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Arbeitskämpfe in Russland
Streiks bei Ford- Wsewoloschsk
Am 2. Februar 2007 um 1:30 Uhr morgens endete die Versammlung der Beschäftigen des Fordwerkes in der Region St. Petersburg. Bei der Abstimmung fiel die Entscheidung – Streik ab dem 14. Februar. Alles in allem haben sich 1.300 Personen, das sind 70 Prozent der Beschäftigten, an den Straßenversammlungen nach Schichtende und bei minus 15° Celsius (die Fabrik hat 3 Acht-Stunden-Schichten) beteiligt. Die Firmenleitung weigerte sich, Versammlungsräume zur Verfügung zu stellen. Das Ergebnis der Abstimmung: 5 Enthaltungen und Einstimmigkeit, den Streik zu beginnen. Den drakonischen Bestimmungen der russischen Arbeitsgesetzgebung wurde damit in jeglicher Hinsicht Genüge getan.
Die Hauptforderungen betrafen einerseits die Arbeitsnormen; andererseits wurden die Tarifforderungen der Gewerkschaften unterstützt, die allesamt von der Firmenleitung zurückgewiesen worden waren. Es ging insbesondere um die Transparenz der Arbeitsnormen, die Beachtung der Sicherheitsbestimmungen, soziale Garantien und die Beschränkung von Auslagerung von Beschäftigung (Outsourcing).
Dieser starke Auftritt geht auf das Konto der neuen Gewerkschaft, die vor noch nicht einmal zwei Jahren gegründet worden war. An ihrer Spitze stehen junge dynamische Arbeiter, die die ganze Zeit damit beschäftigt waren, die Solidarität im Kollektiv zu entwickeln und die Beziehung der Arbeiter zu gewerkschaftlichen Aktivitäten radikal zu verändern.
Alexej Etmanow, der Präsident der neuen Gewerkschaft, beschreibt das so: „Mit meinen Genossen vom Gewerkschaftskomitee haben wir sie gelehrt, die Gewerkschaft als Waffe im Kampf zu betrachten; sie benutzten den Begriff ‚wir‘, wenn sie von der Gewerkschaft sprachen“.
Die Gewerkschaft bei Ford hat sehr schnell den traditionellen Bund der Unabhängigen Gewerkschaften Russlands (FNPR), der sich gegen jegliche Form von Auseinandersetzungen stellt und von dem sie sich eingeengt fühlte, verlassen, um eine freie, kämpferische Gewerkschaft aufzubauen. Mit anderen neu entstehenden Gewerkschaften der Branche (insbesondere der bei General Motors in Togliattigrad) haben sie im Juli 2006 anlässlich des russischen Sozialforums eine neue AutomobilarbeiterInnengewerkschaft gegründet. Die Haltung der Firmenleitung, die fremd und an Verhandlungen gewöhnt war, überraschte durch ihre Härte. Obwohl die Verhandlungen sich über drei Monate hinzogen, wurde keiner der Vorschläge der Gewerkschaft in den Firmenvertragsentwurf aufgenommen, der sich darauf beschränkte, das russische Arbeitsgesetz widerzuspiegeln. Alexej Etmanow geht davon aus, dass die Firmenleitung sich einfach mit den klassischen russischen Management-Methoden angefreundet hat. „Sie glauben, dass sie den Arbeitern ihr Gesetz aufzwingen können, wie das in den meisten Firmen des Landes geschieht. Sie glauben nicht, dass wir in der Lage sind, unsere Rechte zu verteidigen“ sagt er zu diesem Thema und fügt hinzu: „Aber darin haben sie sich vollkommen getäuscht.“
Ford produziert seit 2002 vor den Toren von St. Petersburg. Der im Werk Wsewoloschsk hergestellte Ford Focus ist in Russland sehr beliebt. Im Jahr 2006 gingen in diesem Werk 60.000 Fahrzeuge vom Band. 2007 wollte die Unternehmensleitung die Produktion wegen der hohen Nachfrage auf 75.000 Fahrzeuge steigern. (Inzwischen wurde die Kapazität weiter erhöht, 2008 sollen 72.000 und 2009 bereits 125.000 Autos bei Ford Wsewoloschsk gebaut werden: neben 100.000 Focus-Modellen sollen 25.000 Mondeo produziert werden. Durch diese Erweiterung werden einige hundert zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen.) Auf die Arbeitsbedingungen wird dabei keine Rücksicht genommen.
