Info-Verteiler und FreundInnen
Venezuela:
Das vereinte Volk wird nie besiegt werden
El pueblo unido jamas sera vencido, Parole der Unidad Popular in Chile, vor dem Putsch 1973.
Die Abwehr des militärischen Angriffs
Der Geruch eines neuen Putsches liegt heute in der Luft. So ähnlich war es im Iran kurz vor dem U.S.-unterstützten Putsch 1953, der die Mossedah-Regierung stürzte und den Schah wiedereinsetzte. Es fühlt sich an wie 1963 in Südvietnam. Es ähnelt auf gespenstische Weise dem frühen September 1973, bevor der Putsch in Chile 20 Jahren von Blut und Finsternis die Tür öffnete. (Aus: ZMAG. Der Putsch in Chile fand genau am 11.9.1973 statt.)
13. April 2002. Tausende Menschen strömen aus den Vororten in die Innenstadt von Caracas. Vorbei an den an allen Straßenecken mit schußbereiten Gewehren postierten Polizisten, die gestern noch Dutzende getötet und verletzt, Hunderte verhaftet und verschleppt haben. Trotz der Aufrufe sämtlicher privater TV- und Radiosender, aller Zeitungen, Ruhe zu bewahren und die neue Regierung zu unterstützen. Sie kommen mit Transparenten, mit Plakaten aus den barrios, den Armenvierteln von Caracas. Sie rufen „Putschisten!“, „Weg mit der Diktatur!“, „Schluß mit der Zensur!“ Sie rufen: „Chávez, unser Freund, das Volk ist mit dir“. Anderthalb Millionen sammeln sich schließlich um den Miraflores-Palast, den Sitz des Präsidenten.
Dort sitzt seit zwei Tagen der Putschist, der Chef des Unternehmerverbandes FE­DE­CA­MA­RAS, Pedro Carmona. Er glaubt, er sei nun der Präsident des Landes. Sein Sprecher hat bereits verkünden lassen, was sich alles ändern wird. Alles wird sein wie früher, das Rad der Geschichte wird um vier Jahre zurückgedreht, vor 1998. Die Verfassung, 1999 per Volksentscheid eingeführt: abgeschafft. Über 40 Gesetze, die aufgrund der neuen Verfassung erlassen wurden: abgeschafft. Die Pressefreiheit: abgeschafft. Die Oligarchie wird sich an den überreichen Schätzen des Landes bereichern, wie sie es die 40 Jahre zuvor in einer Sozialpartnerschaft aus der sozialdemokratischen AD (Accion Democratica), dem christlich-sozialen COPEI, den Unternehmerverbänden und gelben Gewerkschaften getan hat. So träumt Carmona im Präsidentenpalast, und mit ihm träumen die Putschistengeneräle, der Vorsitzende der CTV-Gewerkschaft, Carlos Ortega, die Oligarchie. 13. April 2002, der Traum ist aus.
Die Opposition in Venezuela, das ist seit 1998 die herrschende Klasse. Ökonomisch herrscht sie immer noch. Nach der Wahl von Hugo Rafael Chávez Frias zum Präsidenten hat sie Milliarden Dollar aus dem Land geschafft, in die USA, um die Wirtschaft zu schädigen und die Regierung zu destabilisieren. Um das Ihre im Trockenen zu haben. Seither versucht sie alles, um die Regierung zu blockieren, zu konterkarieren, zu stürzen. Sie sitzt in der staatlichen Erdölgesellschaft PDVSA, der wichtigsten Einnahmequelle des venezo­la­ni­schen Staates. Sie hat die Gewinne aus dem Ölgeschäft privatisiert, den Yankees ihren Anteil überlassen und selbst den Rest eingestreift. Sie beherrscht sämtliche Medien des Lan­des, sie stellt die großgrundbesitzende Klas­se, sie kontrolliert die Banken. Die Richterschaft, auf Lebenszeit ernannt: Werkzeug der Oligarchie. Die Polizei von Caracas: befehligt vom reaktionären Bürgermeister.
