiger Durchgangsstatus. Ich finde daran nichts positiv. Aber das ist die erste Antwort des Kapitals, des internationalen, des cleveren Kapitals auf diese Arbeiterkämpfe. Und auf diese sozialen Veränderungen auch.
Aber der Kapitalismus, der sich entwickeln möchte, der kann nicht diktatorisch herrschen. Der braucht den freien Arbeiter, der nichts hat, der sich verkaufen muss. Aber dafür sich möglichst gut verkaufen muss, seine Kreativität einsetzt. Das braucht er. Das schafft Betriebsräte, eine Sozialstruktur und so weiter. Wenn sich das Kapital entwickeln möchte, braucht es auch genau das. Insofern ist das Kapital nicht wirklich an Diktatur interessiert.
Frage: Ich kenne mich jetzt mit China nicht so genau aus, aber war es nicht genau in diesen Sonderwirtschaftszonen, dass die chinesische Rechtsstaatlichkeit weitgehend ausgesetzt worden ist? Und dass dort jede Art von gewerkschaftlichem Zugriff unterbunden worden ist? War das nicht genau das, was das Kapital braucht?
Bernhard: Bestimmte Fraktionen des Kapitals brauchen genau das. Und die ziehen jetzt weiter, nach Vietnam. Und erleben gerade dort wieder eine Enttäuschung. Oder sie gehen nach Afrika, oder nach Indien. Aber auch in Indien können die Arbeiter bekanntlich ziemlich militant streiken. Also die Gesellschaft entwickelt sich. Darin liegt etwas Positives. Und sie entwickelt sich auch politisch. Wenn ich gesagt habe, die Kämpfe erreichen nicht die politische Ebene, dann heißt das nicht, dass sie unpolitisch waren. Ich meine damit, sie haben nicht um die Macht gekämpft. Und das war eigentlich ihre Stärke. Sie haben nicht von sich aus die Lösung formuliert, für das Kapital. Die Antwort des Kapitals war erstmal bürgerliche Demokratie. Und man muss zugeben, das ist ein wichtiger Schritt vorwärts.
Auch die Arbeiterklasse muss diskutieren, debattieren können. Dazu braucht es die Möglichkeit, Zeitungen zu machen. Dazu braucht es auch die Möglichkeit der überregionalen Organisierung, und so weiter. Um im Kampf gegen den Kapitalismus ein Stück weiter zu kommen. Aus der Diktatur, aus dem Hunger wird, glaube ich, nur eine schlechte Revolution. Eine gute Revolution kommt aus Bildung und Überfluss.
Frage: Ich habe ein bisschen die Tendenz zu sagen, es ist überall auf der Welt im Wesentlichen das Gleiche. Das ist ein bisschen negrianisch – der sagt auch, diese Unterschiede lassen wir beiseite, da gibt es große Teile der Welt, wo es darum geht, ein bisschen Industrie zu machen, ein bisschen Parteien, Demokratie, Rechtsstaat. Alle diese tollen Dinge, die wir haben. Und dann gibt es einen kleinen Teil der Welt, wir da im Norden und im Westen, da ist es ganz anders. Wir haben das alles schon. Das ist auch Scheiße. Und wir schauen, wie es da bei uns weitergeht. Das wird bei uns sein, nicht anderswo.
Diese Art zu diskutieren möchte ich angreifen. Ich möchte nicht leugnen, dass geschichtlich das Rechtssystem schon ein Fortschritt war. In der Menschheitsentwicklung. Wenn aber jetzt hier behauptet wird, das muss jetzt in jedem Land, jedem Dorf genau noch einmal gemacht werden, jetzt, wo sich das als völlig untauglich herausstellt! Mir fallen hunderttausend Sachen für Österreich ein – o.k., in China ist es noch viel ärger. Aber mir fallen hunderttausend Sachen für Österreich ein, furchtbarste Skandale, Dorfkaisertum, wo ein Bürgermeister Mädchen, die in der Schule aufräumen, vergewaltigt. Und das wird niedergebügelt! Das gibt es bei uns massenhaft.