Das durchschnittliche Gehalt beträgt 19.000 Rubel (540 Euro), es gibt keine festen Arbeitsplätze (die Arbeiter wechseln von einem zum anderen), die vorgeschriebenen Ruhepausen werden nicht eingehalten, maximale Flexibilität, Aufbau von Überstunden, viele gefährliche und gesundheitsgefährdende Aufträge. Und außerdem: ein enormes Ungleichgewicht zwischen den Löhnen der Arbeiter und denen der Firmenleitung ...
Dies war nicht die erste kollektive Aktion der Beschäftigten dieser Fabrik. Im Sommer 2005 hatten sie die Firmenleitung mit einem mehrwöchigen Bummelstreik gezwungen, die Löhne um 14,2% zu erhöhen. Und so auch diesmal: Die Entschlossenheit der ArbeiterInnen brachte die Firmenleitung ins Wanken, und sie erklärte am 9. Februar 2007 nach 5 Tagen Streik in einer Presseerklärung, dass sie eine Lohnerhöhung zwischen 14 und 20 Prozent – abhängig von der Einstufung – gewähren würde. „Sie wollen uns mit einem Almosen ruhig stellen,“ kommentiert Alexej Etmanow diese Geste. Der Gewerkschaftsführer hat bekräftigt, dass der Streik in jedem Fall stattfinden werde, da es im Wesentlichen nicht um die Löhne gehe, sondern um die Arbeitsbedingungen in ihrer Gesamtheit. Die ArbeiterInnen haben die abschließende Entscheidung, zu der sie die Gewerkschaft aufgerufen hatte, am 13. Februar, dem Vorabend des angekündigten Streiks getroffen. Der Streik bei Ford dauerte einen Tag. Die Firmenleitung hat sofort nachgegeben und fast alle Gewerkschaftsforderungen akzeptiert.
Das war der größte Arbeitskampf in Russland seit Jahren. Die Firmenleitung versuchte, den Streik zu unterlaufen, indem sie Autos aus Deutschland importieren wollte. Sie scheiterte an der Solidarität der dortigen Belegschaften. Und am 14. Februar standen dann in St. Petersburg alle Bänder still. 1.500 der 2.000 Beschäftigten beteiligten sich an dem Streik, den ein Bezirksgericht für illegal erklärt hatte. Die Verhandlungen zwischen Betriebsrat und Geschäftsführung kamen nicht vom Fleck. Das Management wollte zwar Zugeständnisse bei den Löhnen machen, forderte aber im Gegenzug einen Streikverzicht für die Dauer der Verhandlungen.
Auch dem Kreml kam der Streik ungelegen, standen doch in diesem Jahr Parlamentswahlen an. Außerdem wurde befürchtet, dass ausländische Investoren abgeschreckt werden könnten. Dafür wurde der Streik von fast allen Oppositionsparteien unterstützt – Gewerkschaftsführer Etmanow warnte vor einer „Puppen-Show“: Der Streik könnte durch politische Parteien diskreditiert werden.
Noch im selben Jahr kam es zum nächsten Streik bei Ford-Wsewoloschsk. Das Management hatte sich geweigert, mit den ArbeiterInnen über höhere Löhne zu verhandeln, und die sahen sich daraufhin „gezwungen, den Beginn der zweiten Etappe der Streikhandlungen ab dem 23.11.2007 zu erklären“, wie Alexej Etmanow formulierte. Diesmal forderten die Arbeiter 35% Lohnerhöhung ab dem 1. März 2008.