Sie tut sich schwer in ihrer neuen Rolle, der Rolle der Opposition. Wer es gewohnt ist, jahrhundertelang Befehle zu erteilen, Menschen auszubeuten, Gesetze zu diktieren, wer sich ein Parlament bloß hält, um den Schein der bürgerlichen Demokratie aufrecht zu erhalten, tut sich schwer in der Rolle der bürgerlichen Opposition. Sie akzeptiert demokratische Entscheide nur, wenn sie zu ihren Gunsten ausgehen. 1998 geht diese Periode zu Ende: Chávez und seine MVR (Movimiento 5. Republica) erhalten die absolute Mehrheit. 1999 findet die neue Verfassung eine Mehrheit. 2000 erhält Chávez in den Präsidentenwahlen, die aufgrund der neuen Verfassung notwendig wurden, die absolute Mehrheit. In sieben Wahlgängen gewinnt die MVR, verliert die Opposition.
Diese Opposition hat nur eines im Kopf: die Macht zurückerobern. Die Mittel dafür sind beliebig, und geht es nicht mit Wahlen, dann muß es eben mit Gewalt gehen. Denkt die Opposition. Und sie ruft für den 11. April 2002 zu einer Demonstration auf. Ziel ist die Zentrale der PDV, denn die Regierung möchte das Management austauschen. Aber es ist nur ein vorgebliches Ziel, und die Demonstration ist nur ein Hebel. Denn kaum an der PDV-Zentrale angekommen, wird die Losung ausgegeben: alle nach Miraflores, zum Präsidentenpalast.
Dort warten bereits tausende Chavisten, die nicht ahnen, daß ihnen die tragische Rolle in diesem Spiel zugedacht ist. Noch versucht die Armee, die anmarschierende Menge zu stoppen, gewalttätige Auseinandersetzungen zu verhindern. Da fallen Schüsse. Menschen fallen tot zu Boden. Die meisten sind in den Kopf getroffen. Heckenschützen sind auf den umliegenden Hochhäusern postiert, Profis, wie es aussieht. Mindestens 10 Todesopfer fordert das Massaker, bis auf eines alle Chavisten. Panik bricht aus, bewaffnete Chavisten (in Venezuela besitzt jeder Vierte eine Schußwaffe) schießen in die Richtung, aus der sie die Angreifer vermuten. Das Fernsehen filmt mit.
Am Nachmittag ist der Platz vor Miraflores von Demonstranten geräumt. Panzer fahren auf. Generäle erklären, Chávez nicht mehr als Oberbefehlshaber anzuerkennen. Alle Privatsender bringen die Bilder der schießenden Chavisten und behaupten, diese hätten das Massaker verübt. Die Bilder sind manipuliert: kurze Filmausschnitte, damit man nicht sieht, daß diese Leute in eine Richtung geschossen haben, in der sich überhaupt keine Demonstranten aufgehalten haben. Eine große Inszenierung. Carmona fordert den Rücktritt von Chávez, die Generäle drohen, Miraflores, in dem sich immer noch hunderte Menschen aufhalten, zu bombardieren, wenn Chávez nicht sofort zurücktritt. Da läßt sich der Präsident gefangen nehmen, um ein Blutbad zu verhindern. Zurück tritt er nicht. Er vertraut dem Volk. Die Putschisten erklären Carmona zum neuen Präsidenten. Die Säuberungen beginnen, die Verhaftungen, die Morde. Die Zensur. Das staatliche Fernsehen, Kanal 8, das einzige, das objektiv berichtet, wird geschlossen. Unbotmässige Journalisten werden aus den privaten Medien entlassen. Die Reaktion ist an der Macht.
Die Putschistenregierung wird sofort von den USA anerkannt. Was Wunder, waren doch die wichtigsten Drahtzieher zuvor in Washington, um sich instruieren zu lassen.
