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Ist Antizionismus gleich Antisemitismus?
Michael Warschawski, Transkript des Vortrages mit anschließender Diskussion am 12.1.2003 in Wien, redaktionell überarbeitet und leicht gekürzt
Michael Warschawski: Ich möchte mich zunächst vorstellen, weil es immer wichtig ist zu wissen, vor welchem Hintergrund jemand spricht. Ich bin ein israelischer Jude, der in eine orthodoxe jüdische Familie in Straßburg, Frankreich, geboren wurde, und ich kam nach Israel, als ich 15 Jahre alt war, um in einer Talmudschule zu studieren, also um eine theologische Ausbildung zu erhalten. Ich wurde im Jahre 1967 Aktivist für Frieden und Gerechtigkeit in Israel/Palästina, wegen des Krieges, der als Sechs-Tage-Krieg bekannt wurde. Seit damals war ich in den meisten Bewegungen und Kämpfen aktiv, die sich gegen die Besatzung, gegen den Kolonialismus und für eine gerechte Zukunft für die Völker in diesem Land einsetzten.
Der Moderator forderte eine Debatte, die als eine politische Debatte geführt werden sollte, und zwar in einer respektvollen und disziplinierten Art und Weise. Natürlich stimme ich mit ihm überein, wir müssen sie in einer respektvollen, höflichen und disziplinierten Weise führen, aber ich muß gestehen, daß sie für mich etwas mehr ist als einfach eine politische Debatte. In Europa, im christlichen Europa und speziell in Österreich über Israel und Palästina und über Antisemitismus zu sprechen, kann nicht einfach nur von einem politischen Gesichtspunkt aus geschehen. Diese Debatte kann nicht von jeder Emotion getrennt stattfinden.
Meine zweite Anmerkung ist, daß Antisemitismus eine zu ernste Sache ist, als daß man erlauben könnte, ihn als Vorwand für andere Ziele zu benutzen, wie legitim die auch immer sein mögen. Antisemitismus in Europa ist zu wirklich für uns, um zu erlauben, daß er von Ideologen, Politikern oder Pseudointellektuellen manipuliert wird, die manchmal aus dem manipulativen Gebrauch des Konzeptes des Antisemitismus ihren Gewinn für völlig andere Ziele ziehen.
Vor einigen Wochen war ich zum erstenmal in Marokko. Ich war im Rahmen des ersten marokkanischen Sozialforums eingeladen als Israeli, was unüblich ist, über Palästina zu referieren. Es ist bekannt, daß in Marokko außergewöhnliches jüdisches Leben existierte, seit Tausenden von Jahren. Es gab eine sehr reiche Geschichte, eine sehr reiche jüdische Kultur in Marokko. Es gab eine Koexistenz, die nicht immer ideal gewesen sein mag, aber doch eine reale Koexistenz zwischen der islamischen Mehrheit und der jüdischen Minderheit, als Teil einer gemeinsamen marokkanischen Kultur, war. Die jüdische Gemeinschaft in Marokko hörte vor ungefähr dreißig Jahren zu existieren auf, abgesehen von einer winzigen Minderheit.
Für mehrere Tage hatte ich das Privileg, in Marokko mit sehr einfachen Leuten zusammenzuleben, sehr armen Familien, die in den Armenvierteln von Casablanca und Rabat lebten. Es war eine der bewegendsten Erfahrungen in meinem Leben. Ich lernte alte Männer und Frauen kennen, viele waren über siebzig Jahre alt, die zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder eine Gruppe von Juden trafen, denn ich reiste nicht allein, und sie drückten aus der Tiefe ihrer Herzen aus, wie sehr das Verschwinden der jüdischen Existenz in Marokko für sie selbst ein schwerer Verlust ihrer eigenen Identität und Kultur gewesen war.
Vor siebzig Jahren verloren ein großer Teil Europas, Westeuropas, Zentraleuropas und bestimmte osteuropäische Länder ihre jüdischen Gemeinden. Ich habe – und ich war oft in Europa – unter den Menschen hier nie dasselbe Gefühl entdeckt, etwas verloren zu haben. Das Verschwinden der jüdischen Existenz in Polen, Deutschland oder Österreich wurde von der Mehrheit der Bevölkerung nicht als Verlust, als schwerer Verlust aufgefaßt, sondern im besten Fall fand man sich einfach mit ihrem Verschwinden klaglos ab.
Der Erfolg der extremen Rechten in mehreren europäischen Staaten wie Frankreich oder Österreich bezeugt, daß in diesen Ländern und tatsächlich in der Mehrheit des christlichen Europas das Kapitel, welches zum Verschwinden der jüdischen Existenz, oder zumindest eines sehr wichtigen Teils von ihr, in den meisten Ländern Europas geführt hat, heute noch nicht abgeschlossen ist.
Ich glaube, daß es wichtig ist, diese zwei Realitäten herauszustreichen, um den Finger auf zwei wichtige Aspekte zu legen. Erstens ist Antisemitismus noch immer ein sehr relevantes Thema in Europa. Und Zweitens war und ist die Beziehung der islamischen Welt zu den Juden, ohne irgendeine Form von Idealisierung, eine tatsächlich andere als die des christlichen Europa zu den Juden.
Ich würde gerne für unsere Diskussion heute Abend fünf Fragen in den Raum stellen. Die erste Frage ist – und hier gehe ich über den im Titel der Veranstaltung gesteckten Rahmen hinaus –, gibt es heute in Europa einen Anstieg antisemitischer Gefühle? Die zweite Frage ist: Gibt es eine Beziehung zwischen dem israelisch-palästinensischen Konflikt und dem Anstieg des Antisemitismus in Europa? Oder zumindest mit dem Anstieg von interethnischen Konflikten, Konflikten zwischen unterschiedlichen Gemeinschaften in manchen europäischen Ländern? Dann möchte ich die Frage aufwerfen, die das offizielle Thema des heutigen Abends behandelt, nämlich ob Kritik an Israel, an der Politik Israels, oder selbst am Zionismus antisemitisch ist, oder ob es zumindest Verbindungen zum Antisemitismus gibt. Wenn es keine Verbindung gibt, hilft es dann vielleicht dem Antisemitismus? Und schließlich, wie kann man gleichzeitig für die Rechte des palästinensischen Volkes und gegen den Antisemitismus in den Ländern, in denen wir leben, kämpfen?
Zur ersten Frage, zum Ansteigen des Antisemitismus in Europa. In Westeuropa, anders als in Osteuropa und selbst in einigen Staaten Mitteleuropas wie Ungarn, gibt es keine wie auch immer geartete Bedrohung und, ich zitiere Theo Klein, den ehemaligen Vorsitzenden der Koordination der jüdischen Gemeinden in Frankreich, der Existenz und der Rechte der Juden in ihren jeweiligen Ländern. Niemals waren die jüdischen Bürger in England, Belgien, Frankreich oder Österreich in einer solch sicheren Position, was ihre Rechte als gleichgestellte Staatsbürger der Länder, in denen sie leben, betrifft.