Und dann zu sagen: Ja, aber dort in China ist es noch viel ärger! Ich weiß nicht, sind das Prozentsätze? Sicher, es sind 1,3 Milliarden, und wir nur 8 Millionen. Und dann gibt es noch ein Element bei dieser staatlichen Korruption: bei uns ist die ja relativ zurückgedrängt, das sehe ich auch so. Das hat relativ einfache Gründe, weil es bei uns noch das Statut der Pragmatisierung, also relativ abgesicherter Arbeitsplätze gibt, was aber schon im Abbau begriffen ist. Und weil bei uns die öffentlich Bediensteten auch finanziell und arbeitsrechtlich relativ gut gestellt sind. Deshalb hat diese Gewerkschaft bei uns auch schon seit Jahrzehnten einen schwarzen Vorsitzenden. Deshalb müssen die sich das nicht antun, bei jeder Eingabe etwas privat zur Seite zu schaffen. Weil sie eh 14 Gehälter im Jahr haben. Und wo es das nicht gibt, da gibt es halt diese Beamtenkorruption.
Aber mir geht es jetzt darum, unter welcher Perspektive wir die Verhältnisse bei uns, in Frankreich oder in China diskutieren möchten. Also dieser schematische Ablauf: in China jetzt erstmal die Demokratie. Also dass etwa die Leute in China die Gesundheitsversorgung, die Bildung selbst organisieren müssen, unter ganz miesen Bedingungen. Aber wir wollen ja auch nicht, dass der Staat das alles bestimmt. Wir wollen ja, dass unsere Kinder in der Schule, dass wir da selbst bestimmen können, was die da lernen, wer dort unterrichtet, wie das gehen soll.
Kritik der Veranstaltung
Unsere Kritik setzt beim unreflektierten Gebrauch der Begriffe „Diktatur“ und „Entwicklung“ an.
Demokratie – wessen Diktatur?
Mit „Diktatur“ wurden in dieser Veranstaltung alle Gesellschaften, die nicht der bürgerlichen Demokratie entsprechen, tituliert. Das impliziert mehrerlei: Zum einen wird ausgeblendet, wer jeweils wen unterdrückt, zum anderen wird unterstellt, die bürgerliche Gesellschaft sei „demokratisch“. Weiters werden rechte Militärdiktaturen und faschistische Regime mit (real)sozialistischen Gesellschaften gleichgesetzt.
In Wien sind wir seit einiger Zeit mit dem Vorwurf der „Querfront“ konfrontiert. Dieser Begriff wurde von Antideutschen erfunden, sie versuchen damit die bürgerliche Gesellschaft gegen „jegliche Bedrohung“ zu verteidigen, indem sie unterstellen, fortschrittliche Gruppen und Personen würden Bündnisse mit Faschisten eingehen. Als Beweis dafür dient etwa die Ablehnung des Zionismus durch Linke, die gleichgesetzt wird mit dem Antisemitismus von Faschisten.
Hintergrund dieser Vorwürfe ist die sogenannte „Totalitarismustheorie“, die bereits in den 20er Jahren entwickelt und später von Hanna Ahrendt wieder aufgegriffen wurde. Diese Theorie postuliert, dass einzig bürgerliche Gesellschaften „demokratisch“ seien. Sowohl der Faschismus als auch die sozialistischen Gesellschaften werden pauschal als Diktaturen bezeichnet.
Karl Marx kam bekanntlich auf völlig andere Schlussfolgerungen: Für ihn ist jede Klassengesellschaft zwangsläufig eine Form von Diktatur, in der die herrschende Klasse die anderen unterdrückt. Marx unterscheidet weniger zwischen unterdrückerischen und nicht unterdrückerischen Gesellschaften, sondern er fragt nach dem materiellen Hintergrund dieser Gesellschaften.