Und die Gewerkschaft erarbeitete einen Streikplan: Auch bei 300 oder 400 Streikenden würden die Bänder stillstehen, daher sollte nur ein Teil der Belegschaft streiken. Der Rest sollte einen Solidaritätsbeitrag von 1% ihres Lohnes in die Streikkassa bezahlen, mit dem die Streikenden dann untestützt würden. Wiederum versuchte das Management, die Produktionsausfälle durch Einfuhr von Autos aus Westeuropa wettzumachen, wiederum rechnete die Gewerkschaft auf die Solidarität der KollegInnen in Deuschland.
Der Schweisser und Gewerkschaftsführer Etmanow stellte während einer Reise nach Brasilien fest, dass die KollegInnen dort arbeiten wie in Russland, aber dreimal so viel verdienen. Tatsächlich beträgt der Anteil der Löhne an den Selbstkosten in Russland nur rund 10%, während im Westen 50% bis 60% erreicht werden.
Die neuen russischen Arbeitsgesetze heben die formalen Anforderungen an Protestaktionen auf ein Niveau, das praktisch die meisten Streiks in die Illegalität abdrängt. Das verschärt die Auseinandersetzungen, und zusätzlich setzen die Arbeitgeber Streikbrecher ein und versuchen, die Belegschaften einzuschüchtern, indem sie sich an die Gerichte wenden. Dennoch nimmt die Zahl der Streiks in Russland zu. Neben den Ford-Arbeitern traten im November 2007 auch die Werftarbeiter in Tuapse und St. Petersburg in den Ausstand, und auch die Eisenbahner drohen mit Arbeitsniederlegung. Hintergrund ist die hohe Inflation in Russland, zwar steigen die Unternehmergewinne rasant an, aber die ArbeiterInnen sind mit sinkenden Reallöhnen konfrontiert. Im Schnitt verdient ein russischer Arbeiter 360 Euro. Auch der Streik bei Ford wurde gerichtlich für illegal erklärt. 2.000 Rubel Strafe forderte der Staatsanwalt für die Streikposten.
Am 29.11.2007 eskalierte die Situation. Sondertruppen des Innenministeriums (Omon-Truppen) gingen gegen die Streikenden vor, ein Arbeiter wurde angefahren, er musste ins Krankenhaus gebracht werden. Die Behörden weigerten sich, den Unfall aufzunehmen. Zwei Kollegen wurden festgenommen, das Werksgelände umstellt und Streikbrecher in das Werk gebracht. Die Qualitätsabteilung konnte trotzdem nicht arbeiten, und der Produktionsrückgang wurde sichtbar. Deshalb ließ sich das Management auf ein Treffen mit der ITUA ein und bot 11% Lohnerhöhung ab März 2008 an. Dieses Angebot liegt unter der offiziellen Inflationsrate (11,5%), also lehnte die Gewerkschaft den Vorschlag ab.
Die Taktik, dass nur ein Teil der Belegschaft streikt, machte sich für die ArbeiterInnen bezahlt. 350 AktivistInnen reichten aus, um das Werk stillzulegen. Sie wurden von der Gewerkschaft finanziell entschädigt. Die anderen ArbeiterInnen erhielten 2/3 ihres Lohnes von Ford, weil ihre Abwesenheit von der Arbeit nun vom rechtlichen Standpunkt aus einen „erzwungenen Stillstand“ darstellt. Das Management versuchte, ArbeiterInnen ins Werk zu bringen, indem es bei ihnen daheim nächtlichen Telefonterror veranstaltete, aber es kam keine funktionierende Schicht zustande. Am ersten „Produktionstag“ wurden gerade einmal 66 Autos zusammengebaut, und kein einziges dieser Autos ging durch die Qualitätskontrolle, weil dort die gesamte Abteilung streikte.
Gleichzeitig stieg die Anzahl der Streikenden auf 800 an, obwohl die Gewerkschaft nicht so viele ArbeiterInnen finanziell unterstützen konnte.