In diesem Sinn, wenn jemand wie Alain Finkelkraut aus Frankreich von einem „Kristalljahr“ spricht, den Ausdruck „Kristallnacht“ in diesem Sinn verwendet, ist das entweder falsch, oder, was ich vermute, der Versuch, die öffentliche Meinung für völlig andere Zwecke zu manipulieren.
Auf der anderen Seite gibt es keinen Zweifel daran, daß es in den meisten westeuropäischen Ländern ein Anwachsen von antijüdischen öffentlichen Aktionen, Erklärungen, kleinen Übergriffen, ein Anwachsen von öffentlicher Akzeptanz für das Ausdrücken antijüdischer Ressentiments in der Öffentlichkeit, gibt.
Ich glaube, das ist mit zwei Phänomenen verbunden. Erstens, daß fünfzig Jahre seit dem Zusammenbruch des Nazi-Regimes in Europa vergangen sind. Fünfzig Jahre in denen die öffentlichen Meinungsmacher aufgrund des Schreckens des Genozids an den Juden in Europa dazu fähig waren, das öffentliche Ausdrücken von antijüdischen Gefühlen, die in der dominierenden christlichen Kultur Europas sehr tief verankert sind, zu delegitimieren.
Antisemitismus oder antijüdische Ideologien waren ein wichtiger Teil der dominanten Ideologie, der dominanten Kultur in den meisten Ländern Europas vor und während des Zweiten Weltkriegs. Es war vollkommen utopisch zu glauben, daß mit dem Zusammenbruch des Nazi-Regimes und mit dem Zusammenbruch der Kollaborateurregime in ganz Europa Antisemitismus, diese Dimension der dominanten Kultur, plötzlich einfach verschwinden würde, in einer Woche, einem Monat oder einem Jahr. Was passierte war, daß es nicht mehr als legitim angesehen, in manchen Ländern auch unterdrückt wurde, irgendeine Art von antijüdischem Benehmen oder antijüdischen Erklärungen hervorzubringen. Fünfzig Jahre später wurde diese Delegitimierung abgeschwächt und wieder können Gefühle, Philosophien, Ideen, die niemals verschwunden sind, neu erstehen, gewinnen wieder an Legitimität zurück, die sie für fünf oder sechs Jahrzehnte verloren hatten.
Hinzu kommt, daß die sozialistischen Bewegung, die Arbeiterbewegung im allgemeinen und die sozialistische Ideologie innerhalb der Gesellschaft eine Art Gegengift war. Sie ist jedoch in den letzten 25 Jahren sehr geschwächt worden, und das erlaubte den antisemitischen Gefühlen, gesellschaftlich wieder mehr Raum zu gewinnen.
Das zweite Phänomen, das wir in unsere Betrachtungen mit einbeziehen müssen und das teilweise mit dem letzten Punkt, den ich ansprach, verbunden ist, ist die wachsende Tendenz zur Ethnisierung und Schaffung von Identitäten über die Herkunft aus unterschiedlichen nationalen Gemeinschaften. Das bedeutet, daß wir überall auf der Welt, in den entwickelten Ländern, in den unterentwickelten Ländern, im Norden, im Süden, eine Stärkung der Identifizierung auf ethnischer oder konfessioneller Basis sehen.
Während wir bis zu der ersten Hälfte der 60er Jahre eine weltweite Tendenz zur Universalisierung von Identitäten gesehen haben und es den Versuch gab, über Grenzen hinweg politische Lager zu bilden, so ist seit zwanzig oder dreißig Jahren ein gegenteiliges Phänomen im Anwachsen. Das bedeutet Erstarken von lokalem Nationalismus gegen Ausländer einerseits, andererseits Erstarken der Identitäten der Minderheiten, seien es arabische oder islamische Minderheiten oder jüdische Minderheiten in Europa.
Und hier kommen wir zur zweiten Frage, nämlich ob es eine Verbindung des Antisemitismus, der Spannungen zwischen den einzelnen Gemeinschaften und der Konflikte in manchen europäischen Ländern mit der palästinensischen Frage gibt, oder ob die israelisch-palästinensische Frage Einfluß darauf hat. Und die Antwort darauf ist ganz sicher ja. Wir haben das Phänomen des Satelliten-Fernsehens, das täglich Bilder von palästinensischen Kindern, die von der israelischen Armee erschossen werden, von ganzen Vierteln, die zerstört werden, von Bäumen, die ausgerissen werden, von Führern, die ermordet oder gedemütigt werden, liefert. Diese Bilder sind heute auf der ganzen Welt zu sehen, von tausenden, ich würde sagen von Millionen Männern und Frauen aus dem moslemischen, arabischen Kulturkreis, sei es in Europa oder im Nahen Osten, oder in Afrika, oder wo auch immer. In diesem Prozeß der Verstärkung der Identifizierung mit der gesamten Gemeinde fühlen sie sich direkt von dem, was sie sehen, betroffen und identifizieren sich mit dem Opfer der israelischen Unterdrückung.
Und auch umgekehrt, die jüdischen Gemeinden, oder zumindest die organisierten Teile davon, die selbst in vielen Ländern immer mehr zu einer in sich gekehrten Gemeinde werden, identifizieren sich immer mehr mit Israel und bringen den israelisch-arabischen Konflikt in die europäischen Länder selbst, zwischen die jüdischen Gemeinden, oder jene, die für sie sprechen, und die arabischen, moslemischen Gemeinden, oder zumindest jene, die für sie sprechen, und so kommt die Konfrontation, die Spannung, in die europäischen Gesellschaften selbst.
Natürlich, wenn die Führer oder jene, die von sich sagen, sie seien die Führer einer Gemeinde, ihre Gemeinde mit einer politischen Sache identifizieren, die jüdische Gemeinde mit Israel identifizieren und Israel mit dem, was Israel gegen die Palästinenser unternimmt, natürlich wird es dann immer schwieriger, besonders für junge Leute in den armen Vierteln von Marseille zum Beispiel, oder Brüssel, irgendeine Art der Differenzierung zu treffen, da die Differenzierung ja von den Führern der Gemeinden selbst negiert wird. Wenn in Straßburg die Führer der Gemeinde eine Demonstration in Unterstützung der israelischen Politik organisieren, in der Synagoge selbst, dann sind sie es selbst, die aus der Synagoge eine Botschaft Israels und der israelischen Politik machen. Sie identifizieren die Politik Israels mit der Gemeinde, der jüdischen Gemeinde, oder zumindest mit den Symbolen der jüdischen Gemeinde in der Stadt.
