www.nadir.org/nadir/initiativ/agp/free/imf/venezuela/2003/0306Venezuela01.htm, von Dario Azzellini, Oktober 2002
Ich folge nicht einem Mann
Interview mit der venezolanischen Abgeordneten Elsa Castro
Frau Dr. Elsa Castro, Rechtsanwältin, Abgeordnete der Nationalversammlung der Bolivarianischen Republik Venezuela der Fraktion „Movimiento Quinta República (MVR)“ (Man­dat 2000 bis 2006), ist Mitglied der parlamentarischen Kommission „Familie, Frauen und Jugend“. In der MVR ist sie Direktorin für Frauenfragen im Bundesland Miranda. Bis 2001 war sie Rechtsberaterin in der Kommission für Stadtentwicklung des Abgeordnetenhauses von Caracas. Sie arbeitete auch für den sozialen Aufbau im Bundesland Miranda im Rahmen der Landesplanung „Bolivar 2000“ der Re­gierung des Präsidenten Hugo Chávez. Sie ist Vor­stands­vor­sitzende des „Centro de Des­ar­rol­lo Integral de la Mujer“, CENDIMUJER (Gesellschaft zur Förderung der Frauen).
Am 10. Oktober (2002) mobilisierte die Opposition wieder gegen die Regierung, wie verlief die Mobilisierung?
Sie schafften es, viele Menschen zu mobilisieren, etwa 200.000, doch davon waren einige bezahlt und bewaffnet und das führte dazu, daß viele andere, Familien usw., denen eine andere Opposition vorschwebt, die Demonstration wieder verließen.
Das wird natürlich nicht in den Medien gezeigt, ebenso wenig wie die Demonstrationen der Anhänger der bolivarianischen Revolution, die nur wenige Tage später 2 Millionen Menschen mobilisierten.
Als offene parteipolitische Opposition gewinnt währenddessen „Primero Justicia“ viel Kraft, sie kontrollieren die Rathäuser mehrerer Stadtteile von Caracas und sind auch im Parlament sehr aktiv. Sie haben enge Verbindungen mit der Spitze der katholischen Kirche, verteidigen die oberen Klassen, das Privateigentum und die Privatschulen. Ein Repräsentant sollte sogar Minister in der Putsch-Regierung werden. Primero Justicia wird unter anderem auch aus Deutschland, von der Konrad-Adenauer-Stiftung, finanziert.
Die Situation in Venezuela scheint von außen ziemlich konfus. Es ist nicht klar, welche Macht die Regierung wirklich besitzt. Woran liegt das?
In Venezuela besteht eine „doppelte Macht“, wie wir es nennen, d.h. daß wir zwar den Präsidenten und die Regierung stellen, aber viele andere Bereiche von der Opposition kontrolliert werden. Es wurden zwar die Minister ausgetauscht, doch in vielen Institutionen sind die Funktionäre die gleichen geblieben. So ist die Justiz z.b. in Händen der Opposition. Mehr als die Hälfte die Richter entscheidet im Interesse der Reichen und Korrupten. Auch im Obersten Gerichtshof, der von Luis Miquelena zusammengestellt wurde, der sich zunächst als Freund der Revolution ausgab, viel Vertrauen genoss und Ministerämter innehatte. Wie sich aber später herausstellte,arbeitete er für die Opposition. Ebenso sieht es in der Nationalversammlung aus, wo die Opposition mittlerweile über 80 von 165 Sitzen verfügt, weil eine Reihe Abgeordneter – die von Mi­que­lena als Kandidaten vorgeschlagen worden waren – zur Opposition übergewechselt sind. Ich bin immer überzeugter davon, daß Miquelena infiltriert war, um Chávez zu neutralisieren. So wird eben alles boykottiert. Im Parlament z.b. wird seit Monaten die Verabschiedung der Gesetze zur sozialen Sicherung, die die Bevölkerung fordert, von der Opposition blockiert. Wenn sie auf der Tagesordnung steht, dann for­dern die Oppositionsabgeordneten, die Tagesordnung zu ändern oder reden von anderen Sachen. Die interne Redeordnung ist sehr locker, jeder Abgeordnete kann zehn Minuten reden und weitere sieben Minuten, wenn seine Rede kommentiert wurde. Wenn das auch nur 40 Abgeordnete machen, dann verzögert sich alles und am Schluß wird nicht über das eigentliche Thema geredet. So haben wir angefangen, Sondersitzungen einzuberufen, denn da darf die Tagesordnung nicht mehr verändert werden.
Wir versuchen alles absolut demokratisch und offiziell zu lösen, das ist nicht leicht. So auch mit den Medien, die ja desinformieren und lügen, aber es wurde trotzdem nichts unternommen, damit sie nicht sagen können, sie seien zensiert worden. Dabei gibt es sogar ein Gesetz der vorherigen Regierung um gegen die Medien vorzugehen.