Am 11. Dezember startete das Management einen neuen Versuch, die Produktion in Gang zu bringen. Dazu wurden Büroangestellte und Lehrlinge in die Werkshallen verpflichtet. ArbeiterInnen berichteten darüber: „In der Schweißerei waren 4 statt 11 Leuten. Der Vorarbeiter hat versucht, uns zu schnellerer Arbeit anzutreiben, aber wir erklärten ihm, dass wir einfach nicht genug Leute seien. Da beleidigte er die ArbeiterInnen und fügte hinzu: ‚wem das nicht passt, der kann ja streiken‘.“ Die Belegschaft verhielt sich sehr solidarisch. Streikende KollegInnen mit Kindern wurde ein Teil des eigenen Streikgeldes überlassen. In einem Flugblatt am 10.12.2007 schrieben die streikenden ArbeiterInnen von Ford- Wsewoloschsk:
„Schließt euch dem Streik an! Ford hat noch nie freiwillig und ohne Kampf ein Zugeständnis gemacht. Seit heute rufen sie (die Administration/Werksleitung) alle an, die Teilnehmer am Streik und die, die nicht teilnehmen, dass sie arbeiten gehen sollen, sie würden für den Ausgleich der Inflation mehr Lohn zahlen.
Wir heißen diejenigen beim Streik willkommen, die bei der Linie 2/3 waren. Wir können jetzt etwas Streikgeld zahlen: 500 Rubel (ca. 14 Euro) am Tag, nicht viel, aber es reicht, um nicht Hungers zu sterben.
An die in den Abteilungen! Wir wissen, dass viele ein Gewissen haben, dass sie sich schämen. Kommt heraus! Schließt euch dem Streik an. Wenn wir heute verlieren, seid ihr morgen auf die Gnade des Managers angewiesen. Und es wird bitter, wenn es ein böser Manager ist. Wir sind gegen solche Zustände und danken unseren Frauen, die viel stärker sind als die meisten Männer. Überlegt es euch: wir verlangen eine Erhöhung des Lohns, das ist doch nicht dasselbe wie der Ausgleich der Inflation. Heute haben wir Erklärungen vom Internationalen Metallgewerkschaftsbund (IMF) und von der Vereinten Gewerkschaft der Autoarbeiter Kanadas und der USA erhalten, dass sie bereit sind, uns mit Geld zu helfen, damit die streikenden Arbeiter in Russland etwas haben, um ihre Kinder zu ernähren. Diejenigen, die das können, verzichten auf Streikgeld zugunsten der alleinerziehenden Mütter und der Arbeiter mit vielen Kindern.
Wir hatten wenig Geld im Streikfonds. Uns hat die ganze Welt geholfen, damit wir unsere Kinder ernähren können. Aber manche unserer Kollegen haben uns verraten. Sie haben uns verraten um ihres persönlichen Vorteils willen. Man versucht, den Streik mit Miliz, der Staatsanwaltschaft zu zerschlagen, man stellt uns als Extremisten und Zerstörer des Super-Konzerns hin. Ein schöner Konzern, der von sich behauptet, der zivilisierteste und beste in Russland zu sein, aber gegen seine Arbeiter jede mögliche Gewalt und Staatsmacht einsetzt. Lasst uns gemeinsam unser Leben zum Besseren wenden!
In Massenmedien und in der Fabrik schreiben unsere Manager, dass sie der Gewerkschaft ein großzügiges Angebot gemacht hätten. Alle haben das Angebot in dem Bulletin der Firma gelesen. Die einzige Ziffer ist: 11% Inflationsausgleich ab März. Alles andere sind Absichtserklärungen. Sie haben die Absicht, Zugeständnisse zu machen, irgendwelche Zulagen zum Lohn, zur Rente, zur Unterkunft. Wie viele von euch würden denn arbeiten, wenn der Arbeitgeber erzählt, bei Aufnahme der Arbeit hätte er die Absicht, etwas zu zahlen, sehr viel zu zahlen. Warum sollen wir reinen Absichtserklärungen glauben? Dazu ist ihr Versprechen eines Inflationsausgleichs von 11% heute schon überholt, denn die offizielle Inflation beträgt jetzt schon 11,5%.