Antisemitismus und Kritik an Israel oder selbst Antizionismus gehören zu zwei vollkommen unterschiedlichen Kategorien. Antisemitismus ist ein Ausdruck von Rassismus, das bedeutet die Ablehnung des Anderen, in diesem Fall der Juden, als gleiches, oder sogar als menschliches Wesen. Die Ablehnung der Essenz seines Seins selbst. Rassismus und Antisemitismus sind Philosophien, die das Recht des Anderen ablehnen, weil er eben das ist, was er ist, oder nicht das ist, was er nicht ist. Weil er eben nicht deutsch ist oder nicht weiß ist oder eben weil er jüdisch ist. Es ist eine essentialistische Philosophie. Es ist egal, wer dieser andere ist, er kann dumm oder intelligent sein, gebildet oder ungebildet, er kann von der Rechten sein oder von der Linken. Er oder sie wird abgelehnt, weil er eben das ist was er ist, ein Jude, oder weil er eben nicht ist, was er ist, sagen wir ein Weißer.
Antizionismus ist eine politische Ideologie, die man teilen kann oder nicht, der man zustimmen kann oder nicht, aber es ist eine politische Philosophie. Zionismus ist keine ethnische oder konfessionelle oder nationale Zugehörigkeit, es ist eine politische Philosophie. Am Anfang gehörte ihr eine winzige Minderheit der Juden an und erst nach dem Aufstieg Hitlers wurde sie zu einer beachteten Macht in Deutschland. Zionismus ist eine Philosophie, die behauptet, daß der einzige Weg, die jüdische Frage zu lösen, oder der einzige Weg, Antisemitismus zu beenden, jener ist, die Juden von ihrem Status der Minderheit zu befreien, damit sie eine Mehrheit oder ein Volk werden, das getrennt von den anderen ist, an einem anderen Ort, und sehr bald war dieser Ort mit historischen Begründungen in Palästina gefunden.
In der arabischen Welt existierte der Zionismus praktisch nicht oder er war so marginal, daß er irrelevant war. In Osteuropa, Mitteleuropa und Westeuropa waren die Zionisten bis 1945 eine kleine Minderheit, die Mehrheit der politisch bewußten Juden waren entweder Teil der Arbeiterbewegung oder der religiösen Bewegung, welche die Mehrheit in Osteuropa stellte. Sie waren offen antizionistisch, entweder aus religiösen Gründen oder aus philosophischen, politischen Gründe, wie die Sozialisten, der Bund, die sozialistische jüdische Bewegung, oder, und das fand die Mehrheit in Westeuropa, weil der Zionismus einfach wie Unsinn aussah.
Eigentlich könnte man die Diskussion damit beschließen, mit dieser sehr einfachen Feststellung, daß man es hierbei eben mit zwei qualitativ völlig unterschiedlichen Phänomenen zu tun hat: Das eine gehört zum Phänomen der rassistischen Ideologien, Antisemitismus ist eine rassistische Ideologie, so wie viele andere Arten rassistischer Ideologien, und das zweite ist eine politische Meinung, eine politische Philosophie, die sich mit der Art, wie man mit Antisemitismus umgehen kann, beschäftigt. Wir haben es hier mit zwei Kategorien zu tun, die nicht miteinander identifiziert werden können, denn sie gehören nicht zum selben Bereich. Aber ich denke, wir brauchen noch weitere Richtigstellungen.
Erstens gibt es sicher in einigen Länder Leute, die sich gegen die Politik der israelischen Regierung und gegen den Zionismus als eine Ideologie und Praxis aus antisemitischen Gründen aussprechen. Das ist eine Tatsache. Wir haben zum Beispiel Le Pen in Frankreich, er ist sicher nicht aus Liebe zur Gerechtigkeit antizionistisch und antiisraelisch, oder aus Unterstützung für die Araber, die er, wie allgemein bekannt, haßt und als Hauptfeind der christlichen Zivilisation betrachtet. Seine Opposition zu Israel, zur israelischen Politik und seine Opposition zum Zionismus hat ihre Wurzeln in seiner eigenen antisemitischen, rechten Philosophie.
Viele Antisemiten sind aber auch für Israel, und zwar aufgrund ihres Antisemitismus. Davon gibt es zwei Arten. Die einen wollen – und das war eine Art rechter Zionismus in Deutschland in den 30er und 40er Jahren – die Juden nicht hier haben, nach dem Motto: „Wir mögen keine Juden, wir wollen euch nicht hier, aber ihr könnte euren Staat haben.“ Und tatsächlich, der neue Jude, wie er von den Zionisten kreiert wurde, war in seiner Idealform ziemlich arisch. Er war auf den Plakaten mit blonden Haaren und blauen Augen dargestellt, was in der Tat sehr angenehm, sehr sympathisch in den Augen vieler antisemitischer Strömungen und Bewegungen in einigen europäischen Ländern war.
Die zweite Kategorie ist die heute wichtigere. Die wichtigsten Verbündeten Israels im Herzen der Vereinigten Staaten, innerhalb des Establishments, also die wirkliche pro-israelische Lobby, die nicht unbedingt dem entspricht, was sich viele Leute darunter vorstellen, denn die jüdische Lobby ist normalerweise demokratisch und nicht republikanisch, die am stärksten pro-israelische Kraft in der gegenwärtigen amerikanischen Administration und eigentlich seit Reagan sind christliche Fundamentalisten. Das ist eine starke, sehr machtvolle Bewegung unter Sekten, riesigen Sekten, mit tausenden Mitgliedern und Millionen von Dollars, die aus ihrer eigenen Theologie heraus bedingungslos, viel katholischer als der Papst und israelischer als die Israelis – Israel unterstützen. Sie waren es, die die US-Administration und die israelische Regierung dazu bewegten, die amerikanische Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem zu verlegen. Diese christlichen Fundamentalisten sind die besten Freunde Israels und ihre Theologie ist tiefgründig antisemitisch.
Ohne näher auf die Ideologie der protestantischen, dieser amerikanischen christlichen Fundamentalisten einzugehen, seien ein paar Worte zur Grundessenz ihrer Philosophie gesagt. Sie wünschen alle Juden in Jerusalem zu konzentrieren. Im Rahmen eines großen Krieges, des messianischen Krieges, werden sie dann verschwinden.