Dabei stellt er fest, dass alle bisherigen Gesellschaften sich dadurch auszeichneten, dass sie Klassengesellschaften waren, wobei die herrschende Klasse jeweils die Minderheit darstellte. Solche Gesellschaften können sich nur durch Gewalt behaupten, und irgendwann kommt der Punkt, wo selbst Gewalt nicht mehr reicht. Denn die materiellen Grundlagen ändern sich, und so wurde der feudale Absolutismus, erst in Frankreich, später anderswo, gestürzt und durch die bürgerliche Demokratie ersetzt.
Diese bürgerliche Demokratie ist aber nichts anderes als eine weitere Form von Klassengesellschaft und beruht daher wiederum auf Zwangsverhältnissen und Unterdrückung. Sie ist also auch eine Form von Diktatur.
Marx unterscheidet nun zwischen der Diktatur der Minderheit, wie im Feudalismus und in der bürgerlichen Gesellschaft, und der Diktatur der Mehrheit – Diktatur des Proletariats – die die bereits gestürzte, aber immer noch existente Bourgeoisie daran hindert, wieder die Macht zu ergreifen.
Wenn nun also „Diktatur“ und „Demokratie“ gegenübergestellt werden, so wird damit nichts erklärt, aber viel verschleiert. Vor allem wird verschleiert, dass wir uns nach wie vor in einer Epoche von Klassenunterdrückung befinden, und dass die bürgerliche Gesellschaft nichts anderes als die „Diktatur der Bourgeoisie“ ist.
Die Totalitarismustheorie dient dazu, diese bürgerliche Diktatur „auf ewig“ abzusegnen und als quasi-Demokratie „reinzuwaschen“, sie somit als „Ende der Geschichte“ zu legitimieren und alle, die sich gegen diese Gewaltherrschaft auflehnen, als Möchtegern-Diktatoren zu denunzieren.
Aus dem Zusammenhang des Vortrags ergibt sich aber, dass den Vortragenden dieser Vorwurf nicht zu machen ist. Deshalb finden wir es schade, dass mit derlei Begriffen operiert wurde, ohne sie zu hinterfragen oder zu präzisieren – eben als „bürgerliche Demokratie“, „Diktatur des Proletariats“ etc.
Entwicklung
Im Vortrag wurde behauptet, dass in allen Staaten – mit Ausnahme Westeuropas, Nordamerikas, Indiens und Japans nach 1945 „Entwicklungsdiktaturen“ eingerichtet worden sind, die die jeweiligen Länder ökonomisch, also industriell entwickelten.
Betrachten wir zuerst das Datum, auf das Bezug genommen wird. Es fällt sofort auf, dass etwa die Sowjetunion bereits seit den 20er Jahren industriell entwickelt wurde. Sie stellte das mehrfach unter Beweis: erst durch die Anwerbung von FacharbeiterInnen, die beim Aufbau der Industrie halfen, am Schlagendsten durch die Abwehr und schließlich Niederwerfung des Nationalsozialismus, die ohne die industrielle Massenfertigung von Waffen nicht möglich gewesen wäre, aber auch später etwa durch die zeitweilige Führung in der Weltraumtechnologie.
Wir können in der Geschichte auch weiter zurück gehen und festhalten, dass zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedliche Gesellschaften in bestimmten Bereichen die führende Rolle in der technologischen Entwicklung innehatten, etwa China bei der Entwicklung des Schießpulvers und der Schiffahrt oder der arabische Raum in der Entwicklung der Mathematik.
Was 1945 betrifft, so markiert dieses Datum das Ende einer (um die Vortragenden zu zitieren) „Entwicklungsdiktatur“ schlimmsten Kalibers, des deutschen Faschismus. Im Gefolge seiner Zerschlagung erstarkte die Sowjetunion und in weiterer Folge – das berühmte „Jahr 1960“ – gelang es einer Reihe von Staaten, die kolonialistische Unterdrückung abzuschütteln. Diese Entwicklung ist aber nicht gleichzusetzen mit „Entwicklungsdiktatur“.