Die Manager versichern allen, dass 11% viel ist. Darüber wollen wir nicht streiten, denn wenn es sich auf ihren Lohn bezieht, ist es wirklich großzügig. Das Problem ist, dass unser Lohn nicht mit 5 Nullen geschrieben wird, und wenn bei ihnen die Erhöhung 10.000 bis 20.000 Rubel ausmacht, gibt es für uns nur 1.500 bis 2.000. Beim derzeitigen Tempo der Inflation werden wir bis März noch ärmer sein als jetzt. Unsere Forderung muss den Schutz des Lohns der Arbeiter vor der Inflation bis zur nächsten Lohnerhöhung sichern. Dafür stehen wir im Streik und wir werden weiter stehen.“
Dieser Streik endete schließlich mit einem Kompromiss: Die Löhne wurden um 16% – 20% erhöht (abhängig von der jeweiligen Einstufung), in der Sprache der Boxer könnte man sagen, die Streikenden haben einen „Punktesieg“ errungen.
Aber das wichtigste Ergebnis der Vorfälle bei Ford ist die Tatsache, dass die ArbeiterInnenbewegung die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich lenken konnte. Es wurde über sie gesprochen und geschrieben, mensch wurde auf sie aufmerksam – einige hoffnungsvoll, andere sorgenvoll. Im Wesentlichen hat die ArbeiterInnenbewegung bewiesen, dass sie die bisher erste und einzige echte Manifestation der Zivilgesellschaft im modernen Russland ist. Und zwar keine künstliche, die von westlichen Gnaden in einer simulierten Öffentlichkeit etabliert wurde, sondern eine echte Bewegung von unten.
Die Unternehmenseigentümer antworten auf die Forderungen der Beschäftigten mit natürlicher Irritation. Obwohl es Unterschiede gibt. Westliche Manager sind Verhandlungen mit Streikenden gewöhnt. Manager und Eigentümer russischen Kapitals verhalten sich da anders. Während des Streiks in Murmansker Hafen „verhandelte“ die interne Sicherheitsabteilung mit den Beschäftigten. Aber als der Streik im Hafen von Novorossiysk, der größer und für die Wirtschaft wichtiger ist, ausgerufen wurde, wurde die lokale Abteilung des Innenministeriums eingeschaltet, um die UnruhestifterInnen zu unterdrücken. Laut Alexander Schepel, dem Führer der russischen Gewerkschaftsföderation (FPNR), schreiten die Behörden desto aggressiver ein, je einflussreicher der Eigentümer eines Unternehmens ist. Einige holen Sicherheitsdienste zu Hilfe, andere rufen nach Spezialtruppen der Polizei, und wiederum andere schalten die Staatsanwaltschaft ein, um sich mit den Gewerkschaften auseinanderzusetzen.
Nachdem sie in transnationalen Unternehmen begonnen hatte, sprang die Streikwelle auf die „alten“ sowjetischen Unternehmen über. Der Streik in Form eines „Dienst(es) nach Vorschrift“ in der Kachkaner Mine und Erzaufbereitungsanlage kann dafür als Beispiel dienen. Die Firma hat den abgeänderten Arbeitsvertrag für das Jahr 2008 angenommen. Dessen Kapitel über die Löhne, die Arbeitsbedingungen, den Arbeitsschutz und die Arbeitsorganisation wurden geändert. Es wurde versprochen, dass mit Jahresende, falls das Plansoll erfüllt wird, die Gehälter um 29% angehoben werden.
Es ist ganz natürlich, dass erfolgreiche Beispiele eine Kettenreaktion in anderen Unternehmen auslösen. Zunehmende Konflikte in den Unternehmen schürt die FNPR, die Föderation unabhängiger Gewerkschaften, deren Mitglieder sich mehrheitlich in komplexen Situationen befinden. Offizielle Gewerkschaften wollten nie streiken. Trotzdem geraten die Mitglieder an der Basis der FNPR zunehmend in den Kampf um ihre Rechte. Basisorganisationen, die zu viel Engagement zeigen, geraten nahezu immer in Konflikt mit ihren übergeordneten Organisationen. Um das Gesicht zu wahren, sind aber Beispiele „erfolgreicher Kämpfe“ notwendig. Das Problem (der FNPR-Führung) ist, dass mit der Propaganda der Errungenschaften der Kachkaner Gewerkschaften die Führung der FNPR ihre anderen Mitgliedsgewerkschaften geradezu dazu aufruft, dem Beispiel der MinenarbeiterInnen zu folgen.