Das dritte Element, auf daß ich eingehen möchte, das klar sein sollte für Sie und für jeden, ist, daß die übergroße Mehrheit der Männer und Frauen in Westeuropa, welche die Grundrechte des palästinensischen Volkes unterstützen und gegen die Politik der Kolonisierung, Besatzung und Zerstörung durch den israelischen Staat kämpfen, schlicht und einfach keine Antisemiten sind, keine Rassisten, sondern Leute, Parteien und Bewegungen, die ihren kohärenten, permanenten Antirassismus bewiesen haben. Tatsächlich waren sie es, die gegen Rassismus und gegen Antisemitismus in ihren eigenen Ländern gekämpft haben, während die „Freunde Israels“ entweder Teile dieser rassistischen Bewegungen waren, oder sich still verhalten haben.
Die Frage, die wir uns stellen und auf die wir zu antworten versuchen sollten, ist, wie es diese großangelegte und sehr effiziente Kampagne in Europa schaffen konnte, die Solidaritätsbewegung mit dem palästinensischen Volk mit Antisemitismus gleichzusetzen. Wie war das möglich, wenn beides vom theoretischen Ansatz nichts miteinander zu tun hat, denn es handelt sich hier, wie gesagt, um zwei unterschiedliche Kategorien. Auch vom praktischen Gesichtspunkt her haben diese Bewegungen, diese Männer und Frauen nie irgendwelche Gründe, irgendwelche konkreten Beweise geliefert, um diese Anschuldigung zu untermauern, eine Anschuldigung, die alle Bewegungen in den meisten europäischen und nordamerikanischen Ländern verfolgt.
Der Erfolg dieser Kampagne wurde möglich gemacht, indem man zwei Konzeptionen ins Spiel brachte, die zuvor damit noch nichts zu tun hatten. Aber es handelt sich um zwei Begriffe, gegen die nicht argumentiert werden kann. Der eine ist das Unterbewußte. Der zweite ist ein neues Konzept: die semantische Verschiebung. Ich will versuchen, das zu erklären. Weil im öffentlichen Auftreten, in den Erklärungen, in den Aktivitäten kein Beweis oder ähnliches zu finden ist, daß die Bewegung, die für die palästinensischen Rechte kämpft, in ihrer übergroßen Mehrheit antisemitisch wäre, so darf man sich nicht die Fakten ansehen, sondern muß dahinter blicken, um das zu finden, was nicht zu sehen ist, aber durch einen guten Psychologen, oder einen guten Philosophen wie Alain Finkelkraut oder Lanzmann analysiert werden kann. Die semantische Verschiebung funktioniert so: Ich behaupte, und das ist wahr, daß ich Mozart nicht mag. Ich bin ein riesiger Fan von Beethoven und Bach, aber Mozart mag ich nicht, das ist eine Tatsache. An der Oberfläche ist die Aussage „Ich mag Mozart nicht“ ein ästhetischer Kommentar, vielleicht ein schlechter, aber es ist und bleibt ein ästhetischer Kommentar. Vielleicht bin ich dumm, aber sicher bin ich eine winzig kleine Minderheit in diesem Raum. Aber in Wirklichkeit ist das Problem nicht Mozart. Ich hasse die Österreicher, das ist es, was ich in Wirklichkeit sage. Meine Aussage hat nichts mit Mozart oder Musik zu tun. Hinter dem, was die einen semantische Verschiebung nennen, übermittle ich vielleicht unbewußt meinen antiösterreichischen Rassismus, indem ich eine ästhetische Feststellung über Musik, österreichische Musik, oder die Musik eines Österreichers von mir gebe. Hinter Mozart ist nicht die neunte Symphonie oder das berühmte Requiem. Hinter Mozart steht Salzburg, hinter Salzburg Österreich und hinter Österreich steht die österreichische Kultur und hinter der österreichischen Kultur die österreichischen Menschen. Und mein Feind, oder mein Mißgefallen ist nicht die Musik von Mozart, sondern die Existenz selbst des österreichischen Volkes.
Dies ist die semantische Verschiebung von Lanzmann und ähnlichen Ideologen, die ohne einen einzigen Beweis elf Gerichtsverhandlungen in Frankreich gegen Journalisten, Aktivisten und Intellektuellen wegen Antisemitismus angestrengt haben. Besonders den Prozeß gegen Daniel Mermet möchte ich erwähnen, denn das war ein riesiger Skandal. Elf Mal waren sie nicht fähig, ihre Anschuldigungen zu untermauern und haben alle Verhandlungen verloren. Aber sie werden weitermachen und sie haben in der Verhandlung das Konzept der semantischen Verschiebung benutzt, welches bis jetzt noch nicht Eingang in die französischen Gesetze gefunden hat. Der Richter fragte nach Fakten, nach Erklärungen, Positionen, und sie redeten über das Unterbewußte. Gott sei dank akzeptiert die französische Justiz bis jetzt Unterbewußtsein noch nicht als Beweis. Wenn jemand sagt, ich liebe die Juden, aber ich mag keine „gefillte Fisch“, bedeutet das einfach, daß diese Person kein antisemitisches Statement abgegeben hat, sondern daß sie, wie viele Juden selbst, zumindest jene von arabischen Ländern, diese schreckliche Fischspeise nicht mag.
Ich möchte ein Beispiel bringen, das meiner Meinung nach nicht nur die Absurdität zeigt, sondern schon obszön ist: den Fall des bekannten französischen Radiojournalisten Daniel Mermet, der Israel und die israelische Politik zu vielen Anlässen kritisiert hat, der in Wirklichkeit aber, ich kenne ihn sehr gut, Israel liebt, und der persönlich, er ist kein Jude, verletzt darüber ist, was Israel tut, weil er selbst dieses ideale Bild von Israel hatte. Ihm gelang es, einen Naziarzt zu enttarnen, der in Auschwitz tätig war. Der Arzt konnte den Gerichtsverhandlungen 1945 bis 1947 entkommen und konnte sich als der gute Arzt von Auschwitz darstellen, leider kann ich mich nicht an den Namen erinnern.1Er lebte ein gutes Leben irgendwo in Deutschland und durch Magazine wie Spiegel und andere – es war eine sehr lange Geschichte – gelang es Daniel Mermet, ihn zu interviewen. Durch dieses Interview hatte er genug Beweise, um den Arzt wegen Kriegsverbrechen vor Gericht zu stellen. Und das lief auf einer Radiosendung. Tatsächlich ist dieser Arzt vor Gericht gestellt und verurteilt worden. Ich war mit Daniel Mermet mehrere Jahre zuvor zusammen in Haifa, um eines der jüdischen Opfer dieses Arztes zu interviewen. Der alte Mann erzählte mir weinend, daß Daniel Mermet ihm sein Leben zurückgegeben habe, denn dank Daniel Mermet konnte diese schreckliche Person vor Gericht gebracht und verurteilt werden.
