Info-Verteiler
China in der Krise?
Es ist zum Aus der Haut fahren: Kaum „bemüht“ sich eine Regierung, die von der Krise bedrohte „heimische“ Wirtschaft wieder zum Laufen zu bringen, verselbständigt sich „der Markt“ und marschiert schnurstracks in die nächste Krise.
Mindestens 10% Wirtschaftswachstum, so lautet bisher die gängige Annahme, braucht China, um den „sozialen Frieden“ und die „wirtschaftliche Stabilität“ zu wahren. Seit 2008 wurde dieser Wert nur noch einmal erreicht.
Die Weltwirtschaftskrise 2008 ließ erwarten, dass die Exportmärkte einbrechen und das Wirtschaftswachstum ins Stocken geraten würde. Deshalb verabschiedete die chinesische Regierung noch im Herbst desselben Jahres ein Konjunkturpaket, das damals in seiner Größe einmalig war (aber bald von den USA und der EU übertroffen werden sollte). 470 Mrd. Euro wurden von der Zentralbank als billige Kredite den chinesischen Banken zur Verfügung gestellt.
Krise der Exportindustrie
Wie berechtigt der Pessismus der chinesischen Regierung bezüglich der Entwicklung der exportorientierten Industrie war, zeigen Daten, die der chinesische Ökonom Prof. Lang 2011 erhob. So lag die Auslastung in der Bekleidungsindustrie in den Provinzen Jiangsu und Zheijiang unter 33%, in der Plastikindustrie bei 50%, der Gummiindustrie 60%, bei Sojabohnenextrakten unter 30%, und in den lederverarbeitenden Betrieben in Haining unter 40%. Die Kapazitäten von Chinas Kraftwerken werden nur zu 40% genutzt.
Lang führte aus, dass 70% von Chinas BIP inzwischen aus der Baubranche herrühren, die aber in Wirklichkeit dem Land kaum ökonomisch nutzen. Er verglich die Situation mit der Sowjetunion vor dem Zusammenbruch. Damals rührten 70% des dortigen BIP aus militärischen Projekten.
Konjunkturprogramm
Angesichts der schlappen Auslastung der exportorientierten Industrie flossen die Mittel aus dem Konjunkturprogramm anderswo hin. Für die chinesischen Banken war das Programm enorm profitabel. Ihre Profite schnellten zwischen 2009 und 2011 um 95% in die Höhe, allein der Gewinn der ICBC stellte mit 32,5 Mrd. US-Dollar im Jahr 2010 alle anderen Banken weltweit in den Schatten (JP Morgan verbuchte 24,9 Mrd.).
ICBC
Die ICBC (Industrial and Commercial Bank of China) wurde 1984 mit einem Stammkapital von 20,8 Mrd. Yuan (ca. 2 Mrd. Euro) gegründet und begann 1989 mit der Ausgabe der ersten chinesischen Bankomat-Karten. 1991 war sie bereits die achtgrößte Bank weltweit. Der Börsenwert des Unternehmens betrug 2011 über 200 Mrd. US-Dollar und ist damit der höchste Wert aller Banken weltweit. Die ICBC verfügt über 16.227 Filialen, in denen ca. 4,12 Millionen Geschäfts- und 259 Millionen Privatkunden betreut werden. Mit 203 Filialen außerhalb Asiens ist die Bank auch weltweit vertreten.
Nach einem von PriceWaterhouseCoopers erstellten Plan wurde die Bank 2005 privatisiert, das Kapital wurde je zur Hälfte vom chinesischen Finanzministerium und der staatlichen Central SAFE Investments Limited gehalten. 2006 platzierte die Bank Aktien im Wert von 17,5 Mrd. Euro an den Börsen in Hongkong und Shanghai – der größte Börsengang in der Geschichte. Die Aktie war ca. 78fach überzeichnet.
Die Bilanzsumme der ICBC betrug 2007 8.683 Milliarden Yuan (800 Mrd. Euro), das Unternehmen beschäftigte 2005 361.000 MitarbeiterInnen.
Für die Banken galten die Kredite, die sie aus dem Konjunkturprogramm weitergaben, samt und sonders als „sicher“, wurden sie doch an Unternehmen vergeben, die in irgendeiner Form mit dem Staat verbunden sind.
Subprime bubble reloaded
Das Konjunkturprogramm führte zu einem einzigartigen Bauboom in China. Neben Investitionen in die ländliche Infrastruktur (Schienen- und Straßennetz) wurden vor allem Wohnungen gebaut. Ganze Städte mit mehreren 10.000 Wohnungen, Schulen, Kindergärten, Universitäten und Konferenzzentren wurden innerhalb kürzester Zeit hochgezogen.
Das Geschäft lief im Prinzip immer nach demselben Muster ab: Die chinesischen Lokalverwaltungen dürfen selbst keine Kredite aufnehmen. Deshalb gründeten sie (ca. 10.000) Investitionsgesellschaften, brachten Immobilien als Sicherheit ein, und die Investitionsgesellschaften nahmen dann die Kredite für die Bauprojekte auf. Die Preise für Grund und Boden stiegen daraufhin zwischen 2007 und 2010 landesweit um durchschnittlich 140%, in Shanghai nahezu um 400%.