Die gleiche Zweideutigkeit zeigt sich im Verhalten der FNPR zur Arbeitsgesetzgebung. Auf der einen Seite wurde dieses Gesetz unter direkter Mitarbeit der FNPR erarbeitet, womit es deren privilegierten Status festschreibt. Auf der anderen Seite provoziert es heute die zunehmende Irritation sowohl von AktivistInnen der freien Gewerkschaften als auch von FNPR-AktivistInnen. Wegen dieser Irritationen hat Mikhail Schmakov, der Chef der offiziellen Gewerkschaften, die Forderung nach Überarbeitung des Arbeitsgesetzbuches zurückgewiesen. Und Oleg Neterebsky, Vizepräsident der FNPR, hat in einer Stellungnahme letzte Woche öffentlich die bestehende Gesetzeslage kritisiert. Er meint, in Russland sei es faktisch unmöglich, einen Streik auszurufen, ohne ein Gesetz zu brechen, und deshalb gäbe es keinerlei Mechanismus für einen friedlichen Austausch von Argumenten. Die gegenwärtige Gesetzgebung ermöglicht es den Gerichten, alle Streiks aus Formalgründen für illegal zu erklären.
Man könnte über diese verspäteten Einsichten der Führer der offiziellen Gewerkschaften lachen, aber besser verspätet als niemals. Die ArbeiterInnenbewegung wächst von unten, und nicht nur wegen des Auftretens neuer Organisationen. Die unkontrollierte Inflation wird zum „Zünder“, der mehr und mehr Konflikte ausbrechen lässt.
Es ist leicht vorherzusagen, dass der Kampf für die Abänderung des Arbeitsgesetzbuches zum wichtigsten politischen Punkt des Jahres 2008 werden wird. Die Führung der allrussischen ArbeiterInnenkonföderation (VKT), der größten der freien Gewerkschaften, deren Mitglieder einen Teil der Belegschaft von Ford Wsewoloschsk stellen – hat den Beginn des Kampfes um die Abänderung der Arbeitsgesetzgebung angekündigt. Der „soziale Frieden“, wie er in Russland die meiste Zeit der 2000er Jahre geherrscht hat, endet mit dem neuen Aufflammen des Klassenkampfes. Es ist paradox, dass das eine das andere vorherbestimmt hat. Dasselbe ökonomische Wachstum, dass erst die ArbeiterInnen ruhig und folgsam gemacht hat, hat schließlich zu neuen Forderungen der unteren Schichten geführt. Das ist die Logik des Kapitalismus.
Streik bei Sewerstal
Ein Streik in der Fabrik „Karelski Okatisch“ (in der Republik Karelien) wurde gerade siegreich beendet. Die Fabrik gehört zur mächtigen eisenverarbeitenden Gruppe Sewerstal („Nordstahl“). Um einen Konflikt mit den Justizbehörden zu vermeiden, haben die ArbeiterInnen der Eisenbahntransporte der Fabrik gestreikt, indem sie die Arbeit unter Hinweis auf die mangelhafte Arbeitssicherheit verweigerten. Sie verwiesen dabei auf den beklagenswerten technischen Zustand der Lokomotiven. Die Aktion dauerte vom 28. Juni bis zum 3. August und führte dazu, dass die Forderungen der ArbeiterInnen von der Werksleitung akzeptiert wurden. Es handelte sich um eine Gehaltsanpassung und um Verbesserungen der Arbeitsbedingungen.
Entscheidend für den Erfolg war die gute Organisation der ArbeiterInnen, die mehrheitlich in der alternativen Gewerkschaft Sozprof organisiert sind. Ihre Führer haben es verstanden, hart zu verhandeln und Stärke zu beweisen.
Auf den siegreichen Streik folgten leider bittere Tage. Einige Tage nach Ende dieses besonderen Streiks erhielten die ArbeiterInnen eine Abmahnung, weil sie die Arbeit ohne legitimen Grund verweigert hätten, was eine Entlassung möglich macht. Der Gewerkschaft Sozprof wurden die Räumlichkeiten entzogen und der städtische Staatsanwalt eröffnete eine Untersuchung des „illegalen“ Treibens der Gewerkschaftsführung.