Eine Gruppe von, ich weiß nicht ob ich sie jüdische Intellektuelle nennen soll, eine Gruppe von dreckigen Intellektuellen und die Nationale Union Jüdischer Studenten und ein Anwalt, der Goldnagel heißt, entschieden sich, gegen Daniel Mermet Beschwerde einzureichen. Es war die zweite, nachdem die erste nicht erfolgreich war. Sie behaupteten, daß dieses Radioprogramm eine Apologie für den Nazismus gewesen sei. Den Journalisten, der diesen Naziverbrecher entlarvt hatte, klagten sie an, weil seine Sendung einem Naziarzt eine Stimme gegeben hatte. Deshalb sei dies ein offizieller Beweis dafür, daß Daniel Mermet und all seine Freunde und eigentlich alle Leute, die Israel kritisieren, denn Daniel Mermet kritisiert Israel, Apologeten des Nazismus sind. Einer der berühmten französischen jüdischen Intellektuellen sagte als Zeuge gegen Daniel Mermet aus und benutzte das Konzept der semantischen Verschiebung. Er sagte, daß es zwar wahr ist, daß diese Sendung gegen den Nazismus gerichtet war, und es selbst wahr war, daß durch dieses Programm der Naziarzt vor Gericht gestellt werden konnte, aber in seinem Hinterkopf würde Daniel Mermet durch seine Obsession, die der Nazismus sei, unbewußt gezwungen werden, den Naziverbrechen zu huldigen. Der Richter sagte zu Herrn Goldnagel: „Ich hoffe, es ist das letzte Mal, daß Sie zu mir ins Gericht kommen, denn das nächste Mal werden Sie auf der Anklagebank sitzen.“
Die vierte Frage, und ich muß mich jetzt leider kürzer halten, ist, ob Kritik an Israel Antisemitismus stärkt, ihm hilft. Offensichtlich ist die Antwort genau das Gegenteil. Wenn man die jüdische Existenz, den Staat Israel und alle Taten der israelischen Regierung als eine Einheit auffaßt und jede Kritik an einem dieser Elemente, an selbst kleinen Dimensionen der Politik der israelischen Regierung als schädlich empfunden wird, dann sind es jene Leute, welche die totale Gleichsetzung zwischen der jüdischen Gemeinde, dem Staat Israel, seiner Politik und seinen Verbrechen betreiben [die den Israelis schaden]. Wenn wir nicht irgendwo eine Grenze setzen dürfen, wenn wir nicht sagen dürfen, daß wir Israel lieben, aber nicht seine Politik; oder wir müssen Israel nicht lieben, aber wir respektieren und akzeptieren die Existenz von Juden, aber nicht die Existenz eines Staates Israel; oder wir akzeptieren die israelische Regierung und die israelische Politik, aber die Ermordung von Kindern geht zu weit; wenn wir keine Linie ziehen dürfen, wenn wir nicht das Recht dazu haben zu sagen: „Zu allem ja, aber hier nein, das geht zu weit“, dann stellt man die Identifikation zwischen der Existenz der Juden selbst, der Existenz Israels, seiner Politik und jeder einzelnen Aktion, jedem einzelnen Verbrechen und jedem einzelnen Fehler selbst her. Das Ergebnis ist das genaue Gegenteil des Erwünschten. Wenn jemand nicht einverstanden ist, wird er sagen, daß diese Tat oder diese Politik inakzeptabel oder falsch ist und wir haben sofort eine Identifikation zwischen der Tat, dem Staat, und dem jüdischen Volk als ganzem.
Diskussion
Ich möchte auf eines der Argumente eingehen, das benutzt wird, um Leute zu terrorisieren, wenn sie über Israel sprechen, und zwar die Frage nach dem „Existenzrecht Israels“. Heute sagen Tausende prominenter Politiker, prominenter Intellektueller – vor zehn Jahren waren es noch Zehntausende –, daß es notwendig ist, den Charakter Israels radikal zu verändern, daß man einen neuen, völlig anderen Staat schaffen muß. Sie stellen die Existenz Israels, wie sie sich heute darstellt, in Frage. Hört auf, uns in dieser Sache zu erpressen! „Wir in Israel brauchen dringend eine ernsthafte, tiefgehende und radikale Debatte über das Wesen unserer Gesellschaft und unseres Staats – andernfalls steht uns eine Katastrophe bevor.“ Das war ein Zitat von Shulamit Aloni, dem ehemaligen Erziehungsminister und Generalsekretär der Arbeiterpartei. Der ehemalige Chef der israelischen Geheimdienste, Admiral Ami Ayalon, sagte vor zwei Jahren, daß, wenn wir den Charakter des Staats nicht radikal verändern, Israel definitiv ein Apartheidstaat wird. Ich habe bewußt diese zwei Vertreter des Establishments, zionistische Hardliner, zitiert, die von der Notwendigkeit sprechen, den Staat radikal zu verändern. Die einzige Differenz, die ich mit Ami Ayalon und Shulamit Aloni habe, ist, daß ich glaube, daß wir schon jetzt in einem Apartheidstaat leben, daß es nicht etwas ist, daß erst morgen geschehen wird – es ist gestern oder gar vorgestern passiert. Doch darum geht es nicht. Worum es geht ist, daß prominente und intelligente Menschen in Israel sich nicht von dieser Frage – „Anerkennen Sie den Staat Israel“ – einschüchtern lassen; im Gegenteil, sie nehmen die Herausforderung an und sagen „Nein, wir akzeptieren ihn nicht! Nicht nur für das Wohl der Palästinenser, sondern um unserer eigenen Kinder willen muß Israel radikal verändert werden. Wir brauchen eine Revolution“. Das war auch ein Zitat, von einem der Regierung nahestehenden Journalisten.
Wer ist diese Aktivistin der österreichischen Grünen2, die glaubt, sie könne mir vorschreiben, in einem Apartheidstaat zu leben (Unser Staat wurde von einigen seiner Gründer als Apartheidsystem definiert) und diesen Apartheidstaat nicht zu kritisieren, sonst wäre ich ein Antisemit? Ich möchte noch weiter gehen: Während zwei Drittel seiner Existenz hat der Staat Israel eine Bevölkerung von heute drei Millionen Menschen, Einwohnern, die keinerlei Rechte haben. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder leben wir in einem Apartheidsystem – wir leben, nicht „wir werden leben“! – denn vierzig Prozent der Bewohner Israels haben keine Rechte; oder, falls wir die bestehenden Grenzen erhalten wollen – und die Mehrheit in der Knesset ist dafür, die Grenzen zu erhalten –, das heißt die Grenzen Israels, wie sie heute bestehen, dann muß man das System in Israel von einem Apartheidsystem in ein binationales System verwandeln, das heißt in einen demokratischen Staat für alle seine Bürger. Beide Möglichkeiten stellen die Existenz des Staats Israel, so wie er angeblich bestanden hatte, in Frage. Es gibt nur diese zwei Möglichkeiten: entweder zugeben, daß Israel ein Apartheidstaat ist, oder zugeben, daß Israel binationalen Charakter hat und die Verfassung so verändern, daß beiden Gemeinwesen geholfen ist, so daß beide Gemeinwesen in einem demokratischen Staat leben können – ob der nun binational ist oder nicht, Föderation, Konföderation oder Einheitsstaat ... wie auch immer. Das Israel jedenfalls, das diese Aktivistin der Grünen vor der Kritik der Antiimperialistischen Koordination schützen will, existiert nicht, es hat schon vor langer Zeit zu existieren aufgehört! Es existiert nicht in der Realität, es existiert nicht in seiner Verfassung, es existiert überhaupt nicht mehr. Es geht also nicht darum, sein Recht zu existieren in Frage zu stellen. Es geht darum, wie man den Staat aktiv verändert: ob man das Apartheidsystem formell legalisiert – das ist die Linie einiger Parteien – oder ob man ihn in einen demokratischen Staat verwandelt.