Es ist schwer, wenn man selbst alle Normen respektiert und die Opposition nicht.
Welches waren die eigenen Fehler, die durch den Putsch vom 11.4. deutlich geworden sind?
Der 11. April war für alle eine Lektion, es hat uns gezeigt, daß der Feind zu allem bereit ist. Wir müssen die Basisorganisierung weiter stärken, es müssen mehr neue Personen aufgebaut werden, damit nicht alles verloren geht, nur weil Chávez weg ist. Andererseits wurde die Revolution von vorneherein infiltriert. Luis Miquelena beispielsweise, zu Beginn politischer Mentor von Chávez, war jemand, der immer auf seine langjährige Erfahrung als Linker verwiesen hat und immer drauf gedrängt hat, einen möglichst konfrontativen Diskurs zu haben, er selbst war auch sehr verbalradikal, und hinten rum hat er einfach in den wichtigen Institutionen des Landes das alte Personal der Opposition gelassen. Mi­quelena so sehr zu vertrauen, war ein großer Fehler, und das erkennt Chávez auch öffentlich an. Chávez versucht auch, die Fehler wieder gut zu machen, und dazu gehört auch, einen nicht mehr so konfrontativen Diskurs zu führen. Aber das hängt auch von den Gelegenheiten ab. In seinem Amt als Präsident ist er diplomatischer geworden, aber in politischen Versammlungen, vor einer Masse, die verlangt, er möge in ihrer Sprache sprechen, tut er das auch. Er hat eben diese doppelte Funktion, abhängig vom Kontext.
Die Lage ist ja kompliziert, es sollen ja sogar Teile der Geheimdienste zur Opposition gehören.
So heißt es, es konnte noch nicht nachgewiesen werden. Aber auch dafür war Miquelena als Innen- und Justizminister eine Zeit lang verantwortlich. Aber es läuft eine Untersuchung und es werden Leute entfernt, was unvermeidbar ist. Das macht jetzt Diosdado Cabello als Innen- und Justizminister, er kommt von unten und kennt die Realität, und er leitet das Ministerium mit viel Taktgefühl. Das ist sehr wichtig, denn die beste Verfassung nutzt nichts, wenn die juristische Umsetzung nicht erfolgt. Es geht darum, eine unabhängige Justiz aufzubauen, aber dafür müssen auch die Kommissionen zur Ernennung gebildet werden usw.
Der Prozeß in Venezuela erscheint ja ungewohnt. Es ist ja sozusagen eine „Emanzipation“ von oben. Normalerweise verläuft so ein Prozess ja anders herum.
Zunächst einmal waren es ja immer jene, für die es nicht opportun war, daß das Volk sich organisiert, die sagten, das Volk sei nicht bereit für einen solchen Prozeß. Das behauptet auch Luis Miquelena heute, und da sind bestimmt noch mehr Leute, die gegen uns arbeiten. Miquelena war ja nicht allein in der Partei. Ich sage das offen. Ich bin selbst Amtsträgerin und komme aus ärmlichen Verhältnissen, meine Mutter wurde als Kommunistin politisch verfolgt. Daher weiß ich, daß das Volk oftmals viel bereiter ist, als die politischen Führer, die sagen, es sei noch nicht so weit. Chávez ist sich dessen bewußt, daß die einfachen Menschen weise sind. Daher auch das Radioprogramm „Hal­lo Präsident“ (Jeden Sonntag gibt es im staat­lichen Kanal 8 eine Sendung, in der jederman anrufen und mit Chávez sprechen kann). Wenn Chávez nicht so wäre, hätte ihn das Volk nicht am 13. April zurück geholt. Seine Reden wirken pädagogisch.
Wir verfügen erstmals in der Geschichte Venezuelas über eine republikanische Verfassung und vor allem die unteren Schichten tragen die Verfassung immer bei sich, sie kennen ihre Rech­te und sie wissen in dem ganzen Durcheinander, wer die Korrupten sind. Wenn er öffentliche Reden hält, dann sind da immer Menschen mit Schildern, auf denen steht, wer korrupt ist, um ihm das direkt mitzuteilen. Er ist für die Menschen Bürgermeister, Gouverneur und Präsident.
Aber es ist doch ein Problem, daß sich alles stark auf Chávez’ Person konzentriert.
Ja, es ist ein Problem und Chávez selbst versucht auch neue, andere politische Führungspersonen aufzubauen. Ich weiß, daß ich nicht einem Mann folge, sondern bestimmten Idealen und Realitäten. Ich weiß, daß wir eine Realität haben, die es uns erlauben würde, ein entwickeltes Land ohne so viel Armut zu sein.