Streik bei AwtoWAS
Der Streik der ArbeiterInnen am wichtigsten Montageband des Automobilkonzerns AwtoWAS (der die Autos der Marke Lada fertigt) in der Region Samara1, der am 1. August stattfand, schlug ein wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Niemand erwartete so etwas, da in dieser Fabrik die traditionelle Gewerkschaft FNPR vorherrscht, die gegen jede Art entschiedener Gegnerschaft zur Firmenleitung ist. Und dennoch ... Die Wut nahm schon seit längerem zu, die ArbeiterInnen waren mit der Höhe ihrer Löhne ausgesprochen unzufrieden. Aufgrund der Inflation hat die Kaufkraft seit 1994 abgenommen. Einfache ArbeiterInnen verdienen gerade einmal etwa 7.000 Rubel (200 Euro) im Monat. Infolgedessen verlassen zahlreiche ArbeiterInnen das Werk. Von denen, die geblieben sind, fanden einige den Mut, einen kollektiven Kampf für höhere Löhne aufzunehmen. Dafür wurde im Juni 2007 ein Streikkomitee gebildet. Es übergab der Werksleitung eine Liste mit Forderungen. Darin stand die Lohnerhöhung an erster Stelle. Nachdem die Werksleitung nicht reagierte, weder auf die Forderungen (die von einer großen Zahl von ArbeiterInnen gemeinsam unterschrieben worden waren), noch auf den damit einhergehenden Bummelstreik, wurde der Beschluss gefasst, in Streik zu treten. Der Termin wurde eine Woche vorher bekannt gegeben: 1. August.
Niemand glaubte, dass es dazu kommen würde, da es in dem Werk über 100.000 Beschäftigte gibt, die wenig organisiert und aus Trägheit Mitglieder der alten Gewerkschaft geblieben sind. Zudem tat die Geschäftsleitung in den Tagen vor dem Streik alles, um die widerspenstigen Arbeiter abzuschrecken: Es gab Drohungen, die von den Abteilungsleitern und den Vorarbeitern verbreitet wurden, Vorladungen der „Rädelsführer“ zu geharnischten Gesprächen, Anrufe bei der Polizei, in denen es hieß, es gebe in dem Werk eine „extremistische Bedrohung“. So ist Anton Wetschkunin, einer der kämpferischen Arbeiter, einige Tage vor dem Streik von den Ordnungskräften an seinem Arbeitsplatz verhaftet worden. Der Grund, der genannt wurde, lautete: Verbreitung von Flugblättern mit extremistischem Inhalt. Trotzdem wurde das Montageband am 1. August wie geplant von 10:45 bis 16:00 Uhr angehalten. Vor dem Werkstor fand eine Versammlung statt, bei der die Streikenden sangen und tanzten, voller Freude darüber, dass sie den Mut für ihre Aktion aufgebracht hatten. Etwa 2.000 ArbeiterInnen beteiligten sich an dem Streik. Um drohender Repression zu begegnen, wurde kollektiv beschlossen, aus der Arbeitsniederlegung einen Warnstreik zu machen und die Arbeit mit Beginn der zweiten Schicht wieder aufzunehmen. Doch fand dieser einige Stunden dauernde Streik viel Beachtung. Alle Medien sprachen davon, und es gab öffentliche Diskussionen über die Berechtigung des Streiks. Dabei wurde eine breite Unterstützung für die Streikenden in der öffentlichen Meinung deutlich.
Hilfreich war unter anderem die alternative Gewerkschaft Jedinstwo (Einheit), die in der Fabrik nur eine kleine, aber sehr aktive Minderheit organisiert. Zu nennen sind auch die Solidaritätsaktivitäten, die Netzwerke von politischen und GewerkschaftsaktivistInnen in mehreren russischen Städten organisiert haben (unter anderem in Moskau, wo einige festgenommen und wegen „nicht genehmigter Betätigung“ zu mehreren Tagen Gefängnis verurteilt wurden). Weiter ist von Belang, dass der Streik im Wesentlichen auf Initiative von ArbeiterInnen aus drei Abteilungen organisiert wurde, die alle mit der Montage zu tun und eine zentrale Bedeutung für den Ablauf der Produktion haben.