Anderhalb Millionen sammeln sich am 13. April 2002 vor Miraflores. Sie verlangen die Wiedereinsetzung der gewählten Gremien, sie verlangen nach Chávez. Die Palastwache, offiziell Carmona unterstellt, greift nun ein. Innerhalb kürzester Zeit riegelt sie den Präsidentenpalast ab, dringt in das Gebäude ein, verhaftet die Putschisten, die es nicht mehr schaffen zu fliehen. Die gewählten Minister werden aus ihren Verstecken geholt, nach Miraflores geschafft. Kanal 8 wird wieder auf Sendung gebracht. Und während Carmona auf den privaten Sendern noch behauptet, alles unter Kontrolle zu haben, ist er schon auf dem Weg ins Exil, auf der Flucht.
Jetzt verweigern die Truppen im ganzen Land den Generälen den Gehorsam, erklären sich loyal zu Chávez. Der wird von der Insel, auf der er festgesetzt wurde, per Hubschrauber eingeflogen. 14. April 2002, frühmorgens, trifft er unter dem Jubel der Massen wieder an seinem Amtssitz ein. Er sagt: „Das Volk hat Geschichte geschrieben“.
Was trieb die eineinhalb Millionen auf die Straße, um „ihren“ Präsidenten zurückzufordern, trotz massiver Repressionsmaßnahmen, trotz der dutzenden Toten in den zwei Tagen zuvor, trotz der Versicherung der neuen Regierung, die Armee stünde auf ihrer Seite?
40 Jahre Sozialpartnerschaft haben ein Land, das nicht nur reich an Erdöl, sondern auch an Bodenschätzen wie Eisenerz und Gold, und vor allem an fruchtbarem Land ist, in eine Krise gestürzt, die innerhalb von wenigen Jahrzehnten 80% der Bevölkerung verarmen ließ.
Bereits 1989 entlud sich der Volkszorn gegen die neoliberale Politik der damaligen Regierung in wochenlangen Aufständen und Straßenkämpfen vor allem in Caracas, die an die 1000 Todesopfer forderten. Drei Jahre später versuchten Teile der Armee (darunter Hugo Chávez), mittels Militärputsch die herrschenden Klassen zu stürzen – vergeblich. Aber als sich Chávez 1998 den Präsidentenwahlen stellte, gewann er diese auf Anhieb mit einer klaren Mehrheit.
Die neue Regierung stellte sich immer auf die Seite des Volkes, und die neue Verfassung spricht eine klare Sprache. Sie spricht von Menschenrechten, von Bürgerrechten, den Rechten der Frauen, der Indigenas, dem Schutz der Umwelt, dem Kampf gegen den Im­pe­ri­a­li­s­mus und eine ungerechte Welt­wirt­schafts­ordnung. Und von noch viel mehr. Was die Massen im April 2002 verteidigten, war nicht so sehr der Präsident, es waren ihre eigenen Lebensbedingungen:
Eines der von der Putschregierung Carmona ins Visier genommenen Gesetze war das über die Landverteilung in der Stadt: Überall, wo Caracas hügelig wird (die Stadt liegt in einem langgezogenen Tal), entstanden nach und nach Armenviertel, die barrios. Und wenn ein Unternehmer Land für einen neuen Wolkenkratzer, ein Einkaufszentrum etc. benötigte, so schmierte er gewöhnlich die Stadtverwaltung, und ein barrio wurde plattgemacht. Die Regierung Chávez erließ ein Gesetz, das den BewohnerInnen dieser barrios das Land zuspricht, auf dem ihre Häuser stehen. Wer am 13. April 2002 aus den barrios zum Prä­sidentenpalast zog, wußte also, daß er/sie seine/ihre einzige Wohnmöglichkeit verteidigte.
Ein anderes Gesetz sprach den neu entstehenden Stadtteilradios und –fernsehsendern das Recht zu, fünf Jahre lang ihre Programme zu senden, mit der Option auf Verlängerung. Diese Sender sind außer dem staatlichen, landesweiten Fernsehen eine wichtige Informationsquelle für die Bevölkerung, weil die privaten Sender 100% Gegenpropaganda betreiben. Sie gehen soweit, den Präsidenten für verrückt, für sexuell gestört (er sei in Fidel Castro verliebt) etc. zu erklären. Auch das Gesetz über die Stadtteilsender stand auf der Abschußliste von Carmona. Die Menschen verteidigten also ihren Zugang zu Informationen.