Chávez wird aber auch von der Bevölkerung geliebt, er verkörpert eben eine gewisse Ehrlichkeit und Haltung, die Vertrauen hervor bringt. Die venezolanische Linke hat über Jahre versucht, sich zu einen und es war nicht leicht. Als es dann begann Früchte zu tragen, fehlte eine Person, die das nach außen überzeugend repräsentieren könnte. Chávez war Teil derMilitärs, die sich nach 1989, als die Armee denBefehl von der Regierung von Carlos Andres Perez bekam, den Volksaufstand niederzuschlagen und mindestens 3.000 Menschen tötete, oppositionell organisierten. Dann versuchte er 1992 einen Putsch und nahm nach dem Scheitern alle Verantwortung auf sich und begründete seinen Putschversuch. Das machte unheimlichen Eindruck. Es war das erste Mal, daß jemand in Venezuela die Verantwortung für etwas übernahm. Die Menschen begannen richtig zu dem Ort, an dem er inhaftiert war, hinzupilgern.
Aber dennoch wird vieles unternommen, um nicht alles auf Chávez zu konzentrieren und es sind auch schon viele neue Leute nachgewachsen. Vor allem durch die Bolivarianischen Zirkel.
Über die Bolivarianischen Zirkel ist wenig bekannt, auf welche Idee geht ihre Gründung zurück?
Bevor wir diese Struktur eingeführt haben, profitierten vielleicht fünf Prozent der Bevölkerung als Oberschicht von allem und gaben der Bevölkerung nur die Krümel. Gemäß demKonzept des Neoliberalismus: „Wenn die Kapitalisten genug produzieren, dann fallen auch mehr Krümel für die Armen vom Tisch“. Das ist natürlich nicht unsere Vorstellung, das Volk soll Teil sein der ökonomischen, kulturellen und sozialen Entwicklung des Landes, Bewußtsein entwickeln. Früher haben die Reichen und die Politiker die Armenstadtteile nur vor den Wahlen besucht und dann eine neue Treppe bauen lassen, die wurde aber dann auch so gebaut, daß sie nur zwei Jahre hielt, denn dann mußte ja für die nächste Kampagne wieder eine Treppe gebaut werden. Für den Bau der Treppe wurden dann Firmen von Bekannten oder Verwandten beschäftigt und eine Provision dafür kassiert. Was geschieht heute? Es wurde versucht einzuführen, daß die Bevölkerung selbst die Arbeiten überwacht und darüber hinaus selbst mitarbeitet und mitverantwortlich ist. In der Präambel der neuen Verfassung steht, daß das Volk „Mitverwalter“ öffentlicher Arbeiten ist. Ein Großteil der Artikel der Verfassung ist so ausgelegt und das macht sie revolutionär. Das Volk ist als handelndes Subjekt in der Verfassung festgelegt. Dafür wurden die Bolivarianischen Zirkel aufgebaut, benannt nach Simón Bolívar, der in die Ehrlichkeit und die Entwicklung des Menschen durch Bildung als Grundprinzipien glaubte. Denn ein gebildetes Volk hält die Macht in den Händen, es kann nicht manipuliert werden.
Wie viele Zirkel gibt es und wie viele Menschen sind in den Bolivarianischen Zirkeln organisiert?
Es wird geschätzt, dass es etwa 200.000 Zirkel gibt in denen mittlerweile 2,5 Millionen Menschen organisiert sind.
Welches Ziel haben die Zirkel?
Es geht darum, Eigenverantwortung zu fördern, nicht die Haltung „die Regierung macht nichts, die Regierung gibt mir nichts...“. Es geht darum, die Frage zu stellen „Was tue ich dafür, daß dies und das geschieht?“ Und so entstehen die Zirkel aus mindestens fünf Personen in einem Wohnblock, einem Stadtteil, in einer Gemeinde, sie evaluieren die Problematik vor Ort und stellen z.b. fest: „Wir haben keine Schule und kein Krankenhaus ... aber wir haben Maurerinnen, Schreinerinnen, Näherinnen und Lehrerinnen, und so können wir uns organisieren und selbst machen, was wir in unserem Stadtteil brauchen“. Die organisierten Leute studieren die Verfassung, erörtern die Situation und bekommen eine Fortbildung durchRegierungsinstitutionen. Dann bilden sie Dienstleistungskooperativen und führen ihre Arbeiten selbst durch. Die Finanzierung kommt vom Staat, anstatt irgendwelche Unternehmen zu finanzieren. Es geht darum, damit den bürokratischen Apparat der Verwaltung auf die Hälfte zu reduzieren und die ganze Korruption zu verringern, indem alles direkt auf der lokalen Ebene angesiedelt wird und es die Menschen vor Ort sind, die die Arbeiten für die eigenen Gemeinde in kollektiver Form leisten.
