Solidaritätsadresse von Claudia von Werlhof, 20.9.2002 an die Intifada-Demonstration am 28.9.2002, Wien (Claudia von Werlhof ist Professorin an der Universität Innsbruck)
Zeit, den Palästinensern Recht zu geben
Ich weiß, daß jeder, der es wagt, Israel zu kritisieren, Gefahr läuft, als Antisemit verschrieen zu werden. Es gehört heute im Westen zur sogenannten “political correctness”, das heißt zum guten Benimm, öffentlich immer auf der Seite Israels zu stehen, egal, was dort und von dort aus geschieht. Damit glaubt man, täglich den Beweis zu erbringen, die Vergangenheit bewältigt zu haben. Aber stimmt denn das? Und bewältigt man damit auch Gegenwart und Zukunft? Mit anderen Worten: Was können denn die Palästinenser für den Holocaust? Und wieso ist es ein Beweis dafür, daß man nicht antisemitisch ist, wenn man bei den Morden an Palästinensern wegschaut? Ja, haben denn die Israelis einen Opfer-Bonus, der es ihnen aufgrund ihrer Geschichte erlaubt, zu tun, was bei anderen einen allgemeinen Aufschrei hervorrufen würde? Es sei an den Kosovo erinnert.
Es ist die Tragödie Israels, vom Opfer zum Täter geworden zu sein, es auch nicht geschafft zu haben, den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen. Im Gegenteil.
Was dabei aber so besonders irritiert, ist, daß ausgerechnet die Israelis mit zweierlei Maß messen: Das Leben eines Palästinensers ist ihnen ganz klar weniger Wert als das eines Israelis – wenn nicht: überhaupt wertlos. Und auch die westlichen Medien teilen diese Sicht.
Es ist das Problem des Staates Israel, daß er sein Glück auf dem Unglück anderer, der Palästinenser, aufbauen wollte. Konkret: Auf 4/5 des Bodens Palästinas. Wie konnte man da erwarten, daß das gut gehen würde? Das Verhältnis der Israelis zu den Palästinensern ist daher notwendig fatal: Indem die Bedeutung der Palästinafrage seit 52 Jahren geleugnet wird, wird das Unrecht geleugnet, das den Palästinensern angetan wurde und wird. Damit verhält sich Israel genauso wie jede beliebige Kolonialmacht in der Geschichte. Zu den Kolonisierten hat man nicht weniger als ein rassistisches Verhältnis. Die angebliche Minderwertigkeit und mangelnde Unterwürfigkeit der Kolonisierten rechtfertigt dann jede Gewalt gegen sie.
Mehr noch: Auch der Rest Palästinas ist heute ein von Israel besetztes und beanspruchtes Gebiet. Die Palästinenser sind förmlich in die letzte Ecke gedrängt. Sie sehen daher nicht nur keinen Ausweg mehr. Im wahrsten Sinne des Wortes haben sie einfach auch keinen mehr. Daher ihr Zorn!
Israel hat eine der modernsten und bestbewaffneten Armeen der Welt. Die Palästinenser dagegen sind ein Volk, das bisher noch nicht einmal eine eigene Regierung und wirkliche Selbstbestimmung haben darf, und nahezu kein Territorium mehr hat.
Es darf bezweifelt werden, daß israelische Politik nur in Israel gemacht wird. Denn Israel ist auch das: Ein Brückenkopf des Westens in der Nähe der nahöstlichen Ölquellen. Insofern ist Israel selbst Opfer der Weltpolitik und nicht nur ihr Lieblingskind. Es hat diese Rolle mitzuspielen. Und vielleicht paßt ein echter Friede mit den Palästinensern gar nicht dazu.
Welche Tabus müssen eigentlich – ausgerechnet von Israel – noch gebrochen werden? Was muß geschehen, damit das Töten nicht immer mehr zur Normalität, ja geradezu salonfähig wird? Was muß geschehen, damit endlich auch die Menschen hier, Politiker, Parteien, Medien, Bewegungen und Wissenschaft sich endlich selbst betroffen fühlen?
Es ist höchste Zeit, Israel abzurüsten und den Palästinensern endlich Recht zu geben.