Wie Sie wissen, ist Israel „die einzige Demokratie im Nahen Osten“, aber eine ganz, ganz besondere Demokratie. Erstens, weil vierzig Prozent der Bevölkerung keinerlei Rechte haben, keine Bürgerrechte und keine Menschenrechte; sie werden nicht nur nicht als Staatsbürger anerkannt, sondern auch nicht als menschliche Gemeinschaft. Weiters ist Israel die einzige Demokratie im Nahen Osten und in der ganzen Welt, in der eine Partei verboten werden kann, in der eine Kandidatur bei der Wahl untersagt werden kann, weil das Parteiprogramm auf der Grundlage von Demokratie selbst beruht, nämlich daß der Staat der Staat aller seiner Bürger sein soll. Ich zitiere ein Mitglied des Komitees, das die Knesset-Abgeordneten Azmi Bishara und Ahmad Tibi die Kandidatur untersagte: „[Azmi Bisharas] Vorstellung von Gleichheit stellt den Staat Israel in Frage“ – so wie das Ihre Grüne Abgeordnete formulierte. Er verlangt Gleichberechtigung, volle Gleichberechtigung! Er verlangt volle Gleichberechtigung für alle israelischenStaatsbürger, er sprach nicht einmal von den Menschen im Westjordanland und Gaza-Streifen. Volle Gleichberechtigung zu verlangen ist in Israel ausreichend, um als Partei oder Kandidat von Wahlen ausgeschlossen zu werden. Und damit schließen Sie den Kreis, Frau Jerusalem: Wenn Kritik an der Diskriminierung durch das israelische Regime, an der Ungleichheit, an der Tatsache, daß manchen Leuten Rechte vorenthalten werden, per definitionem illegal ist, dann haben Sie recht: Jeder Versuch, den Staat zu demokratisieren, ist schon per se eine Nicht-Anerkennung des Staats. Man kann ein Regime nicht auf demokratischem Weg verändern, das keine Verfassung wie jedes andere demokratische Land hat, in dem man undemokratische Vorgangsweisen, Gesetze oder den Charakter des Staats dadurch verändern kann, daß man eine Mehrheit gewinnt. Selbst wenn eine Mehrheit den undemokratischen Charakter Israels verändern wollte, würde sie schlicht von den Wahlen ausgeschlossen werden, weil der Staat sich als ein undemokratischer Staat definiert, weil das Konzept der Gleichberechtigung zum Ausschluß einer Person oder einer Partei von der Kandidatur zu dem Wahlen führt. Dies ist nicht nur einzigartig für die „einzige Demokratie im Nahen Osten“, es ist ein einzigartiges Konzept von „Demokratie“ in der ganzen Welt und in der ganzen Geschichte der Menschheit. Und diese Aktivistin der Grünen Partei in Österreich will mich dazu verpflichten, diesen Staat zu erhalten, sonst bin ich ein Antisemit? (...)
Ich beginne mit der letzten Frage: Ja, das „Gesetz der Rückkehr“ hält fest, daß jede Person, die mindestens einen jüdischen Großelternteil hatte, sofort israelischer Staatsbürger werden kann. Tatsächlich gibt es heute Knesset-Abgeordnete, die noch vor sechs Jahren nicht in Israel gelebt haben, nicht Hebräisch sprechen, keine Ahnung von Israel haben. Heute sind sie im Parlament, und in der nächsten Regierung werden sie im Kabinett sein, weil sie – zum Teil mit falschen Dokumenten – nachweisen können, daß sie einen jüdischen Großelternteil haben.
Warum wird in Europa soviel vom Antisemitismus gesprochen, während es einen aktiven und wachsenden anti-arabischen Rassismus gibt? Der anti-arabische Rassismus ist sowohl institutionalisiert als auch in der Bevölkerung verankert. Dieser Rassismus des Staats und der Straße muß ganz oben auf der Prioritätenliste der linken und fortschrittlichen Bewegung in Europa stehen, denn in den meisten europäischen Ländern gibt es eine wachsende arabische oder muslimische Minderheit. In der Frage des Antisemitismus stimme ich jedoch nicht überein. Ich möchte aus einem jüdischen Gebet zitieren: „Je mehr wir davon sprechen, desto besser.“ Es gibt in der Geschichte des modernen Europa zwei dunkle Punkte, die noch nicht ernsthaft und endgültig aufgearbeitet sind. Der eine ist der Kolonialismus, der andere der Antisemitismus. In einigen Ländern geht es mehr um Antisemitismus als um Kolonialismus – so z.B. in Österreich, in anderen Ländern geht es mehr um Kolonialismus als um Antisemitismus – so z.B. in Großbritannien, in manchen Ländern haben beide Fragen bis heute große Bedeutung – z.B. in Frankreich. Antisemitismus einerseits und Kolonialismus andererseits sind zwei schwarze Flecken in der modernen Geschichte Europas (von älterer Geschichte möchte ich hier nicht sprechen), die es sehr schwierig machen, die konkreten politischen Probleme der Gegenwart, sei es der Nahostkonflikt, das Irak-Problem, sei es der Rassismus gegen die arabische und muslimische Minderheit in Europa, zu behandeln.