D.h. die Zirkel sind eine gesellschaftliche, politische und ökonomische Organisierung.
Eher gesellschaftlich, nicht politisch im Sinne von parteipolitisch, alle – ganz unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit oder Vorliebe – können mitmachen, selbst einen Zirkel bilden, niemand wird gefragt. Aber wichtig ist eben auch der ökonomische Aspekt, um das eigene Überleben zu organisieren und das Leben im Stadtteil. Es gibt Zirkel von Lehrern, Näherinnen, Anwälten, Ingenieuren usw. Die Zirkel gibt es in allen Berufen und sozialen Klassen. All diese Aspekte werden von der Verfassung gestützt. Aber es gibt keine bewaffneten Zirkel, wir haben keine Waffen für die Bevölkerung. In einem Land, das sich in einer so schwierigen wirtschaftlichen Situation befindet, gibt es kein Geld, um die Bevölkerung zu bewaffnen, zumal es auch eine Armee gibt.
Aber den oberen Klassen ist klar geworden, daß diese gesellschaftliche Organisierung sie verdrängen kann. Diese gesellschaftliche Organisierung wird keine Almosen mehr akzeptieren. Sie wird nicht akzeptieren, daß man ihr kurz vor den Wahlen eine Treppe baut, um Stimmen einzufangen. Daher sind die Zirkel nicht im Sinne der oberen Klassen und daher verteufeln sie sie. Und die ganzen Medien, die die oberen Klassen in ihren Händen halten, erzählen, die Menschen in den Zirkeln seien Kriminelle, Drogenabhängige, der Mob, einfach weil sie Arme sind und gesellschaftlich und politisch organisiert.
Ein Problem ist aber, daß es noch keine juristische Grundlage dafür gibt, daß die Kooperativen der Zirkel von den Rathäusern fordern können, die Aufträge für die lokalen Vorhaben zu bekommen, und daher werden sie von den Kommunalverwaltungen, die nicht zum bolivarianischen Projekt stehen, nicht einbezogen, da sie ja ihre Geschäfte gefährden. Dafür wurde von der Zentralregierung ein Schulungsprogramm für die Zirkel eingerichtet, damit diese lernen, die öffentlichen Arbeiten zu prüfen und gegebenenfalls zu stoppen, wenn sie nicht korrekt durchgeführt werden. Es gibt den Fall einer Gemeinde, in der die vorhergehende Regierung eine Brücke hat bauen lassen, die schon wieder zerfällt, und die Bevölkerung hat sie aus Protest besetzt, um zu garantieren, daß der Auftrag diesmal korrekt vergeben wird. Es entsteht also sozialer Druck. Die Rathäuser, die von der Opposition regiert werden, bekommen starken sozialen Druck zu spüren.
Der „bolivarianische Prozeß“, wie das Projekt gesellschaftlicher Umgestaltung in Venezuela bezeichnet wird, findet Unterstützung in mehreren Ebenen. Wir haben die Regierungsorganisationen, die bolivarianischen Zirkel und dann gibt es noch weitere unabhängige linke Organisationen, Gruppen, Bewegungen, Nichtregierungsor­ga­ni­sa­ti­o­nen.
Auch religiöse Gruppen und Organisationen.
Wie sieht das Verhältnis zwischen diesen und der Regierung aus?
Der Präsident hat zur Einheit aufgerufen. Vor einem Jahr wurde eine „Politische Leitung der Revolution“ gegründet, die aus allen linken Parteien besteht: Der Kommunistischen Partei, dem Movimiento Electoral del Pueblo (Wahlbewegung des Volkes), Partido Patria para Todos (Partei Vaterland für Alle, PPT), Podemos (Wir können) – die einen Teil der MAS (Bewegung zum Sozialismus) darstellen, die sich gespalten hat, die Bewegung Fünfte Republik und alle Bewegungen, die versuchen, Venezuela vor dem Chaos zu retten, dem Zustand der Verwahrlosung und des Verwaltungschaos, das vorher herrschte. Diese Kräfte sind alle vereint darin, die institutionelle Rechtmäßigkeit des Projekts zu verteidigen. Doch es verteidigen auch alle ihre eigene Macht, das heißt die wirkliche Einheit unter allen ist nicht konsolidiert.
Warum ist das bisher nicht gelungen?