Inflation
Die Immobilienspekulation löste eine Inflation aus, die von der chinesischen Regierung mit 6,2% im Jahr 2011, von Prof. Lang mit 16% beziffert wurde. So stieg allein der Preis für Schweinefleisch 2011 gegenüber dem Vorjahr um 57%. Sie senkte den Lebensstandard der chinesischen Bevölkerung trotz steigender Nominallöhne drastisch. Xie Tian, Professor an der Universität von South Carolina, bestätigte Langs Zahlen und führte aus, dass die meisten ChinesInnen heute 40% - 50% ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben müssen.
Inzwischen macht sich Ernüchterung breit. Geschätzte 64 Millionen Wohnungen stehen leer, ganze neu hochgezogene Stadtteile verfallen bereits wieder ungenutzt, während allein in Peking Schätzungen zufolge eine Million Menschen (sogenannte „Mäuse-Menschen“) im Untergrund, in Tunneln und umfunktionierten Kellern leben, weil es nicht genügend leistbaren Wohnraum gibt.
Verschuldung der Provinzen
Hatten die Schulden der Provinzregierungen vor dem Konjunkturprogramm noch ein zu vernachlässigendes Ausmaß, so schnellten sie nun auf geschätzte 10 Billionen Yuan, ca. 1 Billion Euro hinauf, das sind 27% des BIP. Der Börsenkurs in China fiel von 3.000 Punkten im April 2011 auf 2.313 im Oktober desselben Jahres, eine Abwertung um ca. ein Viertel innerhalb eines halben Jahres.
Die Ratingagentur Moody‘s setzt die Verschuldung der chinesischen Kommunen noch höher an, sie geht von 1,5 Billionen Euro aus, von denen ca. 1/10 aus faulen Krediten besteht. Viktor Shih, ein US-amerikanischer Experte für Chinas kommunale Schulden, schätzt die Gesamtsumme bei 1,5 bis 2 Billionen oder 40% des chinesischen BIP von 2010 an und meinte gegenüber der New York Times: „Die meisten Regierungsstellen, die sich Geld leihen, können nicht einmal die Zinsen auf die Kredite zahlen.
Nicht nur die Provinzregierungen haben sich mit ihren Projekten heillos verschuldet, auch die Bauträger, von denen etliche vor der Pleite stehen, Industrien mit hohen Überkapazitäten, Immobilienhändler und Firmen, die Anlagefonds zur Immobilien- und Börsenspekulation umfunktioniert haben, sind von Konkurs bedroht. Die Immobilienblase droht zu platzen, und die Krise droht auf die Banken überzugreifen.
Staatsverschuldung
Der chinesische Staat selbst weist offiziell kaum Schulden aus, er hat sie an die Provinzen und Kommunen ausgelagert. Wenn diese aber ihre Schulden nicht mehr bezahlen können, dann muss die Zentralregierung einspringen, will sie keine sozialen Unruhen riskieren. Die chinesischen Devisenreserven von ca. 3 Billionen US-Dollar wären dann sehr rasch aufgebraucht.
Gegen die Gegensteuerung steuern
Seit 2010 bemüht sich die chinesische Regierung gegenzusteuern. Die Zentralbank hob mehrmals die Zinssätze und die Mindestreserve-Anforderungen an die Banken an. Weiters wurden die Kontrollen im Bereich der Kreditvergabe und des Grundstücksverkehrs verschärft, was wiederum zu einer wirtschaftlichen Flaute führte. Gleichzeitig wird die Schuldenkrise genutzt, um Privatisierungen in Form von privatem Investment, Beteiligungen und Übernahmen voranzutreiben.
Aber das Problem der maßlosen Kreditvergabe bleibt bestehen. Um an der Pekinger Kreditaufsicht vorbeizukommen, greifen die Banken zu diversen Tricks: sie erweitern ihre „bilanzneutralen Finanzierungsaktivitäten“ und lagern neue „Investmentprodukte“ einfach aus; kurz gesagt, die chinesischen Banken verhalten sich heute genauso wie Wall Street, angepasst an die örtlichen Gegebenheiten.
Schattenbanken
Eine Antwort auf die Regulierungsversuche der Zentralregierung lag in der Bildung eines Schattensystems im Bankensektor. Diese „illegalen Banken“ nutzen die mangelnden Finanzierungsmöglichkeiten von Investoren, die sich aus der Kreditreduzierung der Zentralbank ergeben.
In dieser neuen Branche treffen einander staatliche Unternehmen und Provinzregierungen sowie private „Untergrund-Banken“ und Investmentgesellschaften. Ihre Kunden sind vorzugsweise kleine und mittelgroße, private Firmen mit bis zu mehreren hundert Angestellten. Die Spekulation verlagert sich damit von den Immobilien zu den Krediten. Diese Schattenbanken halten inzwischen mindestens geschätzte 2,6 Billionen Yuan (300 Mrd. Euro), der Betrag könnte aber bedeutend höher sein. Sie finanzieren sich aus Investitionen von Kapitalisten und wohlhabenden Regierungsbeamten, denen sie Renditen von bis zu 100% in Aussicht stellen. Die staatliche Nachrichtenagentur „Xinhua“ zitierte den Besitzer einer 800-Millionen-Yuan schweren illegalen Bank, der sagte, dass 80% der Einlagen auf Staatsbedienstete zurückgehen.