Angesichts der tristen Lage der Eigenversorgung des Landes mit Lebensmitteln (der Großteil auch der Grundnahrungsmittel muß importiert werden, weil die Großgrundbesitzer vorsätzlich große Teile des Landes brach liegen lassen und die Handelsunternehmer Grund­nahrungsmittel nicht ausliefern) und der hohen Arbeitslosigkeit erließ die Regierung Chávez ein Gesetz, das den unbestellten Grund zur Enteignung und Verteilung an neu zu gründende landwirtschaftliche Kooperativen freigibt. Dagegen formierte sich der Widerstand der Großgrundbesitzer, der militante Züge annahm. Denn rechtlich haben sie gegen das Gesetz nichts in der Hand, wissen sie doch zu gut, daß sie sich das Land widerrechtlich (über Bestechungen oder einfach Beschlagnahme) angeeignet haben. Denn eigentlich gehört alles Land in Venezuela dem Staat. Die Großgrundbesitzer heuerten Todesschwadronen (auch in Zusammenarbeit mit den kolumbianischen Faschisten im Grenzgebiet zu Venezuela) an, die inzwischen über 70 Kleinbauern ermordet haben. Die Putschregierung wollte natürlich auch die Landverteilung stoppen und rückgängig machen.
Wer macht die Geschichte Venezuelas?
Präsident Chávez selbst sagte sofort nach seiner Rückkehr nach Miraflores: die Massen haben Geschichte geschrieben. So sieht das auch die Linke in Venezuela, und so begreift es das Volk selbst: der Präsident ist Ausdruck des Willens der Massen. Aber den revolutionären Prozeß, der in Venezuela im Gange ist, den machen die Massen selbst. Und allzu oft sind sie damit einige Schritte vor dem Präsidenten, aber auch vor der Linken.
Der Putsch vom April 2002 traf die organisierten Kräfte unvorbereitet, sie hatten kaum eine Wahl, als in den Untergrund zu gehen. Die Massen selbst retteten den Prozeß, indem sie die Stadt besetzten. Innerhalb der Armee waren es vor allem die unteren Ränge, die loyal zur Regierung blieben und die Generäle schließlich im Regen stehen ließen. Selbst Mitglieder der venezolanischen kommunistischen Partei gestehen zu, daß sie eine der wichtigsten Erfahrungen nicht ernst genommen hatten: daß die Bourgeoisie nur gewaltsam entmachtet werden kann. Sie begreifen die Intervention des Volkes als Auftrag, sich nunmehr verstärkt dem Aufbau illegaler und auch bewaffneter Strukturen zu widmen, um nicht noch einmal so überrascht zu werden.
Und tatsächlich hat sich innerhalb kurzer Zeit sowohl in Caracas eine Stadtguerilla entwickelt, die die reaktionäre Polizei der Hauptstadt bekämpft, als auch am Land, vor allem in der Nähe zu Kolumbien, eine Landguerilla, die erklärt, sie bereite sich auf eine etwaige Invasion durch kolumbianische und/oder US-Streitkräfte vor und sei loyal zum Präsidenten.
Selbst die Wahl 1998 traf sowohl die MVR als auch die Linke unvorbereitet. Seither bemüht sich die Regierung, die Entwicklung und Vernetzung der Basisorganisationen voranzutreiben. Hier gibt es vor allem die boli­va­ria­ni­schen Zirkel (CB). Das sind kleine Gruppen, die einerseits Bildung vermitteln: vor allem die neue Verfassung (aber auch die einzelnen Gesetze) ist an jeder Straßenecke erhältlich und die Menschen studieren aufmerksam ihre Rechte, um sie auch wahrzunehmen. Andererseits übernehmen die CB lokale Aufgaben und binden immer mehr Menschen darin ein, das Leben selbst in die Hand zu nehmen.