Das geht bis auf den Krieg von 1960 (nach dem Sturz der Diktatur Jimenez und der Übernahme der Regierung durch die sozialdemokratische AD, Anm. Info-Verteiler, siehe auch Info-Verteiler Nr. 64) zurück, als wir den Prozeß verloren haben, weil der Drang zum Protagonismus in der Linken so stark war. Dieser entsteht in Venezuela, weil es ein reiches Land ist – reich an Naturressourcen, mit einer jungen produktiven Bevölkerung –, viele Menschen in den Bewegungen sind auch machthungrig, wollen Posten haben, das erschwert eine wirkliche Einheit. Aber wir sind auf dem Weg, denn die politischen Umstände zwingen uns zur Einheit, der Feind ist zu allem bereit. Das Land und die Situation verlangen, daß wir jenseits persönlicher Differenzen zusammen halten. Denn die Opposition kämpft um die Wiedererlangung der Macht, die sie einmal hatte, die wirtschaftliche Macht, die das Erdöl darstellt. In Venezuela werden ständig neue Erdölfelder entdeckt. Darüber hinaus gibt es in Venezuela Bauxit, Eisen, Gold, Kohle, Nickel, Wasser.
Es gibt „Wasserseminare“, da wird der Bevölkerung der Umgang mit Wasser erläutert. die Bevölkerung lernt alles mögliche und sehr schnell, sie hat die vermeintliche politische Unreife schneller überwunden, als viele glaubten, und schneller, als es den Politikern paßt. Es entstehen neue Führungspersonen, und das wird die gesamte Linke zwingen, sich zu einen. Nicht nur die Linke, alle, die ihren Enkeln in diesem Land eine Zukunft geben wollen, müssen auf politisches Sektierertum verzichten.
Alle linken Parteien? Die MAS hat sich gespalten, was ist mit Causa R geschehen?
Die haben sich ebenfalls gespalten, daraus ist die PPT hervorgegangen, der Rest ist eine kleine, der Revolution absolut entgegenstehende Gruppe.
Unter den Maßnahmen der Chávez-Regierung war auch das „Landgesetz“, nach dem brachliegende Ländereien enteignet werden können und eine kleine Landreform stattfindet. Diese geht einerseits sehr langsam vonstatten – seit Dezember 2001 haben einige zehntausend Familien, also ca. 100.000 Menschen, Land bekommen, von 2,5 Millionen Landlosen, die es angeblich gibt. Dafür aber bekommen diese Bauern nicht nur Land, sondern auch günstige Kredite und Schulungen.
Zunächst einmal ist die Ernährungssicherheit in der Verfassung verankert. Das bedeutet, daß Land und die Mittel zur landwirtschaftlichen Entwicklung garantiert werden müssen.
Enteignet wurde bisher aber nichts, das ist der letzte Schritt. Zunächst wird geschaut, welches Land nicht genutzt wird und warum, es werden Kredite und Hilfen angeboten, wenn es daran liegt. Wenn dann nach einigen Jahren immer noch nichts geschieht, dann werden Geldstrafen festgelegt und erst danach, wenn weiter nichts mit dem Land geschieht, wird ein juristischer Prozess der Enteignung in die Wege geleitet. Aber es gibt keine willkürlichen Enteignungen.
Der erste Schritt ist überhaupt erst einmal festzustellen wie viel bewirtschaftbares Land es gibt. Es wurde ein Institut mit Regionalbehörden gegründet, in dem sich alle landwirtschaftlichen Produzenten einschreiben müssen, ganz gleich ob das Land ihnen gehört oder gepachtet ist. Das Nationale Agrarinstitut wurde mit dem „Landgesetz“ abgeschafft, es war ein korrupter Verein, dafür entstand das „Nationale Landinstitut“, das „Nationale Institut landwirtschaftlicher Entwicklung“ und das „Institut für Vermarktung von Agrarprodukten“. Viele der Mitarbeiter dieser Institute – Ökonomen, Juristen und Ingenieure – arbeiten ehrenamtlich. Die meisten Produzenten haben sich mittlerweile eingeschrieben, doch einige Großgrundbesitzer nicht, da sie keine Belege haben für das Land, das sie nutzen, häufig haben sie es sich unter dubiosen Umständen angeeignet. Sie verfügen über viele Ländereien, für Wochenendhäuser oder Felder, die von Bauern in sklavenähnlichen Bedingungen bewirtschaftet werden. Daher sind sie natürlich gegen diesen Prozeß. Denn diese Ländereien, die widerrechtlich angeeignet wurden, werden jetzt an die Landlosen verteilt.
Der bäuerliche Sektor, der beginnt, von dem Landgesetz zu profitieren, ist sich sehr wohl der Bedeutung bewußt und verteidigt das Landgesetz.
Aber es wurden ja auch schon Ländereien verteilt.
Ja, insgesamt haben bereits mehrere zehntausend Familien Land bekommen, vor allem in der Region südlich des Sees von Maracaibo. Die Großgrundbesitzer reagierten mit bewaffneter Gewalt, dort gab es bereits 25 Tote (inzwischen wurden über 70 Bauern und Bäuerinnen von den Todesschwadronen der Großgrundbesitzer umgebracht, Anm. Info-Verteiler).