Das bringt mich zur dritten Frage – warum sich so viele Juden mit Israel identifizieren. Auch hier möchte ich widersprechen. Erstens ist der großen Mehrheit der Juden in Europa Israel völlig gleichgültig. Das Problem ist, daß diese Juden nicht als Juden organisiert sind. In den meisten Ländern reagieren sie als Staatsbürger dieser Länder und äußern ihre Meinung als Staatsbürger dieser Länder – zu allen möglichen Fragen, darunter zur israelisch-palästinensischen Frage, falls sie dazu überhaupt eine Meinung haben. Das Problem ist, daß die jüdischen Institutionen, die normalerweise zehn bis fünfzehn Prozent der Juden in den meisten großen Gemeinden vertreten (in kleinen Gemeinden, wie in Österreich, vertreten sie mehr), die jüdische Stimme, die jüdische Haltung zu Israel monopolisieren. Doch die meisten Juden sind überhaupt nicht in diesen Gemeinden organisiert. Deshalb gibt es in vielen Ländern, v.a. in den USA, neue Initiativen von Bürgern, die sich in der Vergangenheit nicht als Juden gefühlt hatten, sondern als Franzosen, Belgier, Italiener, z.B. unter dem Titel „Nicht in unserem Namen“ und „Als Juden verurteilen wir die israelische Politik“ und versuchen, das Monopol der selbsternannten Vertreter der jüdischen Gemeinden zu brechen, da diese nicht die Gesamtheit der Juden vertreten. Doch das ist nur die Hälfte meiner Antwort.
Der andere Teil meiner Antwort ist, daß es nicht ein Problem der jüdischen Gemeinden, sondern ein Problem Ihrer Gesellschaften ist, wenn man z.B. fernsieht oder Zeitungen liest – die Journalisten sind einseitig. Sie sind nicht hundertprozentig auf israelischer Seite, das kann man nicht sagen und sie sind sicher nicht auf der Seite der Palästinenser – aber im Allgemeinen sind sie eher auf der Seite Israels, auch wenn es sehr seriöse und ehrliche Journalisten sind. Ich weiß, wovon ich spreche, denn ich habe viel mit Journalisten zu tun. Sie verwenden israelische Argumente, den israelischen Sprachgebrauch, israelische Definitionen. Sie sagen oder schreiben z.B. „Palästinenser ermordeten zwei Israelis“ und „Israelis töteten zwei Palästinenser“; „palästinensischer Terror“ und „israelische Vergeltung“ – niemals ist von israelischem Terror und palästinensischer Vergeltung die Rede. Es handelt sich nicht um Menschen, die z.B. von der Jewish Agency bezahlt werden und fanatisch, ideologisch auf der Seite Israels stehen, ich spreche hier vom aufrichtigen österreichischen, deutschen, belgischen, italienischen, französischen Durchschnittsjournalisten, der sich unbewußt und spontan mit Israel identifiziert. Denn der Krieg zwischen Israel und den Palästinensern ist ein Krieg zwischen Norden und Süden, ein Krieg, in dem laut Herrn Bush und seinen Freunden in Europa Zivilisation und Barbarei aufeinanderprallen und kämpfen. Ein Mensch aus dem Westen wird sich spontan – wenn er dem nicht bewußt politisch-ideologisch gegensteuert – stets mit dem identifizieren, der ihm selbst ähnlicher ist, und er wird sich gegen jene wenden, die wie die arabischen Jugendlichen aus der Vorstadt aussehen, die seine Normalität bedrohen.
Nun zur Frage eines palästinensischen Staats oder eines demokratischen, binationalen Staats. Ich möchte das, was der Genosse eben sagte, in Frage stellen. Wie viele von Ihnen wissen, habe ich sogar ein Buch [Le défi binational] geschrieben, in dem ich die gemeinsame Existenz von Juden und Arabern in einem gemeinsamen, binationalen Rahmen verteidige – doch ich habe kein Recht, zu entscheiden. Als ich dem Genossen zuhörte, hatte ich das Gefühl, nicht das in Frage zu stellen, was er sagte, sondern wie er es sagte. Ich mußte an eine Frau denken, die von ihrem Mann geschlagen oder vergewaltigt wird. Sie versucht, sich zurückzuziehen, innerhalb ihres Hauses, sie möchte von vier Stockwerken ein einziges für sich alleine, um nicht mehr geschlagen zu werden; doch es kommen ihre Nachbarn, Freunde, vielleicht ihre Kinder und sagen: „Geh nicht weg. Du wirst allein sein, ohne Geld, vielleicht wirst du dich prostituieren müssen. Bleib und wir werden die Geschichte deiner Vergewaltigung in eine Liebesgeschichte verwandeln.“ Ich habe in der sozialistischen Bewegung das Konzept der Selbstbestimmung kennen gelernt. Das Konzept der Selbstbestimmung ist ein Konzept der Unterdrückten, und ich glaube, unsere Haltung als Israelis, als israelische linke, fortschrittliche Kräfte, muß sein, so wie es auch Eure Haltung als Österreicher, Europäer, die solidarisch mit den Palästinensern sind, sein muß: Sie müssen entscheiden, wie sie leben möchten. Wir mögen unsere Einschätzung haben, wir denken wirklich, daß es draußen schwer sein wird, daß sie sich draußen vielleicht prostituieren muß, um zu überleben, daß es ungerecht ist, daß sie auf ein Viertel des Hauses beschränkt ist, während ihr doch das ganze Haus gehört, und so weiter und so fort. Doch letztlich ist es die geschlagene Frau, die entscheiden muß, ob sie mit ihrem Vergewaltiger leben will, um nach langer Zeit eine Liebesgeschichte aufzubauen, oder ob sie erst einmal sicher sein will und seine Präsenz loswerden möchte, die Besatzung usw. Das muß unser Herangehen sein. Wir haben das Recht und vielleicht sogar die Pflicht, uns Gedanken über die Kosten und den Nutzen jeder Lösung zu machen, verschiedene Szenarios zu entwerfen, was für die Palästinenser und auch für die Israelis am besten wäre. Letztendlich jedoch geht es um das Recht des palästinensischen Volks auf Selbstbestimmung. Sie müssen entscheiden, wie sie leben wollen, zu welchen Kompromissen sie bereit sind, gemäß ihren eigenen Prioritäten.
Was die Frage über die sogenannte „Transferlösung“ betrifft, so spricht sich ein substantieller Teil der israelischen Regierung dafür aus. „Transfer“ ist ein israelischer Euphemismus für „ethnische Säuberungen“. In den israelischen Medien wird offen darüber diskutiert, den Krieg gegen den Irak dafür zu benützen, um die palästinensische Existenz in den besetzten Gebieten „auszudünnen“. Dabei wird über eine Maximal- und eine Minimalvariante gesprochen. Die Maximalvariante wäre, alle Palästinenser aus den jetzt besetzten Gebieten zu vertreiben. Die Minimalvariante wäre, diejenigen Palästinenser, die zur Zeit in den C-Zonen leben, in die A- oder B-Zonen zu treiben, also vor allem in die Städte, wie Nablus oder Ramallah. Das käme einer internen Säuberung gleich. Es würde erlauben, das palästinensische Gebiet vollkommen zu zerstückeln, eine Realität von mehreren kleinen, vollkommen voneinander isolierten Bantustans zu schaffen. Wie diese dann genannt würden, ob Palästinensischer Staat, Reich oder Imperium, das wäre der israelischen Regierung vollkommen egal.