Während die öffentliche Meinung positiv reagierte, lässt sich das von der traditionellen Gewerkschaft und der Werksleitung durchaus nicht sagen. Die Führung der traditionellen Gewerkschaft hat sich entschieden gegen die Aktion gestellt, ihr Sprecher hat sie öffentlich als eine Provokation von Extremisten bezeichnet. Die Werksleitung entschied sich dafür, die Tatsachen zu leugnen, sie gab Erklärungen heraus, wonach nichts gewesen sei. Trotz des Versprechens, Verhandlungen mit Pjotr Solotarew, dem Vorsitzenden der Gewerkschaft Jedinstwo, als dem Repräsentanten der ArbeiterInnen aufzunehmen, hat es zwei Wochen nach dem Streik noch nicht einmal einen Anfang gegeben. Schlimmer ist, dass repressive Maßnahmen eingesetzt haben ...
Repression durch die Werksleitung
Eine Woche nach dem Streik fing es an, dass die ArbeiterInnen, die an dem fünfstündigen Streik teilgenommen hatten, Verwarnungen wegen Arbeitsverweigerung ohne legitimen Grund, Abzüge und andere Disziplinarstrafen erhielten. Bis zum 16. August waren 170 Arbeiter von diesen Repressalien betroffen. Zwei Arbeiter, einer davon Mitglied der alternativen Gewerkschaft Jedinstwo, haben eine Benachrichtigung über ihre Entlassung bekommen. Und die repressiven Maßnahmen gehen weiter. Das Gewerkschaftskomitee von Jedinstwo bereitet einen juristischen Kampf zur Verteidigung derer vor, die sich an dem Streik beteiligt haben. Es wehrt sich gegen die Entlassung von Anton Wetschkunin, dem Sprecher von Jedinstwo, der aufgrund dieser Position besser geschützt ist. Währenddessen hat die traditionelle Gewerkschaft FNPR der Entlassung von Alexej Winogradow, dem zweiten betroffenen Arbeiter, zugestimmt – er ist also Opfer des Verrats seiner eigenen Gewerkschaft.
Die freie Gewerkschaft Jedinstwo hat sich dazu verpflichtet, alle von den Maßnahmen betroffenen ArbeiterInnen, unabhängig von ihrer Gewerkschaftszugehörigkeit, zu verteidigen; aber die Aufgabe ist gigantisch und geht weit über die organisatorischen und materiellen Mittel dieser kleinen Gewerkschaft hinaus (in ihr sind maximal 700 von insgesamt 100.000 Beschäftigten organisiert). Sie braucht also Hilfe, auch um die materiellen Verluste der Streikenden ausgleichen zu können.
Es geht um viel. Es geht darum, den Arbeitenden in diesem Werk und der öffentlichen Meinung zu zeigen,
1. dass Gewerkschaften von den Unternehmern unabhängige, kampfbereite Verbände sein müssen und sein können;
2. dass ein Streik möglich und ein unverletzliches Recht ist;
3. dass Solidarität im Land und auf internationaler Ebene etwas Wertvolles ist, das dazu beitragen kann, dass Kämpfe gewonnen werden. In Russland selber hat bereits eine Solidaritätskampagne begonnen.
Anmerkung
1Die Aktiengesellschaft AwtoWAS (oder AvtoVaz, auf dt. „Wolga-Automobil-Werk“) ist der größte Hersteller von Personenkraftwagen in Russland und Osteuropa. Das Werk befindet sich in der Stadt Togliatti (oder Toljatti) in der Oblast Samara. Die Stadt hieß ursprünglich Stawropol an der Wolga und wurde 1964 nach Palmiro Togliatti benannt; ihre wirtschaftliche Bedeutung nahm mit dem Bau von AwtoWAS ab 1966 zu.