Die Ländereien, die verteilt wurden, waren Ländereien, die sich Großgrundbesitzer widerrechtlich angeeignet hatten, und es wurde mit Landvermessungen und topographischen Karten nachgewiesen, daß sie nicht ihnen gehörten. Zum Teil legten sie sogar Besitztitel aus anderen Bundesstaaten vor. In Venezuela herrscht ein unglaubliches Chaos in der Registrierung des Grundbesitzes.
In der Gegend von Barlovento beispielsweise, in der Region Miranda, wird Kakao sehr guter Qualität für den Export angebaut. In Miranda hat eine Großgrundbesitzerfamilie spanischer Abstammung, Gonzalez Raya, die Grundstücksgrenzen im halben Staat verfälscht und das ganze Land in Barlovento gehört ihnen. Als ein unabhängiger Landvermessungsspezialist vor einigen Jahren dies herausfand, und die Unregelmäßigkeiten im Landbesitz dieser Familie öffentlich machte, wurde er von der Regierung Caldera (die Vorgängerregierung zu Chávez, Anm. d. Red.) verfolgt, sein Haus wurde durchsucht, er wurde festgenommen und aus dem Bundesstaat ausgewiesen.
Solche Unregelmäßigkeiten im Landbesitz herrschen im ganzen Land.
Und die 25 Toten? Gibt es da genauere Informationen?
Das waren alles Landarbeiter und ihr Tod konnte nicht, wie es oft geschieht, irgendwelchen Auseinandersetzungen zwischen Dro­gen­händlern oder kriminellen Gruppen zugeschrieben werden. Es steht fest, daß es in der Re­gion Killer gibt, die von den Großgrundbesitzern angeheuert wurden, die von den Re­gu­lie­rungsmaßnahmen betroffen sind. Nach außen wird es dargestellt, als seien es Sicherheitsdienste, um gegen Entführungen vorzugehen, tatsächlich sind es Killergruppen. Es gab auch schon zwei Attentate auf den Minister für landwirtschaftliche Entwicklung, dabei wurde einer seiner Fahrer angeschossen.
Es war ja auch schon die Rede von der Entstehung paramilitärischer Gruppen mit Verbindungen zu den kolumbianischen Paramilitärs.
Ja, davon ist die Rede. Luis Miquelena führte als Innen- und Justizminister Finanzmittel ein, die direkt an die Regionalgouverneure oder die Rathäuser gezahlt werden, um die Sicherheitslage zu verbessern. Es wurde bereits nachgewiesen, daß in Gegenden, die von der Opposition regiert werden, Funktionäre für polizeiähnliche Aufgaben ernannt wurden, die auch bewaffnet sind, aber juristisch gar nicht existieren können. Viele von ihnen nahmen auch nachweislich an der Demonstration der Opposition vom 10. Oktober teil. Ein Bus aus dem Bundesstaat Carabobo wurde auf dem Weg zur Demonstration aufgehalten und er war voll mit Bewaffneten. Sie waren mit halbautomatischen 9mm-Pistolen der Marke Glock (made in Austria, Anm. Info-Verteiler) bewaffnet, die als eine der besten Handfeuerwaffen der Welt gilt und relativ teuer ist. Dies geschieht in den Bundesstaaten Carabobo, Miranda und Yaracuy. Dort wurde auch von Abgeordneten auf die Ausbildung von Bewaffneten hingewiesen, und der Bundesstaat Miranda verfügt sogar über differenzierte Bewaffnung. Verantwortlich dafür ist ein ehemaliger Militär, Ex-Chef des Generalstabs, der in der Regierung von Miranda arbeitet und in die Putschversuche verwickelt war. Der Besitz von militärischer Bewaffnung seitens oppositioneller Bundesstaaten fällt mit der Tatsache zusammen, daß ein Beteiligter am Putsch Leiter des Kriegswaffenunternehmens „Compañía Anóni­ma Venezolana Industrial de Municiones“ (Ca­vin) ist. Aber in Miranda gibt es keinen Krieg, was es gibt ist Kriminalität, vor allem im Bereich des Drogenhandels. Die gab es jedoch vorher kaum, so daß es so aussieht, als habe der Gouverneur Enrique Mendoza – der zur Oppositionspartei Copei gehört und von Primero Justicia gestützt wird – die Ausbreitung erlaubt, um dann die Bewaffnung zu rechtfertigen.
In einigen Zeitungen wird ja mit einer rassistischen Argumentation gegen Chávez und seine Anhänger mobilisiert. Sie werden als Schwarze, Indianer und dummer Pöbel bezeichnet. Welches Gewicht hat dieser Diskurs?
