Norman G. Finkelstein, November 2002 – jerusalem.indymedia.org/news/2003/02/104464.php
Zivilcourage: Echt oder wohlfeil?
Nachdenkliches zur „politischen Korrektheit“ in Deutschland
Letzten Monat war ich zum zweiten Mal innert zweier Jahre eingeladen, in Deutschland ein Buch vorzustellen. Letztes Jahr veröffentlichte der Piper-Verlag Die Holocaust-Industrie: Wie das Leiden der Juden ausgebeutet wirdund dieses Jahr brachte Hugendubel Der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern. Mythos und Realitätheraus. Die beiden Bücher wurden grundsätzlich verschieden aufgenommen: Die Holocaust-Industrie erzeugte großes öffentliches Interesse, Mythos und Realität vergleichsweise geringes. Das liegt zweifellos daran, daß die Deutschen zwar an der Erblast des nationalsozialistischen Holocaust immenses Interesse haben, an einer gerechten Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts jedoch eher wenig. Mir will scheinen, daß diese Rangfolge – so nachvollziehbar sie auch sein mag – zu bedauern ist. Sieht man einmal von der handvoll Überlebender ab, ist der nationalsozialistische Holo­caust, wie entsetzlich er auch war und selbst wenn er für alle Zeiten Teil deutscher Gegenwart sein mag, im wesentlichen eine geschichtliche Frage. Im Gegensatz dazu ist die Verfolgung der Palästinenser gegenwärtiges Grauen; und es sind die Verbrechen des Dritten Reiches, die benutzt werden, um diese Verfolgung zu rechtfertigen. Im ersten Fall können die Deutschen nicht mehr moralisch handeln; im zweiten sehr wohl.
Und genau aus diesem Grund sah ich eigentlich mit positiven Erwartungen dieser Deutsch­landreise entgegen. Im letzten Jahr hatte ich aus meinen zwiespältigen Gefühlen, in Deutschland für Die Holocaust-Industrie zu werben, kein Geheimnis gemacht. Viele enge Freunde und Genossen rieten mir ab und ich war – was viel wichtiger für mich ist – ziemlich sicher, daß meine verstorbenen Eltern beide dagegen gewesen wären. Man sagte mir, man könne es Deutschen nicht zutrauen, ehrlich über den Mißbrauch des nationalsozialistischen Völkermords (dieser Mißbrauch war das Thema des Buches Die Holocaust-Industrie) zu diskutieren. Darüber hinaus gab das riesige Medieninteresse Anlaß zu – meiner Meinung nach berechtigten – Fragen, ob ich nicht selbst dabei war, zu einem Nutznießer jenes Kartells zu werden, das ich mißbilligte. Letztendlich beschloß ich ungeachtet der wirklichen moralischen Gefahr, die das mit sich brachte, daß ich nach Deutschland gehen sollte; eine Entscheidung, die ich rückblickend nicht bereue.
Im Falle der neuen Ausgabe meines Buches über den israelisch-palästinensischen Konflikt schienen sich solche Vorbehalte weniger aufzudrängen. Die deutsche Nachkriegsgeneration hatte sich gerade emanzipiert, indem sie eine Koalition mit einem entschiedenen Anti-Kriegs-Programm an die Macht gewählt hatte. Wann, wenn nicht jetzt, wären die Deutschen je bereit, ehrlich über den israelisch-palästinensischen Konflikt zu diskutieren? Und es drohte wirklich keine Gefahr, daß dieses Buch ein mediales Theater hervorrufen würde, wenn auch aus keinem anderen Grund als dem, daß es keine leichte Lektüre ist. Trotzdem kam ich mit großen Hoffnungen, daß – so wie es der Holocaust-Industrie ein wenig gelungen war, ein schädliches Tabu zu brechen – auch mein neues Buch vielleicht das Tabu gegen eine öffentliche Debatte über die brutale israelische Besatzung brechen könnte. Hier ist Engagement mehr denn je vonnöten, weil die Palästinenser im Falle eines neuen Nahostkrieges mit einer beispiellosen Katastrophe rechnen müssen.