Daneben entwickeln sich viele Basisorganisationen, die verschiedenste Aufgaben übernehmen, etwa auch den Betrieb der lokalen Sender sowie die Herausgabe von Stadtteilzeitungen. In diesen werden nicht nur die Probleme des barrios diskutiert, sondern auch Beiträge zur internationalen Lage abgedruckt, zu Demonstrationen gegen den Irak-Krieg aufgerufen (an denen Zehntausende teilnahmen), und die Geschichte Lateinamerikas nähergebracht. Simon Bolivar, dessen Truppen die spanischen Kolonialherren in den 10er und 20er Jahren des 19. Jahrhunderts aus Lateinamerika vertrieben, ist das große Vorbild: er hatte es, wenn auch nur kurzzeitig, zustande gebracht, den gesamten Norden Südamerikas zu vereinen.
Die Massen Venezuelas besitzen heute eine Klarheit über die Klassenstruktur der Gesellschaft und die Notwendigkeit des Klassenkampfes, die der europäischen Linken als Vorbild dienen sollte. Selbst kleine Anlässe, wie die Totenmesse eines Putschisten-Bischofs, werden nicht mehr hingenommen, sondern mit Krachern und Kundgebung gestört. Über die Absichten der US-Regierung, die Hegemonie über den gesamten amerikanischen Kontinent durch das ACLA (englisch: FTAA)-Abkommen zu zementieren, herrscht völlige Klarheit. Cuba gilt als besonderes Vorbild, und während sich gutverdienende ve­ne­zo­la­ni­sche Ärzte immer noch zu gut sind, in die barrios zu gehen, nahmen dutzende Freiwillige aus Cuba diese Verantwortung wahr. Sie leben zusammen mit den BewohnerInnen dieser Viertel und bringen erstmals eine grundlegende Gesundheitsversorgung in die Armenviertel.
Die landesweite Frauenorganisation INA­MUJER koordiniert inzwischen rund 10.000 Stützpunkte im ganzen Land und hat einen Mitgliederstand von an die 50.000. In den Stützpunkten, die oft nichts anderes als Wohnungen von Mitkämpferinnen sind, diskutieren Frauen ihre Lage und dienen als Anlaufstelle für Frauen, die die verschiedensten Probleme haben.
Erstmal sind auch Vertreter indigener Völker im venezolanischen Parlament vertreten, die Verfassung garantiert ihnen einen umfassenden Schutz ihrer Lebensräume und ihrer Kultur sowie die Teilhabe am nationalen Reichtum.
Die Abwehr des ökonomischen Angriffs
Im Winter 2002/2003 zeigten die Massen wiederum, daß sie bereit sind, für ihre Zukunft zu kämpfen. Die Unternehmer (allen voran die PDVSA und die Medien) riefen einen sogenannten „Generalstreik“ aus, der tatsächlich nichts anderes als eine Aussperrung war. Wochenlang gab es kaum Treibstoff, immer weniger Lebensmittel und sogar Wasserengpässe (in manchen Gebieten Venezuelas wird das Trinkwasser in großen Flaschen gekauft, die aufgrund der Treibstoffengpässe nicht ausgeliefert werden konnten). Das Unternehmen entwickelte sich zu einer umfassenden Niederlage der Bourgeoisie. Die Parole der Massen lautete: Trotz Hunger unterstützen wir Chávez und den Prozeß.
Arbeiter wurden ausgesperrt und die Löhne nicht ausbezahlt, Kleinhändler konnten ihre Geschäfte nicht öffnen, weil die großen Supermärkte, in denen sie ihre Stände mieten, nicht aufsperrten. Trotzdem mußten sie weiterhin Standmiete bezahlen. So wurden immer mehr Sektoren unzufrieden mit der Opposition, liefen entweder auf Regierungsseite über oder distanzierten sich zumindest von den Aus­sperrern. Tankerkapitäne, die es schafften, das Embargo zu unterlaufen (was aufgrund des technischen Standes der Schiffe, die oft per Computerprogramm von den USA aus gesteuert werden, nur selten gelang), wurden als Helden gefeiert. Und obwohl die Menschen oft hunderte Kilometer weit fahren mußten, um Treibstoff zu erhalten, den sie für ihr Geschäft benötigten, kippte die Stimmung nie gegen die Regierung – im Gegenteil. Im Februar mußten die Aussperrer zusperren.