In Venezuela gibt es schon immer eine starke Diskriminierung, soziale und rassistische. Das reicht bis in die Telenovelas, die Vorabendserien im Fernsehen, in denen der Schwarze immer die Rolle des Dienstpersonals hat und nie eine Hauptperson darstellt. Ebenso wiederholt sich der Rassismus in der Werbung, in den Schulen und so weiter. Den Rassismus hat es also immer gegeben, aber niemand hat sich getraut zu protestieren, denn wer protestierte, mußte damit rechnen, geschlagen zu werden oder daß man ihm Drogen unterschiebt, um ihn zu verhaften. Die Armen trauten sich nicht aus den marginalisierten Stadtteilen zum Protestieren in die Stadt, und so hatte die Oberschicht ihre Ruhe. Auch wenn natürlich hinter jedem Reichenviertel ein Armenviertel liegt, wo die Menschen wohnen, die bei den Reichen sauber machen, den Müll abholen, als Laufburschen arbeiten.
Heute aber finden in den Theatern kulturelle Veranstaltungen für das Volk statt, und daher geht die Oberklasse dort nicht mehr hin und kehrt den Rassismus heraus. Im Theater „Teresa Carreño“, der Ort des höchsten kulturellen Ausdrucks in Venezuela, finden Aufführungen für das Volk statt, und die Oberklasse fühlt sich verdrängt, da sie sich auf keinen Fall mit diesem Volk mischen will, mit den „Horden“, mit dem „Pöbel“, wie sie sagen. Und ebenso richtet sich das gegen Hugo Chávez, der abfällig angesehen wird, weil er schwarze und indigene Vorfahren hat und dazu steht.
Der Rassismus war schon immer da, aber jetzt tritt er offen zu Tage, der Schleier, der ihn verbarg, ist weg. Bei den Aktionen und Demonstrationen der Opposition werden die Anhänger der Regierung als „Bastarde“ bezeichnet, ein Wort, das eigentlich nicht gebräuchlich ist. Auch gibt es ständig sexistische Sprüche, selbst von Frauen, wie z.B., daß wir in der Regierung so viele Frauen sind, weil Chávez mit allen ins Bett geht und noch schlimmere Sachen. Ausdrücke, bei denen ich nie gedacht hätte, daß Frauen der Oberklasse sie in der Öffentlichkeit in den Mund nehmen.
Wie ist denn die Situation der Frauen?
Wir Frauen sind in Feierstimmung ... hahaha
Welche Arbeit wird denn in diesem Bereich geleistet und was hat sich verändert?
Diese Regierung hat die Sache von Anfang an anders gemacht. Schon bei der Diskussion um die Verfassung wurden in allen Bereichen spezielle Frauenkommissionen gebildet, damit wir Frauen zum ersten Mal in der Geschichte sichtbar werden. Auch die Berufsbezeichnungen wurden geändert und es gibt jetzt für alle Berufe auch weibliche Formen. Die Genderfrage ist zu einer Querschnittsaufgabe geworden. Venezuela ist ja wie jedes andere lateinamerikanische Land ein Macho-Land, so daß das für uns Frauen eine wichtige Veränderung bedeutete, vor allem für Frauen aus den unteren Schichten. Früher unterstanden alle „Frauenangelegenheiten“ und die Frauenorganisationen den Ehefrauen der Minister, die in dem Bereich alles leiteten. Sie reisten vermeintlich für die Frauenrechte durch die ganze Welt, während sich in Wirklichkeit nichts änderte außer einigen Kleinigkeiten, wie z.b., daß der Ehemann die gemeinsamen Güter nicht mehr ohne Zustimmung der Frau verkaufen kann. Als Chávez an die Macht kam, forderten wir Frauen, daß Maria León, eine Gewerkschaftsführerin aus den unteren Schichten mit kommunistischer Geschichte, zur Leiterin des Nationalen Fraueninstituts wird. Das war damals noch ein Präsi­dent­schafts­institut, das Chávez dann erst einmal in ein autonomes Institut mit eigenem Haushalt gewandelt hat. Nun gibt es ständig Aufrufe und Einladungen, daß sich die Frauen aus den armen Stadtteilen mit der Leiterin des Fraueninstituts treffen sollen, das hatte man vorher nie erlebt. Wir Frauen lernen nun auf allen Ebenen unsere Rechte kennen.
Was macht denn die parlamentarische Kommission „Familie, Frauen und Jugend“, zu der Sie auch gehören?