Nach meiner anhaltenden e-mail-Korrespondenz und vielen Gesprächen zu urteilen, scheint Die Holocaust-Industrie unter normalen Deutschen eine nüchterne – und dringend nötige – Diskussion angeregt zu haben. (Eine handvoll Neo-Nazis nutzten die Gelegenheit aus, aber wie der Altmeister der Holocaust-Forscher, Raul Hilberg, bemerkte, ist die deutsche Demokratie nicht so anfällig, daß sie ein paar Spinner, die aus der Versenkung auftauchen, nicht aushalten kann.) Noch ist es zu früh, die überwiegende Reaktion auf das Israel-Palästina-Buch richtig einzuschätzen. Was man jedoch bereits erkennen kann, ist die Fortdauer einer ausgeprägt feindlichen Stimmung unter politisch korrekten Deutschen gegen meine Arbeit.
Der Tiefpunkt der unbarmherzig häßlichen Kampagne zur Schmähung meiner Person nach der Veröffentlichung der Holocaust-Industrie war wahrscheinlich der Artikel des großen wöchentlichen Nachrichtenmagazins Der Spiegel, der – allen Ernstes – verbreitete, daß ich mich nach allmorgendlichem Joggen zu Hause in Gesellschaft zweier Papageien dem Nachdenken über den Holocaust widmete. Entweder waren die Deutschen plötzlich auf das (imaginäre) Privatleben eines wenig bekannten Juden aus Brooklyn, New York, fixiert, oder – was wahrscheinlicher erscheint – der Angriff auf die Person des Boten der schlechten Neuigkeiten war ein zielgerichtetes Ablenkungsmanöver angesichts der Hiobsbotschaft, daß der nationalsozialistische Holo­caust zu einem Werkzeug geworden war, mit dem politische und finanzielle Vorteile zu erlangen sind.
Während der letzten Reise nach Deutschland unterstellte mir die große öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt ARD, ich wäre jemand, der auf Publicity aus ist und mit Gebrauchtwaren hausieren ginge. Allerdings wollte genau dieser Sender auf der Buchmesse eine Konfrontation zwischen mir und den israelischen Ausstellern inszenieren und ich sollte vor der Kamera einen bekannten israelischen Autor attackieren – was ich beides ablehnte. Sicher hätte ich damit jede Menge Publicity geerntet, aber die Idee eines Schlagabtauschs zwischen Juden zur Belustigung der Deutschen fand ich geschmacklos. Selbst unter politisch Korrekten halten sich einige üble Gewohnheiten offensichtlich hartnäckig. Es ist in Deutschland weitgehend bekannt, daß meine verstorbenen Eltern beide den nationalsozialistischen Holocaust durchgemacht hatten. Auch dieser familiäre Hintergrund wurde von politisch korrekten Deutschen schamlos in Beschlag genommen, um mich lächerlich zu machen und als labil abzutun.
Solche giftigen Angriffe auf einen Juden und Sohn von Überlebenden des Holocaust sind einzigartig im öffentlichen Leben Deutschlands, das ansonsten immer so taktvoll und umsichtig mit allem umgeht, was mit dem Holocaust zu tun hat. Man kommt nicht umhin, sich zu fragen, wie das zu erklären ist. Eigentlich hat sich der Holocaust als fruchtbarer Boden für politisch korrekte Deutsche bewährt. Mit der „Verteidigung“ des Gedenkens an den Holocaust und jüdischer Eliten gegen jedwede Kritik haben sie die Möglichkeit, Zivilcourage zu demonstrieren. Aber welchen Preis zahlen sie eigentlich, welches Opfer bringen sie wirklich für diese „Verteidigung“? In Anbetracht des vorherrschenden kulturellen Klimas in Deutschland und des weitreichenden Einflusses des amerikanischen Judentums bringt solche Courage vielmehr reiche Ernte. Einen jüdischen Andersdenkenden an den Pranger zu stellen kostet gar nichts – und bietet unterschwelligen Vorurteilen ein „zulässiges“ Ventil. Da stimme ich sogar mit Daniel Goldhagens Behauptung in Hitlers willige Vollstrecker überein, wonach Philosemiten meistens Antisemiten „im Schafspelz“ sind. Ein Philosemit geht nicht nur davon aus, daß Juden irgendwie „anders“ sind, sondern hegt insgeheim fast immer auch eine Mischung aus Neid und Abscheu für diese vermeintliche Andersartigkeit. Somit setzt Philosemitismus sein Gegenteil voraus und erzeugt zugleich eine verbrämte Spielart davon. Ein vorzugsweise wehrloser öffentlicher Sündenbock kommt dann wie gerufen, um die aufgestaute Aggressivität herauszulassen.