Nun hatte die Regierung die Möglichkeit, auf legale Weise in der PDVSA aufzuräumen: tausende Angestellte, die „gestreikt“ hatten, tatsächlich aber, oft über Verwandte, bloße Versorgungsposten im rentabelsten Unternehmen Venezuelas ergattert hatten und die Produktion und den Vertrieb lahmgelegt hatten, wurden entlassen, womit die Möglichkeiten der Opposition, die Wirtschaft des Landes zu schädigen, eingeschränkt wurden. Tausende weitere PDV-Arbeiter wurden geschult, um die Produktion und den Transport des Erdöls wieder unter Kontrolle zu bringen. Ein halbes Jahr nach der Aussperrung und der Massenentlassung ist Venezuela wieder in der Lage, soviel Erdöl zu produzieren, wie vor der Aussperrung. Und das mit hochmotivierten Mitarbeitern, deren Interesse es ist, daß die gesamte Gesellschaft am Reichtum des Landes teilhaben soll.
Während die frühere PDV-Leitung vorzugsweise teure Ausrüstung (bis hin zu den Gummistiefeln und dem Gewand der Arbeiter) aus den USA importieren ließ, wurden inzwischen Produktionskooperativen in der Umgebung der PDV-Standorte eingerichtet, in denen die benötigten Produkte selbst gefertigt und kostengünstig an die PDV verkauft werden. Auch dadurch lernt das Volk praktisch, daß es selbst Herr im Land ist.
Und wenn auch die Versorgungslage im Land nach wie vor katastrophal ist, nach wie vor viele Menschen hungern, tausende gezwungen sind, ihr Geld mittels kleiner Verkaufsstände auf den Hauptstraßen der Städte zu verdienen, so sind die Massen immer noch guten Mutes, stehen zur Regierung in der Überzeugung, daß diese Regierung die erste ist, die zu ihnen steht.
Der nächste Angriff kommt bestimmt
Die Verfassung von 1999 sieht vor, daß jeder gewählte Mandatar, vom Bezirksrat bis zum Präsidenten der Republik, nach der Hälfte seiner Amtszeit durch Volksentscheid abgewählt werden kann. Bereits im Frühjahr 2003 (fast ein halbes Jahr vor dem frühest möglichen Termin) verlangte die Opposition nach einem Referendum gegen Chávez. Sie behauptete, bereits über vier Millionen Unterschriften gesammelt zu haben – allerdings ohne notarielle Bestätigungen und teilweise sogar per Internet. Seither trommeln die bürgerlichen Medien, daß Chávez’ Zeit abgelaufen sei.
Tatsächlich weiß auch die Opposition, daß sie dieses Referendum, so sie überhaupt die dafür notwendigen Unterstützungsunterschrif­ten zusammenbringt, verlieren wird. Das wird sie nicht daran hindern, von „Wahlbetrug“ zu sprechen und die nächsten – ökonomischen, militärischen – Aktionen einzuleiten. Inzwischen blockiert die Opposition im Parlament die Besetzung der Wahlaufsichtsbehörde CNE, ohne deren Vollständigkeit kein Referendum möglich ist. Offensichtlich hat sie Furcht vor einer neuen Pleite.
Viele VenezolanerInnen fürchten bereits ein Attentat auf Präsident Chávez, eventuell verbunden mit einer militärischen Intervention. In Frage käme dafür vor allem Kolumbien mit seiner reaktionären Regierung, den Todesschwadronen und einer von den USA im Rahmen des „Plan Colombia“ (angeblich zur Bekämpfung der Drogenbanden, tatsächlich zur Zerschlagung der FARC und anderer Guerillagruppen entworfen) bis an die Zähne bewaffneten Armee. Möglich wäre auch eine direkte Intervention durch die USA, verdeckt oder offen. Es ist kein Geheimnis, daß die CIA, wie auch das Weiße Haus, in den Putsch vom April 2002 verwickelt waren.
Für das venezolanische Volk und seine Regierung heißt das, sich auf die nächsten Auseinandersetzungen vorzubereiten. Wir sind sicher, daß sie das auch gewissenhaft machen werden.
No pasaran!