Die Kommission, die unter der Leitung der Abgeordneten Marelis Perez steht, erarbeitet gerade ein Gleichstellungsgesetz. Darunter fallen dann alle Rechte und Pflichten der Frauen. Wir arbeiten zu innerfamiliärer Gewalt, das Recht auf Ausbildung und Chancegleichheit, das Recht auf Arbeit und auf politische Teilhabe, das Recht auf Arbeit ohne Altersdiskriminierung ... letzteres ist vor allem wichtig, denn man sieht immer wieder Stellenanzeigen, in denen steht, die Bewerber sollen nicht älter als 30 Jahre alt sein und am besten Männer. Aber da haben wir schon eine Schlacht gewonnen, denn das Gesetz ist durch und jedes Mal, wenn solch ein Profil verlangt wird, legen wir eine Beschwerde ein.
Die größten Auswirkungen zeigt aber die Integration der Frauen in die soziale und wirtschaftliche Entwicklung. Mittlerweile ist auf jeder Demonstration eine breite Beteiligung von Frauen zu sehen.
In Venezuela ist in einem Großteil der Haushalte die Frau Haushaltsvorstand und sie steht meist völlig alleine dar. Bisher war nicht einmal die „verantwortungslose Vaterschaft“ strafbar. Dazu machen wir gerade ein Gesetz.
Die Frauen kümmern sich um die Kinder, stehen dem Haushalt vor, arbeiten im informellen Sektor, kümmern sich um das Haus, sie haben einen dreifachen Arbeitstag, und dennoch hatten sie bisher keine soziale Sicherheit. Das ist jetzt anders, diese Frauen haben jetzt eine garantierte soziale Sicherheit, selbst wenn sie im informellen Sektor arbeiten. Die Hausfrauen wurden mit in das System der sozialen Sicherheit integriert. Auch sie – selbst wenn es lange Zeit nicht so gesehen wurde – produzieren Mehrwert. Mit der reproduktiven Tätigkeit sorgen Hausfrauen ja unter anderem z.B. im Fall der Erziehung dafür, daß produktive Menschen heranwachsen. Daher sehen wir die Hausarbeit eben auch als Arbeit an, die vom System der sozialen Sicherheit erfaßt werden muß. Das hat unter den Hausfrauen für viel Aufhebens gesorgt und sie betätigen sich jetzt politisch und gesellschaftlich, nehmen an Treffen und Versammlungen teil, bringen ihre Ideen ein. Die Beteiligung ist ja auch durch die Verfassung garantiert, die einen partizipativen Charakter hat. In allen Bereichen ist die große Beteiligung festzustellen. Dann wurde eine „Frauenentwicklungsbank“ geschaffen, diese sorgt für Ausbildung und Kredite von Frauen aus den ärmsten Schichten, um ihnen die Entwicklung kleiner Unternehmen zu ermöglichen.
Das ist ja nicht unumstritten, in vielen Ländern hat das ja nicht gerade die Situation der Frauen verbessert.
Die Frauen müssen richtig ausgebildet werden, damit sie nicht nachher schlechter dastehen als vorher. Das bedeutet, bevor sie den Kredit bekommen und ihr Geschäft in die Wege leiten, müssen die Frauen erst Buchhaltung lernen, lernen, sich ein Einkommen festzusetzen und eine Abrechnungsweise zu entwickeln, die es ermöglicht, die Investition wieder herauszukriegen. Es soll ja ein produktives Unternehmen werden. Daher verläuft dieser Prozeß sehr langsam. Die Frauen werden auch zu einem verantwortungsvollen Umgang mit dem Geld ausgebildet und sie müssen den Kredit zurückzahlen, da es Geld vom Staat ist. Das ist wichtig, denn einer der Gründe dafür, daß Venezuela in die Krise kam – neben den Auslandschulden, die wir schon dreimal zurückgezahlt haben und die trotzdem gestiegen sind – war, daß die herrschenden Parteien alles an ihre Gefolgsleute verteilten, und wenn jemand eine Wohnung bekam, dann hat er sie nicht bezahlt, denn sie kam ja von der Partei. Ich kenne das, ich habe früher in der Wohnungsbehörde gearbeitet, und da kamen ständig Briefe an von der Regierungspartei, in denen stand: „Bitte Person X eine Wohnung zuteilen“ und die Person mußte nie zahlen.
Aber dieses Verantwortungsbewußtsein zu schaffen ist nicht leicht. Wir bilden Gruppen von fünf Frauen aus dem gleichen Stadtteil, und die müssen dann gegenseitig darauf schauen, daß die Zahlungsverpflichtungen eingehalten werden. Den Frauen wird sehr intensiv erklärt, warum sie ihre Kredite zurückzahlen müssen. Einerseits, weil sie dann die Möglichkeit haben, einen weiteren, größeren Kredit zu bekommen und zweitens, weil das Geld dann wieder anderen Frauen zur Verfügung steht.