Ein deutscher Freund erklärte mir, der Grund für die Besessenheit Deutschlands vom nationalsozialistischen Holocaust sei, daß die Deutschen „gerne eine Last tragen.“ Wo ich hinzufügen würde: zumal, wenn sie so federleicht ist. Einige Deutsche der Nachkriegsgeneration hatten zweifellos die Last der Schuld und die damit einhergehenden lähmenden Tabus gegenüber unabhängigem, kritischem Denken aufrichtig angenommen. Heute aber ist die deutsche politische Korrektheit zu einer Farce verkommen, die nur so tut, als ob sie die Bürde, ein Deutscher zu sein, annimmt, obwohl sie sie eigentlich ablehnt. Denn was sonst soll diese endlose öffentliche Selbstgeißelung anderes bedeuten, als die Welt ständig daran zu erinnern, daß „wir nicht wie die sind.“
Auch kann mit Sicherheit gesagt werden, daß die politisch korrekten Deutschen sehr wohl wissen, daß die Kritik, die gegen die israelische Politik und ihren Mißbrauch des nationalsozialistischen Holocaust vorgebracht wird, weit häufiger berechtigt als unberechtigt ist. In vertraulichen Gesprächen geben sie das (wie ich herausfand) freimütig zu. Sie beteuern zu fürchten, es würde einer Welle von Antisemitismus Tür und Tor öffnen, sollten jüdische Missetaten allgemein publik werden. Wie wahrscheinlich ist es aber wirklich, daß so etwas im heutigen Deutschland geschieht? Und ist nicht eine lebhafte, aufrichtige Diskussion das beste Mittel, um eine antisemitische Welle aufzuhalten: eine offene Diskussion, in der sowohl Missetaten jüdischer Eliten als auch die Demagogen bloßgestellt werden, die diese Missetaten für ihre schändlichen Ziele ausnutzen? Ich habe den Verdacht, was die politisch korrekten Deutschen wirklich fürchten, ist der Verlust ihres Einflusses und ihrer Unanfechtbarkeit, der mit einer Ablehnung ihres unkritischen Beistands für alles Jüdische einherginge. Ihre öffentliche Verteidigung von Dingen, die nicht zu verteidigen sind, befördert nicht nur den Zynismus im politischen Leben allgemein, sondern – weit entfernt davon, den Antisemitismus unter Deutschen zu bekämpfen – ruft sie ihn eigentlich hervor. Ist nicht so eine Doppelzüngigkeit charakteristisch für eine Scheu vor einem für allmächtig gehaltenen Judentum oder für den Wunsch, sich bei ihm einzuschmeicheln? Man kommt auch nicht umhin sich zu fragen, welche Gedanken über Juden politisch korrekten Deutschen durch den Kopf gehen, wenn diejenigen, mit denen sie normalerweise verkehren, vor denen sie in salbungsvoller Bußfertigkeit auf die Knie fallen und die sie öffentlich loben, als Profitmacher übelster Sorte bekannt sind.
Heute besteht die Herausforderung in Deutschland darin, das Gedenken an den nationalsozialistischen Holocaust zu wahren und seinen Mißbrauch durch amerikanisch-jüdische Eliten zu verurteilen; Juden gegen üble Nachrede zu verteidigen und ihre überwiegend blinde Unterstützung für Israels brutale Besatzung zu mißbilligen. Aber um so zu handeln, bedarf es echter Zivilcourage – nicht so einer operettenhaften, wie die politisch korrekten Deutschen sie so lieben.