Zur Rolle der Bewegung möchte ich mit einem Gleichnis antworten. Wie ich bereits gesagt habe, sind meine persönlichen Wurzeln in der Religion, in der Bibel. Es gibt eine Stelle in der Bibel, die mich als junger Mensch sehr beeindruckt hat. Abraham diskutiert mit Gott, weil dieser Sodom und Gomorrha bestrafen will. Abraham sagt zu Gott: „Wenn ich dir hundert gerechte Menschen bringe, wirst du dann Sodom zerstören?“ und Gott antwortet: „Nein, dann werde ich es nicht zerstören“. Und Abraham fragt weiter: „Und wenn ich dir fünfzig Gerechte bringe, wirst du Sodom dann zerstören.“ Und Gott antwortet: „Nein, auch dann werde ich die Stadt nicht zerstören.“ Und wieder fragt Abraham: „Und wenn ich dir zwanzig Gerechte bringe, wirst du Sodom dann zerstören?“ Und Gott antwortet: „Nein, dann werde ich es nicht zerstören.“ Und so weiter, bis Abraham Gott schließlich fragt: „Und wenn ich dir einen Gerechten bringe?“ Da antwortet Gott: „Nein, ein Gerechter, das ist nicht genug. Sodom muß zerstört werden.“
Dieses Gleichnis bedeutet für uns, daß wir die Gerechten für Israel, die wirklichen Freunde Israels sein müssen. Wir müssen klar machen, daß die Politik der israelischen Regierung nicht gleichbedeutend mit der israelischen Bevölkerung ist. Doch es muß uns klar sein, daß fünfzig Gerechte nicht genug sind, um die Botschaft deutlich zu machen, daß nicht ganz Israel schuldig ist. Während des Libanonkrieges war es gelungen der Welt zu zeigen, daß es zwei Israels gibt: das Israel von Menachem Begin, das Israel des Krieges und auf der anderen Seite hunderttausende Menschen, die gegen den Krieg demonstriert haben. Unsere Rolle ist es, ein anderes Israel zu schaffen, für uns selbst und für das arabische Volk. Ein anderes Israel bedeutet, einen Staat, in dem allen Bewohnern gleiche Rechte zuerkannt werden und in dem es keine Besetzung gibt.
Diejenigen, die vollkommene Identifizierung mit Israel fordern, wollen uns zum Schweigen bringen. Diejenigen, die jede Kritik an Israel verurteilen, schaden Israel damit. Die einzige Möglichkeit die nationale, ethnische und konfessionelle Existenz der jüdischen Bevölkerung im Nahen Osten zu sichern, ist zu zeigen, daß es keine vollkommene Identität zwischen der israelischen Politik und dem israelischen Volk gibt. Hingegen ist der Versuch, Kritik an Israel zum Schweigen zu bringen und Solidarität mit den Palästinensern zu verurteilen das schlimmste Geschenk, das man dem israelischen Volk machen kann. Es bedeutet nicht, dem israelischen Volk zu helfen, im Gegenteil es ruft nur die totale Identifizierung zwischen der Politik seiner Regierenden und der Bevölkerung hervor.
Wenn die Solidaritätsbewegungen mit dem palästinensischen Volk in Europa eine klare Linie ziehen zwischen ihrem gerechten Kampf auf der einen und jedweder Art von Rassismus und Faschismus auf der anderen Seite, und wenn sie sich dann in ihrem Kampf nicht beirren lassen, so ist dies das größte Geschenk, das sie dem israelischen Volk machen können. Darum appelliere ich an Sie: „Lassen Sie sich nicht in die Defensive drängen, fahren Sie in Ihrem Kampf fort“. Es ist der beste Weg, die jüdische Existenz im Nahen Osten zu sichern.
Und ich gehe noch darüber hinaus und sage, daß die Intifada das größte Geschenk war, das die Palästinenser den Israelis machen konnten. Ich sagte das schon zu Zeiten der ersten Intifada. Sie war die einfachste und billigste Möglichkeit, eine große Katastrophe für Israel zu verhindern. Die zweite Intifada ist schon weniger billig. Und ich sage das nicht nur wegen des Blutes, das vergossen wurde. Ich sage das, weil es sich gezeigt hat, wie zerstört die israelische Gesellschaft bereits ist.
Doch die zweite Intifada ist das letzte Geschenk, das uns die Palästinenser anbieten. Was uns dann noch bleibt, ist der totale Krieg mit der arabischen Welt. Wir müssen den Palästinensern dafür danken, daß der Konflikt bis jetzt auf die besetzten Gebiete beschränkt geblieben ist. Darum sage ich immer wieder, wenn ich Vorträge halte, auch in Israel selbst: „Ergreifen wir die Gelegenheit jetzt, Israel von Grund auf zu verändern.“ Viele bedauern bereits die versäumte Gelegenheit der ersten Intifada, denn nach der ersten Intifada ist eine große fundamentalistische Bewegung entstanden.
Es gibt Stimmen in Israel, die diese Warnungen in den Wind schlagen und vom „nuklearen Weg“ sprechen, um mit diesen Problemen umzugehen. Das ist Wahnsinn! Wir sind sechs Millionen und wir sind von 180 Millionen Arabern umgeben und von einer Milliarde Moslems. Es sollte klar sein, daß wir es hier mit einem schlafenden Riesen zu tun haben, und daß das letztendlich unser Problem ist. Die arabische Welt wird nicht verschwinden, sie ist in diesem Stück Erde tief verwurzelt. Die Palästinenser werden nicht verschwinden, denn dieser Teil der Erde ist ihr Zuhause. Wer in Gefahr ist, das sind wir, und wir spielen mit dem Feuer.
Wenn wir nicht bald dem israelischen Apartheidstaat ein Ende machen, wird uns über kurz oder lang nur der totale Krieg bleiben.
Anmerkungen
1 Es handelt sich um Hans Münch.
2 Warschwaski bezieht sich auf Susanne Jerusalem, Landtagsabgeordnete der Grünen Wien, die ihre Teilnahme an der Veranstaltung kurzfristig absagte. Als Grund hatte sie angegeben, daß sie in Folge von Informationen, die ihr zugespielt worden waren, nicht mehr ausschließen könne, daß die AIK antisemitische Tendenzen habe. Sie verweigerte nach ihrer Absage jeglichen Kontakt mit den Veranstaltern.
3 Warschwaski bezieht sich hier auf die Bevölkerung des israelischen Staates und der besetzten Gebiete zusammengerechnet.