Inzwischen mischen auch Staatsbetriebe in diesem Sektor mit, weil sie aus ihren Kerngeschäften kaum Einkünfte erwirtschaften. Staatliche Unternehmen haben erleichterten Zugang zu billigen staatlichen Krediten. Diese bringen sie in die Schattenbanken als Kapital ein. Bei Vergabezinsen der Schattenbanken von 30% ein lukratives Geschäft.1
Die Wucherzinsen sorgen für immer mehr Pleiten bei den Kreditnehmern. Innerhalb weniger Monate sind aus der Provinz Zhejiang mehr als 200 hochverschuldete Firmenchefs geflohen, die ihren (ca. 15.000) ArbeiterInnen den Lohn schuldig blieben. Einige haben Selbstmord begangen. In Wenzhou, dem wirtschaftlichen Zentrum von Zhejiang, hat Berichten zufolge ein Fünftel der 360.000 Klein- und Mittelbetriebe im Jahr 2011 die Produktion aufgrund von Bargeldknappheit eingestellt.
Zhejiang ist nur ein Beispiel, die Zeitung „Pearl River Delta“ veröffentlichte eine Umfrage, nach der 72% der Klein- und Mittelbetriebe (KMU) in der Provinz Guangdong in den nächsten sechs Monaten keinen Gewinn machen werden. Das Geschäft laufe schlechter als zur Zeit der tiefsten Weltwirtschaftskrise 2008, sagten viele der Befragten. Dabei sorgen die KMU für 80% der städtischen Arbeitsplätze, entwickeln 70% der chinesischen Patente und steuern 60% des BIP bei.
Finanzprodukte
Das Phänomen der Schattenbanken in China ist völlig neu, und entsprechend schwer tut sich die Zentralregierung beim Umgang mit denselben. Diese Banken offerieren „völlig neue Produkte“, die allesamt einen Zweck verfolgen: nicht verboten zu werden.
Bei den sogenannten „anvertrauten Krediten“ etwa agieren die Banken offiziell nur als Mittelsmänner, die selbst keinerlei Kredit gewähren. Tatsächlich sind die Banken dennoch die Kreditquelle. Sie verleihen das Geld zu niedrigen Zinssätzen an staatliche Unternehmen und diese geben sie zu wesentlich höheren Sätzen an den Privatsektor weiter. Die Banken halten somit die staatlichen Vorschriften ein, und trotzdem wird der Profit vervielfacht.
Resümee
Das chinesische Konjunkturpaket hat seinen Zweck, die Produktion anzukurbeln, verfehlt. Es musste ihn verfehlen, weil die Auslastung der exportorientierten Betriebe hauptsächlich aufgrund der weltweit gesunkenen Nachfrage nicht mehr gegeben ist. Trotz des Erfolgs bei FoxConn, wo mit Streiks eine 30%ige Lohnerhöhung erkämpft wurde, ist die chinesische Kaufkraft nicht in der Lage, die Exportausfälle zu ersetzen.
Stattdessen hat das Paket einen Immobilienboom ausgelöst, der sich rasch zu einer Blase entwickelt hat. Inzwischen sind die Transaktionen von Apartments und Wohnhäusern um 14% gefallen, die Investitionen im Immobiliensektor steigen langsamer als in den vergangenen Jahren. Die geschaffenen „Werte“, vor allem Satellitenstädte, stellen sich zum Großteil als ebenso unverkäuflich heraus wie die Monsterprojekte in Spanien (wo die Immobilienblase bereits 2009 geplatzt ist und die Preise für Ferienimmobilien inzwischen um 30% gefallen sind).2Die Credit Suisse schätzt, dass es acht Jahre dauern wird, alle leerstehenden Immobilien in Wuhan zu verkaufen.3
Die Gegensteuerung der Regierung, d.h. die Eindämmung der Kredite, hat zu einer „Liberalisierung“ des Bankensektors in Form von „Schattenbanken“ geführt, der früher oder später legalisiert werden wird – um anschließend mittels „Rettungsschirmen“ und ähnlichem vor dem Zusammenbruch bewahrt zu werden.
Die Weltbank rechnet aktuell mit einem chinesischen Wirtschaftswachstum von höchstens 8,1%, dem niedrigsten Wert seit drei Jahren. Nach der bisher gängigen Formel zu wenig, um soziale Unruhen zu verhindern.
Anmerkungen
1 Nicht ganz so lukrativ, aber im Prinzip nach dem selben Schema agieren die österreichischen Banken: Sie nehmen bei der Nationalbank bzw. der EZB billige Kredite auf, die sie teuer weitergeben.
2 manager-magazin.de
3 global-review.info