Im Kongo dauerte die „Demokratie“, nämlich der Versuch des Aufbaus einer egalitären Gesellschaft, reichlich kurz. Nicht, weil die Regierung Lumumba eine Diktatur errichtet hätte, sondern weil die Imperialisten seine Herrschaft durch einen Putsch beendeten. Die folgende, jahrzehntelange Diktatur Mobutu entwickelte das Land so gut wie nicht, einzig die zahlreichen Bodenschätze wurden der imperialistischen Ausbeutung überlassen. Der Niger ist nach wie vor ein industriell nicht entwickeltes Land, in den meisten Dörfern gibt es nicht einmal Fliesswasser, es wird nach wie vor per Ziehbrunnen besorgt. Die wenigen existierenden asphaltierten Strassen wurden angelegt, damit französische Konzerne das Uranerz aus dem Air-Gebirge ausbeuten können.
Zurück zur Sowjetunion und den realsozialistischen europäischen Ländern. Das Ende der „Entwicklungsdiktatur“ bedeutete für viele dieser Länder auch das Ende der industriellen Entwicklung. Gerade Deutsche müssten eigentlich wissen, wie die DDR-Industrie zerschlagen, demontiert und vernichtet wurde, selbst die Kaufhallen wurden zu Gunsten von Riesenzelten am Stadtrand, die als Supermarkt für westdeutsche Konzerne dienten, stillgelegt.
Die DDR war führend in der Software-Entwicklung, der tschechische Skoda jahrzehntelang – auch im Westen – wegen seiner Robustheit beliebt. In Österreich waren Waschmaschine der Marke „Gorenje“ (Jugoslawien) der Inbegriff für Qualität, abgesehen von den dortigen Fruchtsäften, die sich durch einen absoluten Mangel an Chemie auszeichneten („Fructal“).
Wenn also behauptet wird, dass die „Entwicklungsdiktaturen“ ein notwendiger Zwischenschritt waren, um „Demokratien“ aufzubauen, und damit transportiert wird, dass letztere sich durch eine höhere Lebensqualität für die Arbeitenden auszeichnen, so wird der Kapitalismus ad absurdum geführt.
Kapitalismus bedeutet lediglich Mehrwertmaximierung, die Lebensbedingungen der Massen stehen dabei nicht zur Debatte. Nur weil die produzierten Tauschwerte konsumierbar sein müssen, um verkäuflich zu sein, ist uns das „Privileg“ vergönnt, den Abfall kapitalistischer Produktion konsumieren zu dürfen – besser formuliert: müssen.
Karl Marx hat den Kapitalismus als notwendigen Zwischenschritt auf dem Weg zu einer kommunistischen Gesellschaft bezeichnet, weil diese Dynamik der Profitmaximierung der Motor zur industriellen, technologischen Weiterentwicklung ist. Die wiederum die materielle Grundlage dafür schafft, dass allen Menschen die Gebrauchswerte zur Verfügung stehen, die sie benötigen.
In diesem Sinn ist der Kapitalismus, die bürgerliche „Demokratie“ die „Entwicklungsdiktatur“ schlechthin.
Anmerkungen
1Ein Genosse, der zu dieser Zeit ebenfalls in Indonesien war, bemerkte dazu: wenn er mit Menschen in Indonesien über die Situation der KommunistInnen sprach, von denen viele eingekerkert waren, so konnte er immer wieder hören, dass das schon seine Richtigkeit habe, denn KommunistInnen gehörten eingesperrt.
2Hier fehlt unserer Meinung nach die Darstellung des Übergangs zum kapitalistischen Modell mit dem Parteitag 1978
3Hier wäre vielleicht ein kurzer Verweis auf die Geschichte Ostasiens mit der japanischen Aggression bis zum 2. Weltkrieg angebracht, um diesen „Nationalismus“ besser verständlich zu machen.
4Dazu hat eine Genossin bemerkt, dass diese Übersetzung so nicht stimmt.
5Also hat es im chinesischen Vokabular auch keine „Kommune von Shanghai“ gegeben?
6Diese Darstellung kommt mir tendenziös vor, immerhin galten in Deutschland von 1878 bis 1890 die sogenannten „Sozialistengesetze“